Kapitel 115
Nachdem James und ich uns ausgesprochen hatten, schien es ihm leichter zu fallen, mit der Situation umzugehen.
Er wurde zwar den gesamten Tag über immer wieder darauf angesprochen, doch meist reagierte er mit einem schlagfertigen Spruch, einem Lachen oder auch gar nicht.
So locker er auch mit allem umzugehen schien, ich wusste, dass es ihn dennoch anstrengte, und so schickte ich James entschlossen zum Quidditchtraining, damit er den Kopf freibekommen konnte, obwohl er angeboten hatte, es mal sausen zu lassen, um Zeit mit mir zu verbringen.
Ich wusste das Angebot zu schätzen, doch mir war klar, dass er sich auspowern musste und Marlene würde es ebenso guttun, mal auf andere Gedanken zu kommen.
Das alles bedeutete allerdings nicht, dass es mir gefiel, wie so oft allein in unserem Apartment herumzustreunen.
Ich spielte mit Ve, bis diese müde wurde und sich auf dem Sofa zusammenrollte, dann machte ich mir einen Kakao und döste ein bisschen, bis ich lustlos auf und zu gehen begann.
Sollte ich auf James warten, ja oder nein?
Wie jeden Abend war dies die alles entscheidende Frage.
Seufzend verzog ich mich in James' Zimmer und setzte mich an den Schreibtisch, der vor der großen, gläsernen Wand stand, die tagsüber einen fantastischen Blick nach draußen bot.
Jetzt war es bereits zu dunkel, um noch etwas erkennen zu können, aber ich bildete mir ein, ein paar rote Umhänge in weiter Ferne flattern zu sehen.
Ich verschränkte die Arme auf der Tischplatte und bettete meinen Kopf darauf.
Mit einem Finger malte ich die Maserung des Holzes nach, wobei ich gegen diverse Pergamentblätter stieß und die Karte des Rumtreibers zur Seite schob.
Unter ihr kam ein kleines Büchlein zum Vorschein.
Es hatte einen schwarzen, schlichten Ledereinband und wirkte ganz unscheinbar, wie ein Hausaufgabenheft oder ein Terminkalender.
Mit einem Mal war meine Müdigkeit verflogen und ich setzte mich neugierig auf, um das Büchlein in die Hände zu nehmen.
Die Oberfläche fühlte sich ganz kühl und glatt und irgendwie geheimnisvoll an.
Mir war klar, dass ich nach der Aktion mit dem Foto besser die Hände von James' Sachen lassen sollte.
Doch ich konnte nichts dagegen tun, dass sich in meinem Kopf gerade lauter Sätze bildeten, die mit einem großen „Aaaaaaber..." anfingen:
Aber er hat damals auch mein Tagebuch gelesen.
Aber es könnte sich tatsächlich nur um einen Terminkalender handeln.
Aber ich bin verdammt neugierig.
Wem machte ich hier etwas vor? Ich würde meine Nase sowieso nie wieder aus James' Angelegenheiten nehmen können.
Also schob ich mein schlechtes Gewissen geradewegs beiseite und schlug die erste Seite des Buches auf.
Eigentum von James Potter
Streng geheim!
war dort zu lesen.
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der halbwegs erwachsene James „streng geheim" in ein Tagebuch schreiben würde, wo es doch viel wirkvollere Schutzzauber gab.
Und die Schrift wirkte auch noch etwas krakelig und unförmig, woraus ich schloss, dass James dieses Buch schon vor langer Zeit angefangen haben musste.
Sehr süß.
Und sehr, sehr dumm.
Ich blätterte weiter.
Auf den ersten Seiten waren größtenteils hastige Zeichnungen zu sehen, neben denen kleine Schlachtpläne zu lesen waren. Jede einzelne trug einen Titel, sowas wie „Filchs Katze entführen" oder „Mulcibers Brille im Klo runterspülen".
Ich musste grinsen. Anscheinend waren das die ersten Streiche der Rumtreiber gewesen.
Ich erinnerte mich noch genau, wie wütend ich damals immer auf die Jungs gewesen war, wenn mal wieder jemand einen verlorengeglaubten Gegenstand suchte und sie, als die ganz klaren Übeltäter, kichernd danebenstanden.
Ich vermutete, dass diese Pläne aus unserer Erstklass- Zeit stammten.
Lustig, aber nicht sonderlich interessant.
So blätterte ich weiter Seite für Seite um und schwelgte in Erinnerungen, als ich plötzlich stockte.
Die nächste Seite zeigte keine Zeichnung und trug auch keinen Titel.
Stattdessen stand dort als Überschrift: Hi Evans!
Und darüber ein Datum: 4. Februar 1972.
Warum zur Hölle hatte James in der zweiten Klasse an mich geschrieben?
Wir hatten uns damals nicht ausstehen können.
Ich zögerte. Sollte ich das wirklich lesen?
Andererseits war es ja direkt an mich adressiert. Ich fand, dass ich ein Recht darauf hatte, zu erfahren, was James mir damals hatte sagen wollen.
Bevor ich es mir anders überlegen konnte, war ich auch schon in die kritzeligen Zeilen des jungen James Potter vertieft.
4. Februar 1972
Hi Evans!
Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ich dir einen Brief schreibe. Aber ich wollte einfach mit irgendjemanden reden ...
Jetzt fragst du dich bestimmt, warum ich nicht mit Sirius oder Remus oder Peter rede aber na ja... Es ist irgendwie seltsam mit ihnen über meine Gefühle zu reden. Wir sind Jungs, wir reden nicht über sowas.
Meine Mutter meint immer, Mädchen sind besser in Gefühlsdingen und irgendwie warst du das einzige Mädchen, das mir einfiel ... Das liegt natürlich nur daran, dass du mir mit deiner streberhaften Art total auf den Zauberstab gehst!
Ich mag dich eigentlich nicht mal.
Aber egal.
Sirius, Peter und ich haben eine erschreckende Entdeckung gemacht. Eigentlich waren's nur Sirius und ich, denn Peter ist zwar ein netter Kerl, aber etwas schwer von Begriff. Hast du ja selbst letztens gesagt, als du uns für diesen Streich mit den Stundengläsern bestraft hast ... Du bist so eine Spießerin, Evans.
Tut mir leid, dass das alles so durcheinanderkommt, aber ich bin echt verwirrt. Wir haben nämlich schon seit längerem bemerkt, dass Rem sich ständig nachts aus dem Schlafsaal schleicht.
Zuerst dachten wir, er liest in der Bibliothek oder so, Streber halt. Aber dann ist uns aufgefallen, dass er nur ein einziges Mal im Monat verschwand ... Und immer zu Vollmond.
Ich habe so einen total krassen Umhang, der einen unsichtbar macht (deswegen gelingen uns auch so viele Streiche, mit denen wir dich und die Slytherins ärgern können) und mit dem Umhang sind wir ihm einmal gefolgt. Du kennst doch bestimmt die heulende Hütte. Nur, dass dort keine Geister oder so sind, sondern ein Werwolf da seine Verwandlung durchzieht.
Jetzt ist es raus. Rem ist ein Werwolf. Er war am Boden zerstört, als wir ihn zur Rede stellten, und jetzt redet er seit einer Woche nicht mit uns.
Wir vermissen ihn ganz schön. Es macht doch nichts, dass er ein Werwolf ist. Du kennst ihn ja, er ist immer zu allen nett und fast so ein Streber wie du. Er wäre der letzte, der jemand anderem wehtun wollen würde.
Ich hoffe, dass er bald einsieht, dass uns das mit dem Werwolfsein nichts ausmacht. Ich kenne ihn erst eineinhalb Jahre, aber er ist ein anständiger Kerl.
Hattest du schonmal grundlos Streit mit deiner besten Freundin? Tat das auch so weh, als würde jemand auf deinem Herzen rumtrampeln? Na ja, vielleicht hast du ja auch gar keine beste Freundin. Ich denke die anderen Mädchen finden dich seltsam, weil du mit Schniefelus befreundet bist.
Bestimmt bist du jetzt wieder sauer, dabei war das gar nicht böse gemeint. Du bist wirklich empfindlich, Evans.
Aber danke fürs ... Keine Ahnung. Danke, dass ich dir schreiben durfte, auch wenn du das nie lesen wirst.
Bye, Potter
Ich wusste nicht, was ich denken sollte.
Auf eine Art war es süß, dass James sich an mich gewandt hatte – na ja, zumindest so halbwegs. Andererseits spürte man noch deutlich, dass es ihm ganz schön widerstrebte, auch nur ein nettes Wort an mich zu richten.
Die Geschichte von Remus kannte ich mittlerweile, dennoch war es überaus interessant, in James' Gedanken zu dieser Zeit tauchen zu können.
In meinen Fingerspitzen kribbelte es. Ich wollte unbedingt erfahren, ob James noch mehr solcher Briefe an mich geschrieben hatte.
Und so schluckte ich erneut mein schlechtes Gewissen hinunter.
Die nächsten Briefe kamen in unregelmäßigen Abständen und waren im Großen und Ganzen nicht sonderlich spannend.
Größtenteils erzählte er mir von seinen Streichen und der Freundschaft zu den Rumtreibern, die Anschrift blieb bei "Hi Evans!".
Manche Briefe waren recht lang, zum Beispiel, wenn er mir detailliert seine ersten Quidditchspiele beschrieb ("weil du Spielverderberin ja nie dabei bist"), andere dagegen enthielten nur ein paar Zeilen.
Erst Ende des dritten Schuljahres wurde es wieder interessant: Nun begannen die Briefe nicht mehr mit der Verwendung meines Nachnamens, sondern mit "Hi Lily".
Und irgendwann änderte sich auch der Ton, in dem James mir schrieb.
Ich stutzte, als mir klar wurde, dass er damals schon angefangen hatte, mich irgendwie zu mögen.
8. Juni 1974
Hi Lily.
Ich habe lange nicht mehr geschrieben. Das liegt daran, dass sogar ich manchmal für die Prüfungen lernen muss. Letztens haben wir uns in der Bibliothek getroffen, weißt du noch? Ich habe nur gefragt, ob ich mir deinen Aufsatz für Zaubertränke anschauen darf, und sofort musstest du mich anfauchen, dass ich mein Zeug gefälligst selbst machen soll.
Ich dachte immer, wenn wir etwas älter sind, wird sich unsere Feindschaft vielleicht legen, aber anscheinend bist du auch mit 14 noch völlig verkrampft.
Jetzt habe ich dich schon wieder beleidigt. Dabei wollte ich dir nur sagen, dass ich dir manchmal zusehe, wie du lernst. Es sieht süß aus, wenn du völlig in die Bücher vertieft bist. Dann schreist du mich wenigstens nicht an.
Mach's gut.
James
Und schließlich, Anfang der vierten Klasse, das:
13. Oktober 1974
Hey Lily.
Ich glaube, ich mag dich. Vielleicht bist du gar nicht so eine Streberin. Zumindest keine so üble.
Ein völlig verwirrter
James Potter
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