Kapitel 15 - Schwester Lydia
„Herzchen, es nutzt dir überhaupt nichts, wenn du dich hier verkriechst und dir überhaupt keine Mühe gibst mal langsam wieder aufzuwachen."
Mit einem kurzen Blick auf das Display des Pulsoximeters prüfte Schwester Lydia die Sauerstoffsättigung im Blut ihres Schützlings, bevor sie ihr die Blutdruckmanschette um den schmalen Oberarm legte.
Sorgfältig schob sie sich die Ohroliven in die Gehörgänge und pumpte Luft durch den schmalen Schlauch, bis sich die Venen unter der hellen Haut der Patientin abzeichneten. Sie schob das Bruststück halb unter die Manschette, öffnete das Luftventil und lauschte.
„Alles im grünen Bereich", sagte sie und notierte sämtliche Werte in einer dafür vorgesehenen Tabelle.
„Ich wüsste also keine Ausrede, Mädchen, warum du nicht wach werden willst."
Breitbeinig stand sie am Fußende des Krankenbettes und wischte sich mit einer kurzen Handbewegung den Schweiß von der Oberlippe. Seit dem frühen Morgen hatte sie eine Vielzahl an Patienten versorgt und fühlte sich jetzt schon vollkommen erledigt. Um ihr Pensum zu bewältigen, dürfte sie sich gar nicht so lange bei einer einzelnen Person aufhalten. Trotzdem blieb sie und betrachtete nachdenklich das regungslose Gesicht der schwerkranken Frau.
„Ich werde deinen Eltern den Vorschlag machen, dich mit deiner Lieblingsmusik zu versorgen. Aber auf der anderen Seite möchte ich gar nicht, dass du es zu gemütlich hast. Sonst willst du am Ende ewig hier liegen bleiben."
Ein wehmütiges Lächeln erschien auf dem Gesicht der Schwester und ließ es fast schön wirken.
„Meine Tochter wollte auch nicht aufwachen. Aber du gibst dir mehr Mühe, junge Lady!"
Sie hatte sich schon halb zum Gehen gewandt, als sie eine schemenhafte Bewegung am Fenster ausmachte. Ihre Augen richteten sich auf einen winzigen hellblauen Schatten.
„Hey, was ist das für ein kleiner Kerl? Ist das etwa ein Schmetterling?"
Schwester Lydia bewegte sich schwerfällig zum Fenster, bemüht darum, nicht an das metallene Bettgestell zu stoßen.
Der filigrane Falter flatterte aufgeregt gegen die Scheibe.
„Immer mit der Ruhe, eine alte Frau ist kein D-Zug!", sagte sie ein wenig kurzatmig, zog die Jalousie nach oben und öffnete das Fenster. Vorsichtig wedelte sie Luft in Richtung des Schmetterlings und beobachtete mit zusammengezogenen Brauen, wie das Insekt von dem Windstoß erfasst wurde und mit einem kleinen Schlenker in den noch rötlichen Morgenhimmel entkam. Erneut trat ein Lächeln auf die schmalen Lippen der Schwester.
„So musst du es auch machen! Raus in den schönen Sommertag! Morgen komme ich wieder und dann hoffe ich, ein paar Fortschritte zu entdecken", sagte sie fröhlich. Doch die tiefen Falten, die ihre Augen und die Mundwinkel einrahmten, straften die lockere Worte Lügen.
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