Prolog
„Hindernisse können mich nicht aufhalten; Entschlossenheit bringt jedes Hindernis zu Fall."
—Leonardo da Vinci—
Er packte ihren Arm und zog sie auf den Steinsims.
Grau war der Stein unter seinen Stiefeln, grau seine Zukunft. Grau der Nebel, der über dem Wald lag wie ein Leichentuch, und grau der Stahl, der Tod brachte.
Der Wind zerrte an seinen Kleidern, zerrte auch an ihr.
Der Anblick ihres schönen, sonnengebräunten Gesichts war der einzige Trost, den er jetzt noch hatte. Und schon bald verlieren würde.
Ihre schwarzen Locken schlugen ihr unbarmherzig ins Gesicht, während ihre rehbraunen Augen ihn traurig musterten. Bei dieser Melancholie in ihnen zog sich alles in ihm zusammen.
Wenn er doch nur sicher sein könnte, diese Augen noch einmal zu sehen.
„Danke", sagte er.
Die Worte blieben in seinem Hals stecken. Sein Körper bebte vor Anspannung und das viel zu schwache Herz in seiner Brust klopfte viel zu schnell.
„Ich wünschte, es wäre niemals so weit gekommen", brachte Manalin hervor. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt und die Schultern kraftlos.
Sie kämpfte nicht mehr.
Sie beide kämpften nicht mehr. Denn das Kämpfen würde alles nur noch schlimmer machen.
Er nahm sie in den Arm und drückte die Elfe an sich. Hielt sie fest wie den letzten Funken Hoffnung. Aber auch dieser würde ihn irgendwann verlassen.
Manalin wandte sich aus seiner Umklammerung. „Du weißt, ich würde alles tun, um dir das Kommende zu ersparen", flüsterte sie.
Er schluckte angestrengt. Betrachtete sie mit verengten Augen, prägte sich alles von ihr ein.
„Du weißt genauso gut wie ich, dass unsere Liebe von Anfang an verboten und verflucht war. Ich, ein Verdammter, du, eine ansehnliche Elfenfrau vom Hof. Wir hätten uns nie kennenlernen sollen, du hättest jemanden lieben sollen, der deiner angemessen ist."
Tränen blitzten in Manalins klaren Augen auf. Schnell rieb sie sich mit dem Arm über sie, damit er die Flüssigkeit nicht bemerkte.
Normalerweise hätte er jetzt gelacht und sie geküsst, aber heute nicht. Heute konnte er nicht lachen. Und nach heute würde er das nie wieder können.
„Wir können es nicht verhindern", presste er hervor. Die Wut, die ihn verzehrte wie ein tödliches Feuer, war das Einzige, das er in diesem Moment spüren konnte.
Stumm nickte Manalin, hob ihr Kinn und sah ihm direkt in die Augen.
„Dann geh, Irkandir. Tu, was getan werden muss", ihre Stimme klang seltsam. Sie kämpfte zusehends gegen die Trauer an.
Irkandir versuchte zu grinsen, schaffte aber nicht viel mehr als ein leichtes Zucken der Mundwinkel. „Mach in deinem Leben, was du machen willst. Versprich mir nur eins: vergiss mich nicht."
Manalin riss die Augen auf. „Das würde ich nie machen", entgegnete sie heiser, schockiert. „Du weißt, dass..."
Irkandir unterbrach sie: „Irgendwann wird es in deinem Leben einen Mann geben, der dich genauso liebt wie ich dich liebe."
Er legte eine Hand auf ihr Herz. Fühlte sein Schlagen.
„Dort werde ich weiterleben. Lass es auch für mich schlagen. Lass es so laut pulsieren, dass ich es hören kann - wo immer ich dann auch sein mag."
Sie brachte nichts weiter als ein schwaches Nicken zu Stande.
Irkandir richtete den Blick ab, sah nach oben.
Bei dem Anblick gefror ihm das Blut in den Adern.
Am Horizont zeichnete sich eine schwarze Gestalt ab. Das Geräusch von Flügelschlägen drang zu ihm. Angst lähmte seinen Körper.
Der Raubvogel schrie seine Kampfeslust in die anbrechende Nacht, der Laut vertrieb sämtliche Tiere des Waldes.
Irkandir wandte sich ab und zog sein Schwert. Es lag ungewohnt schwer in der Hand.
Er wäre gerne weggelaufen. Aber vor Rathrankar und seinen teuflischen Dienern konnte man nicht weglaufen.
„Warte!", rief Manalin, und dieses Mal beherrschten all die vergeblich zu kontrollierenden Gefühle ihre Stimme.
Die Elfe schluchzte erstickt auf, rannte auf ihn zu und ihre Finger suchten verzweifelt nach etwas, mit dem sie ihn festhalten konnte.
Aber da war nichts.
Er löste sich von ihr und schob sie von sich, ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen.
Erneut durchbrach ein Schrei die Stille und endlich wandte sich Manalin ab.
Irkandir sah ihr nach, richtete seinen Blick dann nach oben.
Er stand auf dem Vorsprung eines steilen Felsens, hatte eine beinahe senkrechte Steinwand zu bewältigen, um auf den oben liegenden Duellplatz zu gelangen.
Tief unter ihm hatte sich der dichte Elfenwald, von den Menschen „Moraldwald" genannt, ausgebreitet wie ein grüner Teppich. In seinem Zentrum erhob sich bedrohlich die weiße Festung Rathrankars.
Und obwohl der bleiche Stein hell und scheinbar einladend glänzte, traute sich so gut wie niemand in die Festung.
Ihr Besitzer wurde zu sehr gefürchtet.
Scharf schnitten die Felsen in Irkandirs schmale Finger, als er über den rauen Stein tastete.
Grau. Alles war grau.
Sein Körper spannte sich, er erfasste mit der linken Hand einen Vorsprung und schwang sich daran hoch.
Der raue Wind ließ Irkandirs Lippen trocken und rissig werden. Er leckte mit der Zunge über sie, aber die entstandene Feuchtigkeit schwand zu schnell.
Irkandir war klar, dass er gegen den Feuerschwanz verlieren und sterben würde, ihm war klar, wie kurz der Weg ins Jenseits noch war. Aber er würde diesen Weg mit Ehre gehen, ganz wie ein Krieger.
Er wäre ein Ritter geworden, ein Kämpfer, stets an Manalins Seite.
Aber jetzt blieb ihm nur noch die Wiedergeburt. Das erneute Kommen, ein neues Leben, in dem seine Seele einen neuen Körper erhalten und erneut beginnen könnte.
Doch auch in diesem Leben würde Irkandir durch den Feuerschwanz sterben. Er würde immer dem Geschlecht anstammen, das der Elfenkönig Rathrankar verabscheute und von den Feuerschwänzen jagen ließ.
Es würde kein Ende nehmen.
Als Irkandir sich über den Stein zog, fand er sich auf einem gepflasterten Platz wieder.
Elfen hatten einen im Durchmesser zwanzig Schritt großen Kreis auf dem höchsten aller Berge erschaffen, auf dem sich die ungleichen Duelle zwischen Elf und Raubvogel austrugen.
In der Mitte des Kreises war das Zeichen von Rathrankar eingraviert: eine simple Krone, veredelt von blutroten Rosen.
Irkandir stand auf und lehnte sich an eine der zerbröckelten Säulen, die in regelmäßigen Abständen den Kampfplatz säumten. Langsam drehte er sich im Kreis.
Hielt inne, als er ihn sah.
Den Feuerschwanz.
Spöttisch bog das mächtige Geschöpf seinen Hals zu ihm hinab. Es war etwa drei Schritt groß, das schwarze, glänzende Gefieder plusterte sich auf.
Bernsteinfarbene Augen zogen sich zusammen, kein einziges Mal schloss sich das Lid.
Ganz ohne Pupille und Weiß schien das Auge des Feuerschwanzes mehr zu sehen als Irkandir.
Der Blick des Elfen glitt an dem Feuerschwanz herab und blieb an dem blutrotem Schwanzgefieder hängen. Nie hatte er so ein schönes, tiefes, vollkommenes Rot gesehen.
Heiser krächzte der Feuerschwanz und neigte seinen Kopf.
Auch Irkandir beugte sein Haupt.
Der Kampf begann.
Der Feuerschwanz erhob sich in die Lüfte. Irkandir maß ab, wie der Raubvogel fliegen würde, dann sprang er hoch, griff mit einer Hand an eine Klaue seines Gegners und zog sich hoch. Mit einem wütenden Schrei stach er in den Rücken des Feuerschwanzes.
Dieser jaulte auf.
Schwarzes Blut perlte über die Federn auf Irkandirs weiße Hose und Gewand. Sein Feind warf den Elfen von seinem Rücken und Irkandir hatte nicht genügend Zeit, seinen Sturz ordentlich abzufedern.
Der Fuß knickte unter ihm weg und ein stechender Schmerz griff in seine Knochen.
Weil der Elf nicht genügend Zeit hatte, aufzustehen, griff er nach der Magie, die dem Ort innewohnte. Sie lag wie ein Fischernetz um jeden Gegenstand und jede Kreatur.
Der Elf legte eine Hand auf den Fels und entzog dessen magisches Netz. Die Magie floss in seinen Körper über. Rauschte zusammen mit dem Blut durch ihn. Ließ sein Herz pulsieren vor Freude. Schenkte ihm Kraft.
Als die Magie den Feuerschwanz traf, wurde dieser gegen den Fels geschleudert.
Ein schmerzvolles Stöhnen zerriss die Luft.
Aber etwas in dem Laut klang gespielt.
Geübt.
Das Biest hatte es gewusst. Hatte seinen Plan vorhergesehen und der Magie ausgewichen.
Bei dem Versuch aufzustehen knickten ihm die Beine weg.
Ein Fluch verließ seine Lippen.
Er hatte den größtmöglichen Fehler begangen: hatte bei dem Weben der Magie zu viel seiner eigenen abgegeben.
Langsam kroch er zurück, bis an den Rand der kleinen Plattform.
Siegessicher bog der Feuerschwanz seinen Hals und krächzte heiser.
Irkandir sah hinab.
Der Abgrund rief nach ihm.
Lange Nebelschwaden flossen über die Wipfel der Elfenbäume.
Wie würde sich dieser Fall wohl anfühlen?
Wie würde es sein zu fliegen?
Der Elf entspannte sich - machte sich bereit.
Schmerz durchfuhr ihn.
Irkandir schrie auf.
Der Feuerschwanz hatte seine Krallen in Irkandirs Brustkorb gegraben.
Heiß lief sein eigener Lebenssaft über seinen entblößten Oberkörper. In brennenden Bahnen riss der Raubvogel ihm die Haut von den Knochen.
Irkandir würgte.
Das Adrenalin in seinem Körper linderte den Schmerz, nicht aber die verschwimmende Sicht.
Obwohl es von Anfang an klar gewesen war, machte sich Panik in ihm breit.
Das hier war wirklich das Ende.
Der Feuerschwanz senkte seinen Schnabel.
Eiskalt schabte er über Irkandirs Körper.
Der Nebel, der eben unten über den Bäumen gewesen war, schien nun nach dem Feuerschwanz zu greifen.
Vielleicht würde sich der Wald rächen?
Irkandir lachte hustend.
Das war der Tod.
Er brachte ihn auf merkwürdige Gedanken.
Punkte tanzten vor seinen Augen, bis sein Körper endlich der Ruhe versprechenden Dunkelheit erlag.
Er bemerkte nicht, wie der Leib des Feuerschwanzes langsam verblasste.
Merkte nicht, wie der Nebel, in dem der Raubvogel entschwunden war, sich gierig in Irkandirs Fleisch bohrte und seinen Leib einhüllte.
Merkte nicht, wie er sich veränderte.
Wie sich seine Wunde wie von Zauberhand schloss und sein zerbarster Knochen im Fuß wieder zusammenwuchs.
Erst als ein Schauer über seinen ganzen Körper lief und schwarze Federn aus seiner Haut sprossen, kam Irkandir wieder zu sich. Er fühlte sich stark, unbesiegbar.
Ein berauschendes Gefühl.
Sein Körper wuchs an, Arme verdrehten sich zu Flügeln und Mund und Nase verschmolzen miteinander. Seine Beine wurden schmaler und kürzer, Füße wurden zu Krallen.
Und auch seine Sicht änderte sich. Statt die Gegenstände bei Farbe zu sehen, lag nun um alles ein Netz der Magie.
Um jeden einzelnen Baum, jeden einzelnen Erdbrocken am Boden.
„Willkommen", vernahm Irkandir plötzlich eine Stimme. War das der Tod, das typische Ritual? War das das, was all die Elfen vor ihm durchgemacht hatten? Gefangen in dem Körper eines Feuerschwanzes?
„Nein", dröhnte diese Stimme in seinem Kopf.
Götter, sie war so verdammt tief!
Alles in ihm zog sich zusammen.
„Hab keine Angst", fuhr dieses Ding in ihm fort. „Ich werde dir nicht wehtun. Lass dich einfach fallen."
Und mit diesen Worten stürzte sich seine neue Gestalt dem Abgrund entgegen.
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