Die Göttin
Als die sechs Feldherren den Raum verlassen hatten, und Areen sich auch schon erhoben hatte, schüttelte Rathrankar den Kopf und sie setzte sich wieder. „Dein Plan ist sehr gut, Irkandir. Darf ich fragen, welche ansehnliche Elfenfrau du als Kriegerin erwählt hast?", fragte Rathrankar. Augenblicklich flammte Eifersucht in Mothruit auf. Rathrankar hatte Areen ansehnlich genannt, aber sie war seins! Einzig sein Besitz!
Schließlich setzte er zum Sprechen an, doch Areen erfasste nun das Wort: „Ich fühle mich geehrt, dass du mich vorstellen möchtest, aber ich weiß meinen Namen auch selber, danke." Areen wandte sich an Rathrankar und sagte mit fester Stimme: „Vor dir steht Areen. Mein Geburtsort ist Saliarka. Ich besitze weder Familie noch einen Mann." Mothruit hob den Kopf. Sie hatte keinen Mann! Er hätte vor Glück schreien können.
„Areen. Ein schöner Name. Wer ist dein Vater?", entgegnete Rathrankar. „Ich bin stark genug, um mich nicht hinter dem Namen meines Vaters zu verstecken", erwiderte Areen kalt. Sie verbarg nicht, was sie von Rathrankar hielt. Mothruit war erleichtert über ihr Desinteresse an den Adeligen. Allerdings gehörte er auch dazu. Er fluchte stumm.
„Nun, wenn das so ist. Ihr beide seid meine größte Hoffnung im Krieg gegen die Menschen. Ich wünsche mir, dass ihr eine Weile dort untertaucht und die Schwächen der Menschenkinder in Erfahrung bringt. Ihr seid somit einer der wichtigsten Teile unseres Plans", sagte der Elfenkönig. Mothruit nickte. Mit so etwas hatte er gerechnet. Auch Areen lächelte und willigte schließlich ein. „Ihr werdet schon heute Abend aufbrechen. Ich werde Navèst rufen. Sie wird euch einen kurzen Weg öffnen. Würdet ihr zu Pferd reisen, würdet ihr fast einen Monat brauchen. Diese Zeit können wir uns nicht leisten", fuhr er fort. Wieder nickten Kriegerin und Feldherr. Rathrankar lächelte sie an. Obwohl Mothruit nun das Lächeln öfter gesehen hatte, schien es ihm immer noch fremd in Rathrankars Gesicht. Es war, als hätte es sich verirrt, als würde man mitten im Winter eine Grille zirpen hören.
Rathrankar sah Mothruit durchdringend an. „Dann erwarte ich euch in der zweiten Stunde vor dem Höchststand des Mondes", sagte der Elfenkönig schließlich und erhob sich.
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Nervös trommelte Rathrankar mit den Fingern auf der Armlehne seines Throns, dann riss er sich zusammen und krallte die Finger um den löwenförmigen Knauf. Er durfte nicht nervös sein! Aber doch war er es. Er trat Navèst gegenüber. Die Schöpferin des Elfenvolkes. Sie war wie seine zweite Mutter. Was, wenn sie wusste, dass er die verbotene Blutmagie nutzte? Was, wenn sie von all seinen Untaten wusste? Davon, wie er Elfen abgefüllt und dann für seine eigenen Pläne benutzt hatte? Es würde sich gleich herausstellen. Seine Magie war mächtig, aber die einer Göttin war unermessbar. Er mochte sich gar nicht vorstellen, was sie mit ihm anstellen würde, wenn sie hinter seine Maske sah.
Areen und Irkandir traten in seinen langen Thronsaal. Ihre Schritte hallten laut in der Stille, die hier stets herrschte. Der Halbmond warf lange Schatten ihrer Gestalten und ließ ihre Gesichter dunkel erscheinen. Rathrankar stand auf und schritt an jene Stelle, an der eine unscheinbare Schlange auf den Boden gemalt war. Da sie weiß war, erkannte man sie erst auf den zweiten Blick. Ein Schritt von der Schlange entfernt blieb der Elfenkönig stehen und öffnete die geheime Sicht auf die Welt. Die Aura des Marmorbodens glänzte zu stark für einen einfachen Grund. In den ersten Jahren seiner Herrschaft hatte Rathrankar der Aura des Bodens Magie zugespielt, um sie als ständigen Speicher zu besitzen. Nun, am heutigen Tag, nahm er etwas von dieser Magie, um einen von vielen Zaubern zu wirken. Rathrankar kniete nieder, legte eine Hand auf den Marmorboden und eine auf die gezeichnete Schlange. Auch in ihr war mehr Magie als natürlich enthalten.
Rathrankar zog die Magie aus dem Boden und ließ sie in die Schlange fließen. Als genug Magie in der weißen Zeichnung des Bodens war, stoppte Rathrankar den Magiefluss und legte nun beide Hände auf die Schlange. Schon nach wenigen Augenblicken spürte er, wie sie lebendig wurde und sich langsam erhob. Rathrankar schloss die magische Sicht und sah, wie sich die weiße Schlange aufgestellt hatte. Sie öffnete ihren Mund und lange Giftzähne kamen zum Vorschein. Rote Augen zogen den Blick auf die geschlitzte Pupille. Die Schlange fauchte. „Ruhig", sagte Rathrankar bestimmt.
Er hielt der Schlange die Augen zu und schnitt in den langen Hals. Das weiße Ding zappelte kurz, dann erstarb es in seiner Hand. Achtlos ließ Rathrankar die Schlange zu Boden gleiten. Es tat ihm Leid um sie, sie war mächtig gewesen, doch musste man den Göttern Opfer bieten, um sie anzulocken. Und die Schlange konnte er leicht ersetzen.
Er begann im alten Elfisch den Zauber zu wirken, der Navèst herbeirief. Dort, wo der tote Schlangenkadaver lag, öffnete sich eine Pforte. Ein goldenes Tor hob sich langsam aus dem Boden, und enthüllte den Blick auf einen Weg inmitten von Schwarz. Eine Gestalt schritt ihnen anmutig auf dem blauen Pfad entgegen. Als sie den Saal betrat, entfaltete sie mächtige, weiße Schwingen auf ihrem Rücken. Ihr bordeauxrotes Jagdkleid schmiegte sich an ihren Körper. Mehrere Waffengürte waren ihr über die Brust gespannt, schwarzes Haar fiel ihr auf die Schultern und Hörner brachen aus ihrer Stirn und wölbten sich auf ihren Rücken. Es war Navèst die Göttin, Schöpferin der Elfen.
„Es freut mich, dass Ihr mich gerufen habt", sagte sie mit tiefer Frauenstimme an Rathrankar gewandt. Seine Nervosität steigerte sich noch mehr, aber er gab sein bestes, dies zu verbergen. Die drei Elfen knieten nieder. „Nicht doch. Bleibt stehen. Ich mag es, auf Augenhöhe mit euch zu sein. Was ist der Grund, dass ihr mich rieft? Braucht ihr einen Rat?", fragte sie. Irkandir räusperte sich, dann sagte er: „Wir wollten Euch fragen, ob Ihr einen kurzen Weg in die Menschenstadt im Süden des Elfenwaldes öffnen könnt. Areen und ich ziehen aus, um die Schwächen der Menschen zu suchen." „Eine sehr gute Idee. Kommt mit, wir müssen an einem Ort sein, an dem die Magie gewaltig ist, doch trotzdem nur für wenige sichtbar ist", erwiderte die Göttin. Kurzentschlossen beugte sie sich nieder und nahm die Schlange an sich. Kein Elf wusste, was die Götter mit ihren Opfern taten und niemand wollte es genau erfahren.
„Wo ist dieser besagte Ort?", fragte Areen und Navèst lächelte. „Am Berghang", entgegnete sie dann.
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Als Mothruit an der Stelle ankam, an der er sich mit Irkandir duelliert hatte, blieb Navèst stehen und hob die Hand. Mothruit fürchtete, dass Navèst ihn erkennen könnte doch die Göttin drehte sich lediglich um und sagte: „Hier muss es sein." Dann kniete sie, wie Rathrankar es eben im Thronsaal getan hatte, nieder und schon nach wenigen Sekunden erhob sich ebenfalls ein goldenes Tor, dieses Mal aber mit silbernem Pfad. „Folgt dem Pfad, doch seid gewarnt. Weicht nicht von ihm ab, jenseits des Pfades liegt die ewige Dunkelheit und eure Seelen werden den Weg von dort nicht zurück hierher finden", sagte sie und deutete auf den silbrig schimmernden Weg. „Kommt Ihr denn nicht mit uns?", fragte Areen und Navèst lachte. „Das ist eine Aufgabe, bei der ich nur eine Hilfe zum Öffnen des Pfades bin. Ich habe eigene Aufgaben zu erledigen", antwortete sie dann. Mothruit blickte Areen noch einmal an, nickte Navèst zu, dann trat er auf den Weg und Dunkelheit erfasste ihn.
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