Goldwasser
Nach einigen Tagen erreichen wir wieder ein kleines Eiland. Diesmal ist es kein solch trostloses Fleckchen Erde wie die Dracheninsel. Stattdessen begrüßen uns sanfte Hügel, die mit weichem Gras bewachsen sind. Bäume gibt es kaum, dafür aber zwei Bachläufe, die irgendwo im hinteren Land der Insel entspringen müssen. Kaspian schickt die Mannschaft auf Nahrungs- und Wassersuche. Er selbst will sich etwas umsehen. Zusammen mit Edmund, Lucy, Eustachius, Reepicheep und mir. Wir wandern einige Zeit über die Hügel, immer dem Lauf des Wassers folgend. Als die Sonne gerade ihren höchsten Punkt erreicht, machen wir Rast und setzen uns in das weiche Gras im Schatten eines Hügels unweit des Baches.
» Glaubt ihr, diese Insel ist bewohnt? «, fragt Lucy, den Blick verträumt in den Himmel gerichtet.
» Außer Vögeln, Spinnen und anderen Tieren? Wohl kaum «, meint ihr strohblonder Cousin und zupft einige Grasbüschel zwischen seinen Füßen aus. Seit jener Verwandlung in einen Drachen ist er viel umgänglicher geworden. Freundlicher, hilfsbereiter, zuvorkommender und vor allem nicht mehr so verbittert. Zwar fällt er manchmal in sein altes Muster zurück, aber das tut nichts zur Sache. Ja, ich könnte ihn sogar als eine Art Freund bezeichnen. Jedenfalls mehr, als in der ersten Etappe unserer Reise.
» Da wäre ich mir nicht so sicher «, entgegnet Edmund und lässt den Blick über die Landschaft wandern,
» Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass jemand oder etwas hier leben wollen würde. Es ist so eintönig «. Reep springt auf einen Felsbrocken mitten im Gras und tut es dem König der goldenen Zeit gleich. Die dunklen Äugelein huschen auf ihrer Suche nach neuen Abenteuern aufmerksam umher. Schmunzelnd streiche ich mir einige Haarsträhnen hinters Ohr und beobachte einen Marienkäfer, der sich von Grashalm zu Grashalm kämpft und so immer höher hinaufkrabbelt. Seine roten Flügel sind über und über mit schwarzen Punkten verziert und schillern in der Sonne. Manch ein Halm wippt etwas im Wind und bringt das kleine Insekt aus dem Gleichgewicht. Der Marienkäfer klammert sich dann fest an das Grün, verharrt einen Moment an derselben Stelle und krabbelt tapfer weiter.
» Seht! «, ruft die große Maus plötzlich aus. Der Marienkäfer entfaltet die winzigen Flügel und erhebt sich in die Luft. Einen Moment schwebt er leise surrend vor mir, dann wird er von einem neuen Windstoß fortgetragen. Ich sehe hoch und folge Reepicheeps ausgestreckter Pfote. An der Flanke des nächsten – etwas höheren – Hügels schimmert etwas im Gras. Etwas Silbernes, Metallenes.
» Was ist das? «, höre ich Lucy und Eustachius gleichzeitig fragen. Reep saust an mir vorbei und umrundet das mysteriöse Objekt einmal. Zusammen mit den beiden Königen folge ich der Maus.
Das schimmernde Ding entpuppt sich als langes Schwert mit scharfer Klinge. Es gleicht dem von Lord Bern und Lord Octesian vollkommen. Warum auch immer uns diese beiden Schwerter – Lord Octesians fanden wir in einem Tal hinter dem ersten Bergmassiv auf der Dracheninsel – in die Hände fielen, zwecklos war es bestimmt nicht. Edmund bückt sich nach der Waffe und betrachtet sie eine Weile.
» Denkt ihr, einer der Lords war hier? «, fragt er und schwingt die Klinge probehalber durch die Luft.
» Gut möglich «, murmelt Kaspian,
» Suchen wir nach einem Wappen oder etwas Derartigem «. Aufgeregt verteilen wir uns. Ich wandere zum höchsten Punkt des Hügels hinauf, gefolgt von Reep. Während die Sonne wärmend zu mir herunterscheint, suche ich mit wachen Augen nach weiteren Anzeichen der Anwesenheit des Lords, der hier an Land ging. Das Glitzern des Meeres lenkt mich einen Augenblick ab. Türkise Wellen branden an den Strand, wohin das Auge blickt. Weiter draußen verfärbt sich das Wasser dunkelblau und stößt irgendwann an den Horizont. Die See hat mich schon immer fasziniert. In all den Jahren, die ich bei Chiron verbracht habe, waren Wassernymphen meine liebste Gesellschaft. Sie tanzten fröhlich über die glatte Oberfläche des Teichs im Wald. Ihre Füße hinterließen feine Kräuselungen, die sich kreisförmig immer weiter ausbreiteten und schließlich ans Ufer stießen. Ihre Haare und die langen Kleider wehten mit jeder Bewegung um sie herum. Ihre Stimmen waren sanft und wunderschön. Sie sagen gerne Lieder über alte Legenden und Sagen. Manchmal dichteten sie selbst irgendwelche Strophen, die meist recht geheimnisvoll waren. Das Rascheln des Windes im Schilf machte den Zauber perfekt. Ich erinnere mich gut an die Abende, an denen ich mit meiner Freundin Nalenya an jenem Teich saß und die Sterne zählte. Nalenya ist eine junge Nymphe mit rabenschwarzen Haaren und Augen, die in allen Blautönen des Wassers schimmern. Sie erzählte mir all jene Dinge, die ich von dem betagten Zentauren nie erfahren hätte. Ich vermisse sie und all die anderen Bewohner des Waldes. Faune, Zwerge, sprechende Tiere, Einhörner und viele mehr.
Ein Jauchzen der großen Maus reißt mich aus meinen Gedanken und vom Anblick des Meeres los. Das graue Tier läuft auf der anderen Seite des Hügels hinunter.
» Reepicheep! «, rufe ich und setze mich schnell in Bewegung. Der kleine Kerl bleibt vor einigen Felsen stehen und dreht sich zu mir um. Als ich neben ihm zum Stehen komme, erkenne ich, dass es nicht nur einfach irgendwelche Felsen sind, die hier herumliegen. Es sind Steine, die den oberen Teil eines Gangs bilden, der in den Hügel hineinführt. Erstaunt ziehe ich die Luft ein und wandere den letzten Weg zum Fuß der Erhebung hinunter. Reep hüpft auf meine Schulter. Vor uns öffnet sich eine recht weitläufige Höhle. In ihrem Inneren reihen sich jede Menge Tropfsteine, die aus dem Boden ragen und von der Decke hängen. Sonnenstrahlen erhellen das Loch, die quasi aus dem Nichts zu kommen scheinen.
» Luna, was ist los? «, ruft Kaspian irgendwo und Schritte kommen näher. Bald darauf stehen die anderen neben mir und starren den Höhleneingang an.
» Ähm, müssen wir da reingehen? «, fragt Eustachius skeptisch und sieht sich nach allen Seiten um.
» Vielleicht finden wir dort einen Hinweis auf den Verbleib der Lords «, meint Kaspian und schreitet voran. Edmund und ich folgen ihm, während Lucy und Eustachius noch einen Moment zögern.
Das Gestein wölbt sich über uns. Jetzt sehe ich, wo die Sonnenstrahlen hereinfallen können. Kleine Löcher befinden sich überall an der Decke, gerade groß genug, dass Reep hindurchpassen würde. Durch einige von ihnen kann ich einen Blick auf den blauen Himmel erhaschen. Hier drin ist die Luft dicker und jedes Geräusch hallt tausendmal von den Wänden wieder. Je weiter wir hineinkommen, desto deutlicher ist ein Plätschern zu hören. Wir folgen dem immer lauter werdenden Geräusch und erreichen nach einer Biegung das Ende der Höhle. Ein Teich liegt vor uns. Auf seiner beinahe spiegelglatten Oberfläche bricht sich das Licht und erhellt den runden Raum etwas mehr. Auf der rechten Seite zweigt ein schmales Bächlein ab und verschwindet irgendwo zwischen den Steinen.
» Das muss die Quelle eines Bachlaufs sein «, meint Edmund und kniet sich nieder. Reepicheep springt von meiner Schulter und läuft zum Wasser. Auch Lucy und Eustachius beugen sich hinunter, während ich mich genauer umsehe. Die Tropfsteine schimmern teils sandfarben, teils bläulich. Vorsichtig fahre ich mit den Fingern über einen von ihnen. Kühl und glatt. Vielleicht eine Art Kristall. Seltsamerweise fühlen sich auch die sandfarbenen Steine so an. Normale Steine besitzen selten eine solch feine Oberfläche.
» Weg vom Wasser! Alle! «, schreit plötzlich Edmund und springt zurück. Ich fahre herum und starre den König aus alter Zeit ebenso verwundert an wie die anderen.
» Was ist denn los? «, fragt Lucy und beobachtet ihren Bruder.
» Seht euch diesen Stein an. Gerade schwappte etwas Wasser darüber und... «, er beendet seinen Satz nicht, sondern reicht Kaspian den Stein. Er schimmert ebenfalls sandfarben und schillert leicht.
» Das ist Gold «, stellt der König fest und sieht abwechselnd den Stein in seiner Hand, den Teich und Edmund an. Dieser hat sich mit dem Rücken zu uns noch einmal niedergekniet.
» Sei vorsichtig «, rät Lucy sanft und Eustachius tritt einige Schritte zurück.
» Gut, dass wir rechtzeitig gewarnt wurden. Jedermann hätte mit diesem Wasser in Berührung kommen oder gar davon trinken können «, piepst Reep.
» Schaut euch das an! «, meint Edmund und deutet auf etwas am Grund des Teiches. Das kristallklare Wasser gibt den Blick auf eine goldene Statue frei. Lucy schlägt sich eine Hand vor den Mund und auch mir stockt einen Augenblick der Atem.
» Das ist Lord Restimar «, erklärt Kaspian traurig,
» Dort ist sein Wappen «. Tatsächlich liegt ein Schild neben der Statue im Wasser.
» Warum hat er das Schwert nur auf dem Hügel gelassen? «, fragt Eustachius und wirft einen Kieselstein in den Teich.
» Vielleicht war er diesem Zauber auf der Spur «, vermutet Edmund mit einer seltsam klingenden Stimme. Noch immer hat er uns den Rücken zugewendet und scheint etwas ins Wasser zu tauchen.
» Gold «, flüstert er,
» Pures, reines Gold «. Nun sieht er seine Schwester an und wiegt einen vergoldeten Klumpen in der Hand
» Wem auch immer diese Insel gehört, wäre ein reicher Mann «.
» Sie gehört zu Narnia «, entgegnet Kaspian und auch seine Stimme klingt seltsam dumpf.
» Was willst du damit sagen? «, fragt Edmund zischend und steht auf. Mit der einen Hand hält er den Goldklumpen umklammert, mit der anderen seinen Schwertknauf,
» Was zu Narnia gehört, gehört auch mir, vergiss das nicht! «. Kaspians Augen verengen sich zu Schlitzen
» Ich bin König, nicht du! «.
» Ach ja? Wie kann man einem König folgen, der immer an sich zweifelt? Dem sozusagen alles in den Schoß gelegt wurde! «, fährt Edmund ihn an.
» Hast du nur auf einen solchen Augenblick gewartet, um mich herauszufordern? «, fragt Kaspian,
» Dir hat es nie gefallen, dass Peter mir sein Schwert gab und nicht dir! Du wolltest schon immer besser sein als er und ich! «.
» Ich bin es auch! Ich bin viel mutiger als ihr beide zusammen! «, schleudert der Dunkelhaarige ihm entgegen,
» Und ich bin bereit, es dir zu zeigen! «. In einer fließenden Bewegung ziehen beide Könige ihre Schwerter und lassen die Klingen aufeinanderprallen. Lucy und Eustachius weichen instinktiv zurück, Reep steht mehr oder weniger hilflos daneben und ich... Mir geht das alles viel zu schnell. Was ist nur in die beiden gefahren? Sie sind seit jeher dicke Freunde, was also geschieht hier nur? Ist es das Wasser, ist es verflucht? Immer heftiger treffen ihre Schwerter aufeinander und immer rücksichtsloser versuchen sie, sich gegenseitig zu Fall zu bringen. Ich handle schnell, ohne groß nachzudenken. In einem Moment, in dem sie sich wieder trennen, trete ich zwischen sie. Direkt in die Reichweite ihrer Klingen. Die Augen der Könige funkeln zornig und beide halten ihre Waffen kampfbereit hoch. Ich hebe meine Arme ein wenig an, um sie auf Abstand zu halten.
» Was ist nur los mit euch? «, frage ich,
» Merkt ihr nicht, dass euch dieser Ort verzaubert? Was bewegt euch dazu, aufeinander loszugehen? Seht euch nur an... «. Nun halten beide Inne und starren mich an. Kaspians Blick klärt sich nach und nach und auch von Edmund scheint der Zauber langsam abzufallen. Entgeistert sehen sie ihre gezogenen Schwerter an. Da höre ich ein leises Brummen und fahre herum. Ein riesiger Löwe umkreist uns. Seine Pfoten scheinen den Boden kaum zu berühren. Die goldene Mähne schimmert, sobald sie ein Sonnenstrahl trifft. Die gütigen braunen Augen ruhen auf jedem einzelnen. Selbst ein Blinder würde erkennen, was für ein Löwe das ist. Aslan, der Sohn des Herrn der Herren, Erschaffer von Narnia und sein Beschützer. Vor dem Teich bleibt er stehen, öffnet sein Maul und ein donnerndes Brüllen erfüllt die Höhle. Im selben Moment beginnt mein Kopf leerer und leerer zu werden. Ich vergesse alles, was in der letzten halben Stunde geschehen ist. Vergesse, dass wir eine Höhle entdeckt haben und diesen seltsamen Teich. Vergesse die goldene Statue und den Kampf zwischen Edmund und Kaspian. Wie in Trance ziehen die Bilder an meinem geistigen Auge vorüber und verschwinden im ewigen Nichts, in einer endlosen Leere.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro