Fifty-five
Fifty-five:
der in die Zukunft sehende alte Mann
Zitternd schlug ich meine Augen auf, holte heftig Luft, ehe ich plötzlich aufrecht in... einem Bett lag?
„Wo bin ich?", hustete ich und ein Schnauben ertönte.
„Noch eine Minute länger und Sie wären da draußen erfroren", meinte eine männliche Stimme und ich sah nach links. Ein Mann, ziemlich alt und schütteres Haar. So sah auch die Wohnung aus... jedoch war es hier wärmer als draußen. „Draußen ist ein Schneesturm am Toben. Ich schätze, Sie werden die nächsten Stunden nicht mehr hinauskönnen."
„Ich kann vieles", hustete ich und räusperte mich etwas, doch das Kratzen in meinem Hals hörte nicht auf.
„Das wird eine deftige Erkältung abgeben", stellte er klar, drehte sich endlich um und sah mich mit grünen Augen an, die fast wie meine früher aussahen. Er deutete nach vorne, wo, als ich meinen Kopf hindrehte, ich eine kleine Einbauküche und ein Esszimmer entdeckte. Neben dem selbstbenannten Esszimmer gab es direkt ein Zweisitzersofa und einen kleinen Tisch davor, ehe man an der Wand einen kleinen angebohrten Fernseher entdecken konnte, der wirklich klein wirkte. „Tee steht in der Küche, falls Sie welchen brauchen, weil Ihnen zu kalt ist. Denn Sie sind wirklich zu dünn für dieses Wetter ausgestattet."
„Danke", nickte ich irritiert, lehnte mich gegen das Bettgestell.
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„Von wo kommen Sie?", fragte er nach einigen Minuten Stille und drehte sich zu mir gänzlich um, ehe er Richtung Küche lief.
„Von wo kommen Sie?", entgegnete ich.
„Ich bin Brasilianer", erklärte er mir.
„Dann sollten Sie für diese Kälte nicht geschaffen sein", sagte ich und er schnaubte kurz, ehe er es mit der Hand abwinkte.
„Ich wohne seit mehr als dreißig Jahren hier."
„Das ist eine ganz schön lange Zeit", murmelte ich, sah nach vorne.
„Es ist eine lange Zeit, wenn Sie verfolgt werden", seufzte er leise.
Ich sah irritiert auf. „Wer verfolgt Sie denn?", fragte ich.
Er zuckte mit den Achseln, ehe er sich umdrehte und anfing in der Küche zu handwerkeln.
„Ich weiß es nicht", meinte er leise. „Hab ihn nie gesehen... diesen Geist."
„Geister gibt es nicht", kommentierte ich und lehnte meinen Kopf an der Wand an, die einen hohlen Klang von sich gab als ich meinen Kopf dagegen stieß.
„Natürlich nicht", lachte er leise in sich hinein. „Er kam mir aber wie ein Geist vor... oder so bösartig wie einer."
„Wenn es Geister gäbe", fing ich an und sah ihn wieder an, „Dann wären sie nicht böse."
„Natürlich, das muss ein Totenkind auch wissen", sagte er leise, schmunzelte kurz danach, während ich alarmiert mit einem Mal aufsprang.
Er drehte sich nur schmunzelnd und etwas lachend um, ehe er seine Arme vor der Brust verschränkte und sich gegen die Anrichte lehnte.
„Wer sind Sie wirklich?", hob ich abwehrend die Arme, die mir aber eindeutig zu schwer vorkamen als vorher.
Er schnaubte nur kurz belustigt. „Miss Romanoff, erstens habe ich einen Fernseher, zweitens war ich einst russischer Agent."
>Und alle meine Agenten sind Feinde... außer Alex.
„Sie sagten, Sie seien Brasilianer", sprach ich aus und reckte mein Kinn triumphierend in die Höhe.
„Bin ich auch", nickte er ruhig. „Ich bin mit zwanzig nach Russland gezogen und mit vierundvierzig KGB-Agent geworden."
„Und woher wissen Sie, dass ich ein Totenkind bin?", zog ich eine Braue hoch. „Geschweige denn, woher könnte ich wissen, dass ich eins bin?"
„Sagen wir, ich bin ein kleiner Schutzengel, der auf Sie aufgepasst hat." Sein einer Mundwinkel zuckte, ehe er seine Hand hob, sich am weißen Bart kratzte.
Ich schnaubte beleidigt. „Auf mich aufgepasst? Sie haben nicht auf mich aufgepasst, sondern ich auf mich selbst", stellte ich klar.
„Wo wären Sie jetzt, wenn ich Sie da draußen hätte liegen lassen?", zog er eine Augenbraue hoch und ich schnaubte erneut beleidigt.
„Ich wäre Zuhause."
„Bei Ihren Eltern? Nein", schüttelte er den Kopf. „Das ist niemals ein guter Ort, Avalon."
„Und woher wollen Sie das wissen?"
„Weil ich zwar Brasilianer bin, aber kein Mensch."
„Kein Mensch?", lachte ich. „Inwiefern bitte kein Mensch?" Der war mir doch nicht ganz knusper. Erst sagte er, er war Brasilianer, dann russischer ehemaliger Geheimagent und nun kein Mensch? Bullshit.
„Das wäre unwichtig." Er deutete in Ruhe neben sich und mein Blick glitt automatisch dahin. „Trinken Sie, denn Sie sind unterkühlt."
„Bin ich nicht", sagte ich, noch immer die Hände erhoben. Sie kamen mir immer schwerer vor.
Einige Sekunden sah ich ihm noch dabei zu, wie er mich mit hochgezogener Augenbraue ansah, ehe ich erschöpft meine Arme sinken lassen musste, weil sie mir wirklich zu schwer wurden.
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„Sie werden sich in acht Sekunden von selbst setzen und mich nach einem Tee fragen, weil Ihnen kalt ist", sagte er sehr, sehr leise und ich wartete ab, weil ich nicht dachte, dass er Recht hatte, geschweige denn, dass ich ihn verstanden hatte.
Aber dem war so, sodass er mir unaufgefordert einen Tee ans Bett brachte. „Okay, jetzt bin ich verwirrt", schüttelte ich den Kopf.
Seine Mundwinkel zuckten, ehe er sich neben mich setzte.
„Ich erklär es Ihnen so, dass Sie es verstehen", fing er an und klatschte kurz in die Hände, ehe ich zu ihm sah und meine Hände um die heiße Tasse schloss. „Als Kind in Brasilien hatte ich viele schöne Zeiten", sagte er. „Bis bei mir angeblich eine Störung im Gehirn festgestellt wurde. Man nennt es auch photographisches Gedächtnis." Ich nickte und führte die Tasse zu meinem Mund. „Doch je älter ich wurde, desto schneller stellte ich fest, dass ich kein photographisches Gedächtnis besaß, sondern in die Zukunft sehen kann." Ich verschluckte mich an dem Kamillentee, der im Übrigen widerlich schmeckte. Ich hasste Kamillentee. „Immer häufiger trat es auf und so wollte ich reisen. Ich hab vieles kennengelernt. Kann bereits sagen, wann ich sterbe, wann die Welt untergehen wird oder was Sie sind."
„Und wieso sind Sie dann KGB Agent geworden?", schluckte ich und stellte den Tee beiseite. Der schmeckte echt scheußlich.
Seine Mundwinkel zuckten. „Weil ich ein Auge auf die Königin des Totenreiches haben wollte", stieß er mit seiner Schulter gegen meine. „Wann hatte man denn schon die Chance dazu, als die beste in Ihrem Jugendalter zu ergreifen?" Er schmunzelte. „Ich habe mich nie am Außeneinsatz beteiligt oder wirklich die Befehle befolgt. Hätte ich dies getan", sagte er leise und sah zum Fenster hinaus, „Wäre Ihr Verlobter in der Nacht als Sie von ihm entführt wurden, erschossen worden. Von mir."
„Guter Schütze, was?", sagte ich leise und schmatzte kurz, um den Geschmack loszuwerden.
„Ich kann natürlich nicht immer alles wissen", lachte er auf. „Aber ich wusste, dass ich Sie heute eingesunken und schlafend im Schnee finden würde."
„Sie haben meine Fragen noch immer nicht beantwortet."
Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Das muss ich auch nicht", schüttelte er seinen Kopf. „Ich muss Ihnen nur sagen, dass Sie nicht viel Zeit haben."
„Moment." Ich schien verwirrt. Ach, quatsch! Ich war verwirrt. „Was?"
Er lachte leise. „In neunzehn Stunden sind die Seelen von Ihrer Mutter und der Fee verloren sowie die Göttin Freya wieder versteinert werden wird. Nur das Schattenmonster wird frei bleiben." Ich schluckte schwer. „Wenn Sie nicht endlich Ihren Arsch bewegen und das Schattenmonster versteinern, wird die Welt schneller untergehen als Shiva entkommen kann."
„Ich steinige nicht, ich schieße", korrigierte ich ihn trocken und er lachte.
„Sie wissen, was ich meine." Ich nickte, während er einige Sekunden ruhig war. „Ich würde trinken." Ich sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an und er ließ Verständnis in seinem Blick aufflimmern. „Auch wenn er Ihnen nicht schmeckt, der Kamillentee. Er ist gut für Sie. Er stärkt Sie."
„Inwiefern sollte er mich stärken?"
„In allem." Als ich diesem älteren Mann mit schütterem Haar, kleinem Ziegenbart und den Fältchen das erste Mal in die Augen sah, wurde mir mulmig zumute.
„Sie haben lilafarbene Augen", sagte ich, legte den Kopf schief.
„Ich weiß", nickte er. „Denn je öfter ich in die Zukunft schaue, desto stärker wird es... und desto weniger habe ich zu leben."
„Wie lange habe ich denn noch zu leben?", schmunzelte ich, um von seinem Leiden abzulenken.
Er lachte und strich sich sein Haar zurück. „Noch lange, Miss Romanoff." Kurz schwieg er, atmete tief ein, legte den Kopf in den Nacken und schloss genüsslich die Augen. „Aber es kommen harte Zeiten auf Ihre Freunde und Familie zu."
„Und auf mich?", zog ich eine Augenbraue hoch. „Mich haben Sie eben mit keinem Wort erwähnt." Jetzt war mir noch mulmiger zumute. Denn als er mich plötzlich mit leuchtenden Augen ansah, erschrak ich.
„Schwarze Zeiten." Er blinzelte kurz und sah mich danach sanft an. „Was es bedeutet, weiß ich meistens selbst nicht. Ich kam noch nicht dazu, es herauszufinden."
„Kann es sein, dass das Schattenmonster Sie verfolgt?", runzelte ich die Stirn.
„Ich leben seit mehreren Jahren hier", schüttelte er den Kopf. „Ich denke nicht, dass Feuer und Feis hinter jemand altem wie mir her sind." Er schwieg wieder kurz. „Ob es Ihr Freund, der Winter Soldier, ist, bezweifle ich allerdings genauso." Er sah wieder zum Fenster hinaus, ehe er nach einigen schweigsamen Minuten aufstand. „Der Sturm wird sich in einer knappen Stunde lichten. Ich mache erstmal etwas zu essen, denn Ihr Magen wird in zwei Minuten ziemlich laut knurren und ich habe Hunger auf Speck." Mir lief beim Gedanken daran fast das Wasser im Mund zusammen und heraus. Er sah nochmal zu mir, ehe er zum Tee hindeutete. „Trinken Sie, er ist gut für Sie."
Irritiert sah ich zum Tee, als er sich langsam entfernte.
Konnte ich ihm trauen? Er kam mir suspekt vor.
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Datum der Veröffentlichung: 25.01.2020 20:14 Uhr
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