Kapitel 1 - Teil 9 - Wahnsinn?
Tum Uert wusste lange bevor er durch das Fernrohr schaute, dass die Flöte ins Wasser geworfen wurde und der Esiew nach Norden davon rannte. Es war eine seiner Fähigkeiten, die ihm schon oft das Leben gerettet hatten. In Anbetracht seiner Gesellschaft verbannte er solche Gedanken jedoch lieber aus seinem Bewusstsein.
„Na, endlich!", rief die zusammengesunkene Gestalt zu seiner Linken und schreckte Tum auf.
Angewidert hob er erneut das Fernrohr und schaute demonstrativ in die Ferne. Der Mann neben ihm, in dem weiten, braunen Mantel war ein Lusion.
Lusionen waren eine Gruppe der unterschiedlichsten Wesen, die sich auf Geistesmagie verstanden. Sie flüsterten ihren ahnungslosen Opfern Gedanken zu und konnten sie mitunter auch um den Verstand bringen.
Wulvenien beherbergte eine Menge grausiger Monster, doch für ihn waren diese Gedankenmanipulatoren die Schlimmsten. Gegen körperliche Gewalt konnte man sich wehren. Doch der Gedanke daran, unbewusst von einem dieser Wesen zu grausigen Taten getrieben zu werden, ließ ihn erschaudern.
„Na, läuft unser kleiner Esiew weg?", fragte der Mann.
Tum schaute noch einen Augenblick länger durch das Fernglas, ehe er antwortete: „Ja, Zahir. Er rennt förmlich um sein Leben."
Der zweite Satz brachte den Mann neben ihm zum Lachen. Es war ein kaltes, boshaftes Lachen.
Tum blieb sitzen und nahm das Fernglas herunter. Der Lusion war von schmächtiger Gestalt, spindeldürr und recht klein für einen Menschen. Doch keiner seiner Untergebenen würde es wagen sich gegen ihn zu erheben. Er hatte den Rang eines Hauptmannes inne und Tum war ihm unterstellt. Es war besser, wenn Tum ihn nicht verärgerte. Was wiederum bedeutete, dass er nur sprach und sich bewegte, wenn er dazu aufgefordert wurde.
„Dann sollten wir uns so langsam aufmachen. Dieser bescheuerte Auftrag hat länger gedauert als ich dachte. Der Bastard von einem Esiew hat doch tatsächlich ein Stück des Amalaáchenbaumes in seinem Besitz gehabt. Kein Wunder, dass der Fluch nicht wirkte", meinte Tums Hauptmann Kopf schüttelnd.
Tum folgte ihm schweigend, als er sich in Bewegung setzte.
„Weißt du, wie man jemanden am Besten manipuliert, Tum?"
Tum erbleichte fast augenblicklich, da er die Worte vernahm. Sein Hauptmann begann erneut zu lachen.
„Keine Angst, Tum. Du wirst so schnell nicht mein Ziel werden", rief er noch immer lachend. „Du hättest dich sehen sollen! Bist augenblicklich bleich wie eine Leiche geworden!"
Tum atmete erleichtert auf, bis sein Hauptmann erneut fragte: „Also, weißt du es?"
Er konnte nur den Kopf schütteln. Tatsächlich hatte er keine Ahnung, aber selbst wenn er es gewusst hätte, würde er es nicht wagen etwas zu sagen.
„Es ist eigentlich ganz einfach, Tum. Zuerst gibst du deinem Opfer einen Freund, einen Verbündeten und lässt ihm glauben, dass dieser ihm nichts Böses will. Im Besten Fall rettet dieser Verbündete sogar noch anfangs das Leben deines Ziels. Irgendwann vertraut dein Ziel dann blind diesem Verbündeten. Doch dann entlarvst du den Verbündeten als die Ursache allen Übels! Dein Ziel wird von dem Verrat geschockt sein und den ehemaligen Verbündeten bekämpfen wollen. Und dann kommt das Beste! Du lässt den ehemaligen Verbündeten deines Ziels all das sagen, was du gerade nicht willst! Dein Ziel wird sich abwenden wollen und in den meisten Fällen genau das Gegenteil von dem tun, was der ehemalige Verbündete ihm einzuflüstern versucht. Verstehst du was ich meine?"
„Ihr meint, dass das Opfer dadurch genau zu dem getrieben wird, was ihr von Anfang an wolltet, Zahir?", überlegte Tum vorsichtig.
„Genau das. Das ist übrigens auch was ich an dir mag, Tum. Du bist nicht dumm. Du bist einer der Wenigen, die tatsächlich mal ihren Kopf benutzen."
Tum musste sich anstrengen nicht vor Angst vor seinem Hauptmann zurückzuweichen, als dieser ihn darauf aufmerksam beobachtete.
„Aber nicht in allen Fällen ist das allein auch ausreichend", fuhr sein Hauptmann schließlich fort. „Wenn das, wozu du dein Ziel treiben willst, grundsätzlich gegen die Natur deines Ziels geht, musst du manchmal noch ein Wenig nachhelfen. Erfreulicher Weise wird dir das jedoch keine großen Probleme bereiten, weil dein Ziel viel zu sehr mit dem offensichtlichen Gegner beschäftigt sein wird und so gar nicht bemerkt, wie sich etwas Anderes in sein Bewusstsein schleicht."
Tum beschloss sich diese Details gut einzuprägen. Auch wenn er sich nicht auf Geistesmagie verstand, vielleicht würde ja eines Tages der Moment kommen, an dem ihm diese Erkenntnisse helfen könnten.
„Tja, Tum, ich weiß deine verschwiegene Art zu schätzen. Doch wozu erzähle ich dir das wohl alles?", fragte ihn sein Hauptmann.
Ihm liefen durchaus einige Überlegungen durch den Kopf, doch wenn er die Falsche äußerte, drohte ihm mitunter Schlimmeres als nur zusätzliches Wachehalten. Also schwieg er lieber.
„Ich sehe schon. Du weißt durchaus, was es bedeuten könnte", lachte sein Hauptmann. „Nun denn, ich sollte meinen Untergebenen wohl nicht weiter quälen, wenn ich will, dass er den Rang eines Hauptmanns in meinem Trupp übernimmt."
„Hauptmann...? Unter euch?", stotterte Tum vor Verblüffung.
„Genau. Ich werde dieses Vieh, dass sich unser Zahir nennen lässt, töten und dann wird mir seine Position zustehen."
Das war blanker Selbstmord! War sein Hauptmann vollkommen übergeschnappt? War er selbst von dem Wahnsinn befallen, den er so stolz unter seinen Opfern verbreitete?
Niemand besiegte ein Illutira!
Seitdem sie vor Jahrtausenden das Licht der Welt erblickten, war es noch keinem Wesen je gelungen, ein Illutira zu verletzen oder gar zu töten.
„Mir ist durchaus bewusst, dass ich im direkten Kampf kein Gegner für das Illutira bin. Aber ich werde es in den Wahnsinn treiben können und letztlich dafür sorgen, dass es sich selbst umbringt", klärte ihn sein Hauptmann auf. „Was hältst du davon? Wirst du unter mir dienen, Tum?"
Tum lief der Schweiß den Rücken hinunter, als er seinen Hauptmann antwortete: „Wenn ihr das Illutira vernichtet habt, wird es mir eine Ehre sein, euch zu dienen, mein Zahir."
Was konnte er auch schon anderes von sich geben? Krampfhaft versuchte er alle Gedanken aus seinem Verstand zu verbannen und hielt seine erfreute Mine aufrecht, bis sich der Hauptmann, scheinbar zufrieden, mit einem Nicken abwandte.
Dem großen Licht sei Dank, dachte Tum erleichtert, als sein Hauptmann den restlichen Weg schweigsam fortsetzte. Tum tat es ihm gleich und hielt sich ebenfalls geschlossen, doch seine Gedanken rasten. Er musste die wenige Zeit nutzen, die ihm blieb, bis sie im Lager waren. Fieberhaft überlegte er, wie er sich am Besten auf das Ende seines Hauptmanns vorbereiten konnte. Fluchtgedanken kreuzten seinen Verstand und verschwanden ebenso schnell wieder, wie sie gekommen waren. Niemand entkam einem Illutira.
Wie sollte er erklären, dass er dem Hauptmann zugestimmt hatte? Würde das Illutira ihm glauben, wenn Wort gegen Wort stünde? Er bezweifelte, dass sich das Illutira überhaupt damit abgeben würde. Was war schon eine Leiche mehr?
Mühsam kämpfte er seine aufkommende Panik nieder, zwang sich ruhig zu atmen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Er würde schon eine Lösung finden. Es war ihm bisher immer gelungen.
Ja, dachte er resigniert. Bisher...
Um Einiges schneller als zuvor, ließen sie nun die umgebenden Bäume hinter sich. Trotzdem achtete Anton darauf, dass Ajanelle und Ajadaka ihn nicht aus dem Blick verloren. Sie waren inzwischen schon aus der Puste und trotteten erschöpft hinter ihm her.
Geschieht euch recht, dachte Anton grinsend.
Wenig später kamen sie zu dem felsigen Bereich, der den Fluss ankündigte und Anton lief nach rechts. Er war schon ein paar Male mit seinem Vater hier gewesen und wusste noch, wo man am Besten hinunter zum Fluss kam.
Unten am Fluss angekommen wartete er auf seine Schwestern und schaute sich um. Feinaar und sein Vater waren nirgends zu sehen. Andererseits war er mit seinem Vater immer noch ein Bisschen stromaufwärts gegangen, wo sie sich auf ein paar dicke Felsblöcke gesetzt hatten. Höchst wahrscheinlich war sein Vater heute auch dort. Die Stelle konnte man durch die Biegungen des Flusses noch nicht sehen.
„Puh!", stöhnte Ajanelle, als sie an ihm vorbei auf den erdig, felsigen Untergrund sprang, der wie eine Art Trampelpfad vor ihnen zwischen Fluss und Felsen lag.
„Und wo sind die Beiden jetzt?", fragte Ajadaka nachdem sie ihrer Schwester gefolgt war.
„Wir müssen noch etwas flussaufwärts. Papa und ich haben es uns immer auf ein paar größeren Felsenbrocken bequem gemacht, die zur Hälfte im Wasser lagen", erklärte Anton ihnen. „Könnt ihr wieder laufen?"
Seine Schwestern nickten. Also setzte er sich wieder in Bewegung und lief voraus.
Die Nacht brach bereits herein, als sie endlich die letzte Biegung nahmen und seinen Schwestern zu liebe, blieb Anton stehen, sobald er seinen Vater in der Ferne auszumachen glaubte.
Die beiden Mädchen nutzen die kurze Pause, um wieder zu Atem zu kommen und stützten sich auf ihren Knien ab. Anton machte sich derweil daran die Fackel anzuzünden, die er sich an den Gürtel gebunden hatte.
„Wieso bleiben wir stehen?", fragte Ajadaka aufmüpfig, als sie wieder zu Atem gekommen war. Nur um kurz danach zu schreien: „Da ist Papa!"
„Wo?", fragte Ajanelle.
„Da vorne auf dem Felsen", antwortete Ajadaka. „Er liegt da doch tatsächlich einfach nur faul rum."
„Bestimmt ist er eingeschlafen", meinte Anton als er die Fackel endlich zum Brennen bekommen hatte. „Lasst uns die Beiden erst mal abholen. Wir sollten nicht zu lange im Dunkeln außerhalb des Dorfes unterwegs sein."
„Aber wo ist Feinaar?, erkundigte sich Ajanelle.
Darauf wusste er allerdings auch keine Antwort. Von dem Esiew war nichts zu sehen.
„Papa, du kannst doch nicht einfach hier draußen einschlafen!", versuchte Ajadaka auf sich aufmerksam zu machen und lief los.
„Feinaar!", rief Ajanelle und rannte hinterher.
Anton blieb nichts anderes übrig, als seinen Schwestern zu folgen.
Als sie noch dreißig Zort entfernt waren, machte sich Anton langsam Sorgen. Sie waren längst in Hörweite und trotzdem rührte sich ihr Vater nicht. Von Feinaar war auch noch nichts zu sehen.
Es waren noch ein paar letzte Schritte, als Ajadaka plötzlich stehen blieb.
„Papa...?", fragte sie in einem seltsamen Tonfall und Ajanelle, die neben ihr ankam, keuchte überrascht auf.
Anton kam knapp hinter ihnen zum Stehen. Sein Blick fiel auf seinen Vater und ihn packte das blanke Entsetzen.
„Papa, was ist...?", setzte Ajadaka an, brach jedoch ab.
Nein, das durfte einfach nicht sein, dachte Anton verzweifelt. Vor seinen Augen lag ihr Vater mit seltsam verdrehtem Arm auf einem Felsen und rührte sich nicht. Nicht einmal der Brustkorb hob sich.
Geschockt stand er einfach nur da und war zu keiner Reaktion fähig.
Irgendwann begann Ajadaka langsam auf ihren Vater zu zugehen und riss Anton damit aus seiner Schockstarre.
„Warte!", mit einem Satz war er bei ihr und hielt sie fest.
„Lasst mich nachsehen. Ihr wartet hier", sagte er streng und übereichte Ajanelle die Fackel.
Entschlossenheit sammelnd, ging er vorsichtig auf seinen Vater zu. Mit jedem Schritt wurde er mehr Einzelheiten gewahr. Eine dunkelrote Spur zog sich vom Mundwinkel seines Vaters bis zum Felsen hinunter. Der rechte Arm war an mehreren Stellen gebrochen und im Bauch seines Vaters klaffte eine breite Wunde, die seine Kleidung dunkel gefärbt hatte. Der Blick war kalt und starr gen Himmel gerichtet und die Atmung blieb noch immer aus.
Dann war er bei ihm. Zitternd hielt er eine Hand vor Mund und Nase seines Vaters. Doch er wurde enttäuscht. Sein Vater atmete nicht mehr.
Vorsichtig griff er nach der linken Hand seines Vaters. Sie war noch warm. Sein Vater konnte noch nicht allzu lange tot sein.
Anton war zu kaum einen Gefühl fähig. Er war wie betäubt. Er konnte einfach nicht glauben, was schreckliche Gewissheit war.
Sanft schloss er die Augen seines Vaters und legte die Hand seines Vaters zurück.
„Anton...?", fragte Ajadaka mit weinerlicher Stimme.
Mit versteinerter Miene drehte er sich um, sah seine Schwestern an und schüttelte den Kopf.
„Nein!", rief Ajadaka und stürzte schluchzend zu ihrem Vater.
Ajanelle brach an Ort und Stelle in Tränen aus und wimmerte leise vor sich hin.
Wie in Trance ging Anton zu seiner jüngsten Schwester und zog sie behutsam von ihrem Vater fort. Es konnte nicht gut für sie sein, länger bei der Leiche ihres Vaters zu verbleiben.
Sie krallte sich an ihm fest und schluchzte hemmungslos an seinem Bauch, während Anton nur da stand und die verzweifelten Schreie seiner kleinen Schwester in sich aufnahm.
Irgendwann ebbten Ajadakas Schluchzer langsam ab. Anton hatte keine Ahnung wie viel Zeit vergangen war. Es war längst stockdunkel geworden. Nur der sanfte Schein der Fackel brachte etwas Licht in die Welt.
Anton war im Grunde ganz froh darüber. Er wusste nicht, ob er es ertragen könnte, wenn die Welt um ihn herum einfach fröhlich weitermachte.
„An... Anton..?", erklang Ajanelles Stimme zittrig.
Anton musste sich drehen, um seine Schwester ansehen zu können. Er hatte gar nicht mitbekommen, wie sie sich von ihnen entfernt hatte.
Sie stand einige Zort flussabwärts direkt am Fluss und hielt etwas in der Hand, als sie näher kam.
Zunächst erkannte Anton nicht, was sie vor sich ausgestreckt in der Hand hielt. Doch dann traf ihn die Erkenntnis und raubte ihm den Atem.
In Ajanelles Hand lag die kleine, hölzerne Flöte, die Feinaar stets um den Hals getragen hatte. Anton glaubte dunkle Spuren auf dem Holz zu erkennen, war sich mit der Fackel als einzige Lichtquelle jedoch nicht sicher.
„Die hat Feinaar gehört...", flüsterte Ajanelle bei ihnen angekommen.
Ja, dass wusste er. Aber was konnte er ihr sagen?
„Er hätte sie niemals abgelegt."
Auch das wusste Anton.
„Ich glaube...", schniefte Ajanelle. „Ich glaube, an der Flöte ist Blut."
„Ajanelle...", ihm versagte die Sprache.
„Aber... Aber es muss ja nicht sein Blut sein. Vielleicht ist er auch nur verletzt worden, in den Fluss gefallen und wurde mitgerissen."
Sie brabbelte.
„Ajanelle, hör auf."
„Wir müssen ihn suchen. Feinaar... Er liegt vielleicht irgendwo am Ufer und braucht Hilfe", redete sie schnell weiter und blickte ihn gehetzt an.
„Ajanelle, beruhige dich" sagte Anton sanft, löste sich von Ajadaka und ging Ajanelle entgegen.
„Er liegt bestimmt irgendwo in der Nähe. Er... Er braucht Hilfe. Wir müssen uns beeilen...", stammelte sie vor sich hin.
Anton umfasste Ajanelles Hände und zog seine Schwester behutsam zu sich heran: „Hör auf, Ajanelle."
„Aber Feinaar...", schluchzte sie.
„Ist ja gut. Wir werden ihn suchen", redete Anton beruhigend auf sie ein, umarmte seine Schwester und streichelte ihr sanft über den Kopf.
„Ihm darf nicht auch noch was passiert sein, Anton", wimmerte sie leise an seiner Schulter. „Das ertrage ich nicht..."
„Ich weiß", erklärte Anton. „Wir werden ihn suchen. Aber zuerst holen wir Hilfe aus dem Dorf. Irgendwie...", Anton schluckte. „Irgendwie müssen wir schließlich auch Papa zurück ins Dorf bringen können."
Ajanelle nickte schwach. Ajadaka trat hinzu und Anton bezog sie in die Umarmung mit ein.
Er stand noch eine Weile mit seinen Schwestern so da. Beide wurden hin und wieder von Schluchzern geschüttelt, waren ansonsten jedoch still. Auch Anton schwieg. Er hatte nichts zu sagen – konnte nichts sagen.
Irgendwann löste er sich schließlich von den Mädchen und sagte: „Wir müssen los. Mama wird sich auch schon Sorgen machen."
Seine Schwestern nickten bekümmert und setzten sich in Bewegung. Anton nahm Ajanelle die Fackel ab und ging voran. Alle zusammen gingen sie schweigsam und zügigen Schritts am Fluss vorbei. Manchmal ertappte sich Anton dabei wie er nach Feinaar Ausschau hielt. Doch die Suche blieb vergebens.
Sie kletterten die Felsen empor und wandten sich Richtung Wald. Noch immer brachte keiner von ihnen ein Wort hervor. Alle waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Vorsichtig kämpfte sich Anton durch das Dickicht und wartete stets auf seine Schwestern, um auch ihnen möglichst gut leuchten zu können. Der Rückweg war in der Dunkelheit beschwerlich und dauerte wesentlich länger als der Hinweg. Doch Anton registrierte es kaum. Er funktionierte nur und setzte einen Fuß vor den Anderen. Alles andere verbannte er aus seinen Gedanken. So ganz wollte es jedoch nicht gelingen, die Erinnerung an den leblosen Körper seines Vaters war noch zu frisch.
Einige Zeit später meinte Anton zu seiner Erleichterung die ersten Büsche und Bäume wieder zu erkennen. Er hatte schon Sorge gehabt, in der Dunkelheit den Rückweg nicht zu finden.
Ein paar Schritte weiter, glaubte er dann Rufe zu vernehmen. Oder waren es Schreie? Anton war sich nicht sicher.
„Schreit da jemand?", fragte Ajadaka.
„Ich weiß es nicht", gestand Anton und lauschte angestrengt.
„Ich habe auch was gehört", meinte Ajanelle zaghaft.
„Lasst uns erstmal weiter gehen", sagte Anton und kämpfte sich voran.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in Anton breit, als vermehrt laute Rufe und Schreie ertönten und zwischendurch sogar Waffengeklirr durch die Nacht hallte.
Nach der letzten Erhöhung sahen sie es dann. Durch die letzten Bäume und Büsche konnte man das Dorf brennen sehen. Verzweiflungsschreie füllten die Nacht. Wütendes Fauchen und Kläffen hallte über das Dorf hinweg, gefolgt von Schmerzensschreien, die sie frösteln ließen.
Anton zögerte keine Sekunde und löschte so schnell es ging die Fackel. In der Dunkelheit des Waldes wären sie ein leichtes Ziel gewesen. Währenddessen waren seine Schwestern wie in Trance auf den Waldrand zugegangen und traten gerade durch die letzten Büsche. In Panik rannte er schnell zu ihnen und riss sie hinter den Sträuchern zu Boden.
„Seid ihr vollkommen wahnsinnig geworden!", zischte er aufgebracht.
Die Blicke seiner Schwestern waren entrückt und die Mädchen brauchten einen Moment ehe sie sich seiner Gegenwart bewusst wurden. Dann brach der Schrecken über sie herein.
„Aber Mama ist doch im Dorf!", rief Ajadaka panisch.
„Anton, wir müssen Mama doch irgendwie helfen", sagte Ajanelle verzweifelt.
„Wenn ihr da jetzt rausgeht, werdet ihr sterben... oder euch wird noch Schlimmeres zustoßen. Wollt ihr das?!", herrschte Anton seine Schwestern an.
„Mama darf nicht auch noch was passieren, Anton...", schluchzte Ajadaka. „Lass uns wenigstens schauen, ob wir sie unbemerkt retten können!"
„Wir können doch durch die Büsche spähen, Anton. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit", versuchte auch Ajanelle ihn zu überzeugen.
Anton wusste wie unwahrscheinlich es war und dennoch konnte auch er nicht einfach nur still sitzen. Er wollte selbst sehen, womit sie es zu tun hatten.
Mit einem grimmigen Nicken ließ er seine Schwestern los. „Kriecht über den Boden und steckt nur den Kopf durch die Büsche. Und sagt bloß kein Wort!"
Alle Drei schoben sich anschließend vorsichtig durch die Zweige und spähten in die Nacht hinaus zu dem Dorf, das ihre Heimat gewesen war. Denn diese Heimat war im Begriff sich aufzulösen. Häuser standen in Flammen und beleuchteten das Grauen, das sich im Dorf abspielte. Warmgaltz rissen Menschen zu Boden und zerfetzten ihre Leiber. Rasskass wüteten unter den letzten Dorfbewohnern, die sich verzweifelt zu wehren versuchten und dann gab es noch die Gestalten im dunklen Nebel. Das Kennzeichen der Raubzüge aus Wulvenien und der Menschen die dort lebten. Das lebendig wirkende Wabern des Nebels ließ die drei Geschwister selbst auf diese Entfernung erzittern.
Anton starrte entsetzt auf die Szenen die sich ihm boten. Überall starben Dorfbewohner. Er glaubte in weiter Entfernung Midra auszumachen, die zu fliehen versuchte und doch nur von einer Gestalt im finsteren Nebel brutal zu Boden geschleudert wurde. Der Mensch warf sich auf sie, zerriss Kleidung und begann an sich selbst zu nesteln.
Länger konnte Anton nicht hinsehen. Trauer und Hilflosigkeit erfüllte ihn. Geplagt wandte er den Blick ab und zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein spitzer Schrei der Qual erklang.
Ein nahes Fauchen ließ ihn auffahren. Anton entdeckte zwei Warmgaltz, die sich am äußersten Ende des Dorfes befanden und ihre Schnauzen in die Luft hielten. Es konnte doch nicht sein, dass die Viecher ihn und seine Schwestern witterten oder? Trotz des Rauchs der brennenden Häuser und der Entfernung?
Nun, er hatte ganz sicher nicht vor es heraus zu finden. Er packte seine Schwestern am Kragen und zog sie zurück.
„Wir müssen hier weg, die Warmgaltz können uns vielleicht riechen!", erklärte er sich. „Schleicht schnell zurück bis wir außer Sichtweite sind."
Völlig verängstigt huschten die beiden Mädchen durch die Büsche zurück in den Wald hinein. Anton folgte ihnen und übernahm die Führung sobald das Dorf außer Sicht geriet. Er traute sich nicht die Fackel erneut zu entzünden und ohne Licht war der Marsch durch den Wald beschwerlich. Dennoch trieb er sie unermüdlich in der Dunkelheit an. Er wechselte immer wieder leicht die Richtung bis seine Schwestern schließlich erschöpft zu Boden sanken.
Vorsichtig kundschaftete er die nähere Umgebung aus und fand eine kleine Senke im Waldboden die von Büschen umrandet war. Er schlich zu seinen Schwestern zurück und führte sie zur Senke, damit sie dort die Nacht verbringen konnten.
Keiner von ihnen sagte ein Wort. Seine Schwestern zitterten, als sie sich an einander schmiegten. Ab und zu löste sich ein Wimmern oder unterdrücktes Schluchzen von ihnen, doch die meiste Zeit weinten sie stumm vor sich hin. Irgendwann siegte schließlich die Erschöpfung und die Mädchen schliefen ein. Anton wachte noch einige Zeit über ihnen, um seine Panik vor den Warmgaltz zu überwinden, doch letztlich übermannte auch ihn der Schlaf.
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