~ 3 ~
Am nächsten Morgen beginne ich endlich damit, mich in meinem neuen Zimmer häuslich einzurichten. Nach dem kurzen Flashback am Vorabend im Park fühle ich mich wie gerädert. Dass ich mich plötzlich wieder an den Kuss erinnere, ist eigentlich ein gutes Zeichen, denn es zeigt mir, dass mein Gedächtnis nicht völlig gelöscht worden ist – ich habe aktuell anscheinend nur keinen Zugriff darauf. Vielleicht kehrt der Rest auch bald zurück.
Selbst wenn nicht, habe ich möglicherweise einen wichtigen Hinweis gefunden. Das Wort »Blitz« auf meinem Zettel habe ich bisher mit dem Wetter in Verbindung gebracht – so abwegig ist es immerhin nicht, dass es in dieser Nacht gewittert hat. Aber ging es wirklich darum? Es wäre auch denkbar, dass ich die Lichtblitze von der Party gemeint habe. Auch wenn ich noch nicht genau weiß, inwiefern mir das helfen kann, so habe ich vielleicht bisher an der falschen Stelle gesucht.
Trotzdem fühle ich mich gerade nicht besonders gut. Die kurze Erinnerung hat mich aufgewühlt und mit einem mulmigen Gefühl im Magen zurückgelassen, sodass ich die ganze Nacht kein Auge zubekommen habe. Immer wieder frage ich mich, was ich an diesem Abend Verstörendes erlebt habe, dass mein Geist jegliche Erinnerungen daran unter Verschluss hält. Denn so muss es sein, anders kann ich es mir nicht erklären.
Mein Verstand versucht mich zu schützen. Aber wovor?
Mit einem tiefen Seufzer mache ich mich an die Arbeit, in der Hoffnung, dass sie die nötige Ablenkung bringt.
Es dauert nicht besonders lange, die Kisten auszupacken. Gegen Mittag bin ich bereits fertig und meine wenigen Habseligkeiten sind in den Schränken verstaut.
Die drei Wandbretter über dem Sessel zieren nun ein paar Bücher und das Selfie von Conny und mir, das ich am Vorabend meines Geburtstags gemacht habe, kurz bevor wir losgingen. Sie strahlt mit geröteten Wangen und funkelnden Augen in die Kamera, ihre blonden Locken fallen voll und weich über ihre Schultern, und das Bild strahlt so viel Energie und Lebensfreude aus, dass ich bei dem Gedanken daran, dass die Leute sie für tot halten, laut lachen möchte. Conny hat so viel Leben in sich. Gleichzeitig schmerzt mich der Anblick des Bildes. Es ist so wunderschön und erinnert mich daran, wie gut alles war, bevor ich es vermasselt habe. Wären wir doch an diesem Abend nur zu Hause geblieben.
Den Rest des Tages lenke ich mich damit ab, mein Zimmer ausgiebig zu putzen und mich auf die Schule vorzubereiten, die in ein paar Wochen wieder starten wird. Die Sommerferien dauern zwar noch eine Weile an, aber es ist das Abschlussjahr, und wenn ich wirklich Medizin studieren möchte, brauche ich ein einwandfreies Abitur. Ich setze mich an meinen Laptop und bestelle ein paar Schreibutensilien und Abi-Vorbereitungsbücher, danach vertiefe ich mich in meine alten Biologiehefte, um meine Erinnerungen wieder ein wenig aufzufrischen. Aber all das soll mich nur von meinem Gedankenkarussell um Conny ablenken.
Als Dagmar um kurz vor fünf ihren Kopf zur Tür reinstreckt und mich fragt, ob sie mich heute zur Klinik fahren soll, atme ich erleichtert auf und springe aus meinem Sessel.
»Gott, ja!« Ich werfe einen Blick zum Fenster. Es regnet schon wieder, und ein zweites Mal kann ich auf die Dusche wirklich verzichten.
»Wir müssen aber bald los«, sagt sie entschuldigend. »Ich muss vor der Arbeit noch ein paar Erledigungen machen, derzeit komme ich zu nichts.«
»Die Nachtschicht muss echt hart sein, du Arme. Aber das macht nichts, alles ist besser als laufen«, sage ich schnell. Und hier festsitzen und langsam durchdrehen, ergänze ich in Gedanken. »Ich hole schnell meine Sachen.«
»In Ordnung, ich warte unten auf dich.«
In Windeseile habe ich meine Tasche gepackt, mein Haar zu einem unordentlichen Dutt hochgebunden und renne die Treppen hinab. Kurz darauf sitzen wir auch schon in Dagmars altersschwachem VW Polo namens Franz-Josef und fahren in Richtung Klinik.
»Und, wie war dein erster Tag gestern?«, fragt sie mich, während sie ihren Wagen durch den strömenden Regen manövriert. Die Tropfen prasseln so laut gegen die Scheiben, dass sie sogar den röhrenden Auspuff der Schrottkiste übertönen.
»Gar nicht so übel. Meine Kollegen sind nett und ich durfte sogar bei der Essensausgabe helfen. Emilia wollte, dass ich alles mal gesehen habe, um zur Not auch an anderen Stellen als am Spülbecken einspringen zu können. Die Zeit verging echt wie im Flug.«
»Das klingt super.« Dagmar gähnt. »Ich wünschte, das könnte ich von meinem Job auch behaupten. Das Praktikum ist echt hart, sag ich dir. Diese Schichten bringen mich um. Heute Morgen bin ich im Aufzug eingeschlafen. Im Stehen.«
Ich lache.
»Das war kein Witz.«
»Wie lange musst du noch durchhalten?«
»Das Pflegepraktikum geht noch knapp zwei Monate, dann geht das neue Semester los. Ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sage, aber inzwischen freu ich mich sogar auf das Physikum. Trotzdem frage ich mich momentan jeden Tag, ob das Medizinstudium die richtige Entscheidung war.«
»Das war es ganz sicher«, sage ich. »Du hast gesagt, es war das, was du immer machen wolltest. Und das Studium macht doch ansonsten Spaß, oder?«
»Ja, aber es geht ja nicht um das Studium, sondern um das, was danach kommt.« Sie hält sich die Hand vor den Mund und stößt erneut ein herzhaftes Gähnen aus. »Und momentan habe ich nicht das Gefühl, dass ich für diesen Job besonders gut geeignet bin. Ganz abgesehen von der psychischen Belastung. Die ganzen kranken Leute zu sehen und nicht wirklich helfen zu können, das ist ... hart.«
»Ich bin mir sicher, das geht am Anfang allen so«, tröste ich sie. »Bestimmt gewöhnt man sich daran. Und das mit dem Helfen, das wird ja besser, wenn du erst richtig ausgebildet bist.«
»Vielleicht hast du recht«, sagt sie, aber sie sieht nicht ganz überzeugt aus.
Sie lenkt ihren Wagen auf den Parkplatz vor der Klinik und ich steige aus. Im Wegfahren winkt sie mir noch einmal kurz zu, nicht jedoch ohne dabei noch einmal ausgiebig zu gähnen. Sie sollte vermutlich noch eine Runde schlafen, aber ich kann verstehen, dass sie versucht, ihren Tag noch ein wenig für sich selbst zu nutzen, bevor in fünf Stunden ihre nächste Schicht beginnt. Ich kenne sie zwar noch nicht sehr lange, aber die Arme wirkt immer wahnsinnig gestresst. Und ihre Augenringe sind heute noch tiefer und dunkler als gestern.
Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich denselben Weg einschlagen möchte. Ich will Menschen helfen. Das wollte ich schon immer.
Ich gehe zur Cafeteria, bestelle mir einen Pfefferminztee und lasse den Blick über die Tische schweifen. Ein paar Patienten sitzen vereinzelt herum, die meisten in bequemer Alltagskleidung, ein Mann im OP-Hemd hat seinen Infusionsständer dabei. Einige haben Besuch. Besonders voll ist es trotzdem nicht, es ist relativ ruhig, die meisten Tische sind frei und ich habe die Qual der Wahl. Schließlich entscheide ich mich für einen Platz in der Ecke, stelle meinen Tee ab und ziehe mein Handy aus der Tasche.
Während ich darauf warte, dass in einer Stunde meine Schicht in der Küche anfängt, klicke ich mich wahl- und ziellos durch das Internet, gebe verschiedene Begriffe in die Suchleiste ein und lese zum hundertsten Mal die zwei Artikel der Regionalzeitung über das Parksommerfest, in der Hoffnung, irgendetwas über den Abend zu erfahren. Aber darin steht nichts Auffälliges und auch nichts Neues. Beide Artikel sind bereits mehrere Tage alt, beide eher kurz gehalten. Sie loben den grandiosen Auftritt des DJ und die tolle Arbeit der Veranstalter und berichten, dass der Abend ruhig und friedlich verlaufen sei. Nur eine kleine Meldung in einer der Onlinezeitungen schreibt von einem verschwundenen Waisenmädchen, das in der Nacht möglicherweise von der Klippe gestürzt sei.
Dass Conny den lokalen Medien nur eine kleine Randnotiz wert ist, macht alles irgendwie noch hundertmal schlimmer und schmerzhafter. Wie jedes Mal, wenn ich die lieblose kurze Meldung sehe, bildet sich ein heißer Klumpen aus Wut in meinem Bauch. Unwillkürlich wandern meine Gedanken zurück zu meinem Geburtstag und den beiden Polizisten, die in der Küche mit mir und Angelina, der Leiterin vom Gertrudis, gesprochen haben.
»Die Chancen, dass wir ihre Leiche finden, stehen leider sehr schlecht«, sagt der kleinere von ihnen mit aufrichtigem Bedauern in der Stimme. »Das Meer spült die Körper meistens schnell weg oder sie werden von größeren Fischen gefressen. Wir werden selbstverständlich ein Expertenteam auf die Suche schicken. Wir melden uns.«
Fast zwei Wochen ist es nun schon her. Gemeldet hat sich niemand.
»Ist bei dir noch frei?«
Die Stimme reißt mich so sehr aus meinen Gedanken, dass ich heftig zusammenzucke und mein Handy fallen lasse. Laut scheppernd landet es auf dem Boden und ich stoße einen Fluch aus. Erst dann blicke ich nach oben. Mein Blick findet schwarze Augen und sofort beginnt mein Herz zu rasen.
Der Pfleger von gestern steht vor mir und sieht erwartungsvoll zu mir herab. In seinen Händen hält er ein Tablett mit einem Schokoladencroissant und einer Tasse Kaffee, aus der schwache Dampfschwaden aufsteigen. Er trägt heute keine Pflegekleidung, sondern Jeans und T-Shirt, beides in Schwarz. Letzteres betont seine breiten Schultern und gibt den Blick auf muskulöse Arme frei. Der dunkle Bartschatten auf seinen Wangen und das verstrubbelte Haar lassen ihn ein bisschen so aussehen, als wäre er gerade erst aufgestanden, doch sein Blick ist hellwach. Erst als eine seiner Brauen fragend in die Höhe wandert, wird mir klar, dass ich ihn mit offenem Mund anstarre, während er noch immer auf eine Antwort wartet.
»Äh, ja«, sage ich. »Setz dich ruhig. Ich muss sowieso bald gehen.«
Innerlich frage ich mich, warum er sich ausgerechnet zu mir setzen will. Immerhin sind fast alle Plätze in der Cafeteria noch frei.
Ich hebe mein Handy vom Boden auf und stelle fest, dass der Bildschirm schwarz geworden ist. Gesprungen ist er schon seit der Nacht meines Geburtstags, auch wenn ich nicht weiß, wie das passiert ist. Der Pfleger setzt sich und ich versuche das Gerät wieder einzuschalten. Erleichtert atme ich auf, als das Display zu leuchten beginnt. Ich stecke das Handy zurück in die Tasche und sehe nun endlich wieder zu meinem Gegenüber. Er nippt an seinem Kaffee, hat seinen Blick jedoch noch immer nicht von mir abgewandt, was mich ein wenig nervös macht.
»Ich bin Siath«, sagt er. »Wir sind gestern gar nicht dazu gekommen, uns vorzustellen.« Seine Stimme ist tief und ruhig, irgendwie warm. Augenblicklich entspanne ich mich ein bisschen.
»Wilhelmina«, sage ich. »Aber du kannst Mina sagen. Das klingt nicht ganz so mittelalterlich.«
»Ich finde Wilhelmina eigentlich ganz cool. Es ist besonders.« Er grinst. Ein feines Grübchen bildet sich dabei auf seiner Wange, und irgendwoher kommt mir dieser Ausdruck vertraut vor. Bevor ich allerdings länger darüber nachdenken kann, redet er bereits weiter. »Wie sind deine Eltern denn auf den Namen gekommen?«
»Das würde ich sie auch gern fragen, aber ich hab sie nie kennengelernt. Wahrscheinlich wussten sie, dass ich es ihnen übel nehmen würde, und haben sich deswegen aus dem Staub gemacht.«
Ich verziehe den Mund zu einem schiefen Grinsen, aber der Witz kommt trotzdem nicht so ganz rüber und klingt bitterer als beabsichtigt. Siath merkt es auch sofort und sieht ein wenig erschrocken aus.
»Oh, sorry. War das ein Fettnäpfchen? Ich habe echt ein Talent für so was, tut mir leid, ich wollte nicht ...«
»Ist schon in Ordnung«, unterbreche ich schnell, denn Mitleid ist das Letzte, was ich haben möchte. Mein halbes Leben lang wurde ich mitleidig angesehen, wenn ich erzählt habe, dass ich im Waisenhaus lebe, nun ist dieser Abschnitt endlich vorbei. Ich straffe ein wenig die Schultern. »Es ist echt okay, nicht schlimm. Ich bin im Gertrudis aufgewachsen. In dem Heim in der Nähe des Doms. Großes wuchtiges Backsteingebäude, hässlicher Garten voll verdorrter Rosenbüsche, sieht aus wie ein Knast. Hast du bestimmt schon mal gesehen.«
»Hab ich«, sagt er. »Ich fahre jeden Tag daran vorbei, wenn ich zur Arbeit gehe. Und da wohnst du?« Er legt den Kopf ein wenig schief. Sein Blick ist aufmerksam, forschend.
»Nicht mehr, ich wohne jetzt in einer WG in der Innenstadt«, sage ich. »Mit Dagmar, ich weiß nicht, ob du sie kennst. Sie macht momentan ihr Pflegepraktikum hier. Arbeitest du schon lange hier in der Klinik?«
»Seit fast drei Jahren. Seit ich hier in der Stadt lebe.« Er lehnt sich zurück und nippt an seinem Kaffee. Ich bin froh, dass er auf meinen Themenwechsel eingeht. Wir kennen uns seit gerade einmal ein paar Minuten, und irgendwie ist mir das Thema Waisenhaus und meine verschwundenen Eltern doch ein wenig zu persönlich.
»Wow, ganz schön lang. Und es gefällt dir hier?«
»Ich finde es schön, dass ich hier Leuten helfen kann«, sagt er. »Es gibt genug andere Jobs, bei denen die Umstände und die Bezahlung sicher besser sind, aber das hier ...« Er zuckt die Achseln. »Das ist irgendwie wichtig. Weißt du? Es gibt mir das Gefühl, was Sinnvolles zu tun. Nicht nur eine Belastung für die Welt zu sein.«
Er lächelt, aber gleichzeitig verändert sich etwas an seinem Blick, wird dunkler. Als würde von innen ein Vorhang über seine Augen fallen und etwas dahinter verbergen.
»Ich weiß genau, was du meinst«, sage ich. »Deswegen möchte ich nach dem Abitur Medizin studieren. Um Menschen zu helfen.«
Er nickt, sagt aber nichts mehr. Ich nehme meine Tasse und führe sie zum Mund. Vorsichtig nippe ich an meinem Tee, der noch immer viel zu heiß ist.
Das Gefühl, sich selbst als Belastung und in der Welt unwillkommen zu fühlen, kenne ich gut. Es wurde mir im Heim oft genug gegeben, wenn auch vielleicht nicht mit Absicht und auch wenn ich eigentlich weiß, dass es Unsinn ist. Etwas zu wissen und etwas zu fühlen sind zwei unterschiedliche Dinge. Allein die Tatsache, dass meine Eltern mich nicht haben wollten, reichte offenbar dafür aus, diese ständige Angst, unerwünscht zu sein, tief in mich hineinzupflanzen.
Ich war erst ein paar Tage alt, als ich auf der Treppe vor dem Waisenhaus gefunden wurde, so ist es mir später erzählt worden. Es war mitten in der Nacht, ich lag in einem Bastkorb und war in ein weißes Tuch gewickelt. Um meinen Hals hing ein Medaillon mit einem schwarzen Stein, der sich später bei Nachforschungen als stinknormaler Onyx entpuppte, und an meinem Arm ein Bändchen mit meinem Vornamen – Wilhelmina. Zumindest ging man davon aus, dass es mein Name sein sollte, nachdem man vorher versucht hatte, meine Mutter zu ermitteln. Im ganzen Landkreis war jedoch keine Frau mit diesem scheußlich altmodischen Namen zu finden und so wurde es meiner.
Ein etwas älteres, fieses Mädchen aus dem zweiten Stock hatte mir einmal gesagt, dass ich etwas Gruseliges an mir hätte, das die Menschen abschreckte. Möglicherweise wurde ich deshalb nicht adoptiert. Und sie hatte recht: Ich war gruselig. Zumindest passierten mir immer wieder seltsame Dinge, wie das eine Mal, als das Sofa Feuer fing, als ich mich so aufregte. Oder ein anderes Mal, als Angelina mir eine ungerechtfertigte Ohrfeige verpasste und danach unerklärliche Krämpfe bekam, die so stark waren, dass sie zu Boden ging. Natürlich waren all das bedauerliche Zufälle. Die Couch fing Feuer, weil die Steckdose dahinter kaputt war, und Angelina bekam Krämpfe, weil ihre Gallensteine sich nicht mit fettigen Mahlzeiten vertrugen. Aber lange Zeit war es mir nur recht, wenn die Leute Angst vor mir hatten – so ließen sie mich wenigstens in Frieden.
Doch jetzt bin ich ausgezogen. Jetzt bin ich erwachsen, habe mein eigenes Leben und kann all die traurigen Erinnerungen hinter mir lassen. Als etwas, das geschehen und vorbei ist, das mich zwar sicher in gewisser Weise geprägt hat, aber seine Schatten nicht länger vor mich werfen muss. Der Auszug war der Neuanfang, den ich mir seit langer Zeit gewünscht habe.
Und in meinem neuen Leben möchte ich nicht mehr die gruselige Außenseiterin Wilhelmina sein – sondern die zukünftige Ärztin Mina, die eine Bereicherung für die Welt ist, weil sie anderen Menschen hilft.
Unwillkürlich frage ich mich jedoch, was Siath widerfahren ist, dass auch er sich als Belastung für seine Umwelt sieht. Gern würde ich ihn fragen, aber es scheint mir doch ein wenig zu persönlich.
Dafür purzelt mit einem Mal eine andere Frage aus meinem Mund, von der ich nicht einmal gewusst hatte, dass sie sich in meinem Kopf zu Worten geformt hatte.
»Sag mal ... kennen wir uns von irgendwoher? Du kommst mir irgendwie bekannt vor.«
Er verschluckt sich an seinem Kaffee und hustet.
»Wir haben uns gestern im Zimmer von Frau Deininger gesehen«, erklärt er dann und wendet den Blick ab, so als wäre ihm das Thema unangenehm. Ich schüttle den Kopf.
»Ich leide nicht unter Demenz, das weiß ich. Nein, vorher. Warst du mal im Waisenhaus?«
»Nein. Warst du mal im Krankenhaus?« Nun sieht er mich wieder an.
»Nein.«
»Du Glückliche. Du warst nie krank? Keine Brüche? Dein ganzes Leben lang noch nicht?«
Ich zucke die Achseln. »Ich bin ein vorsichtiger Mensch und gehe keine unnötigen Risiken ein.«
»Das ist schade.« Er grinst schief und schiebt sich den letzten Rest seines Croissants in den Mund. Dann steht er auf, was ein unerwartetes Gefühl der Enttäuschung in mir auslöst.
»Du gehst schon?«, frage ich.
»Ich muss langsam. Meine Schicht ist eigentlich schon seit über drei Stunden vorbei.«
»Und da bist du immer noch hier?«
»Es gibt daheim nicht allzu viel, was auf mich wartet.« Bilde ich mir nur ein, dass sein Lächeln ein wenig traurig aussieht? »Außerdem habe ich nach Feierabend momentan immer noch ein Date mit Frau Deininger. Sie ist seit drei Wochen hier und bekommt nie Besuch, was mir leidtut. Du hast vielleicht gesehen, dass sie nicht wirklich ansprechbar ist, aber ich bin mir sicher, dass sie noch alles mitbekommt, und ich habe das Gefühl, sie freut sich immer, wenn ich ihr vorlese. Momentan lesen wir Hesse.«
»Ich liebe Hesse!«, erkläre ich. Und bevor ich darüber nachdenken oder es verhindern kann, frage ich: »Kann ich bei eurem Buchclub mitmachen?«
Siath stutzt einen kurzen Augenblick, dann lächelt er, was warme Wellen durch meinen ganzen Körper jagt. »Buchclub. Das gefällt mir. Klar, sehr gern! In der Frühschicht lesen wir ab zwei, dann ist meine Schicht vorbei. Meine Stimmbänder würden sich freuen, wenn ich mich beim Sprechen mit jemandem abwechseln kann.«
»Cool«, sage ich. »Zwei ist perfekt für mich. Dann haben wir morgen ein Date!«
Siath verabschiedet sich und ich trinke den Rest meines Tees, bevor ich mich auf den Weg zur Küche mache.
Als ich knappe drei Stunden später in mein kaltes Zimmer zurückkehre, überrollt mich die Einsamkeit wie eine Dampfwalze. Obwohl ich mich endlich eingerichtet habe, wirkt mein Zimmer leer, trostlos. Dagmar ist noch in der Klinik, und die Lücke, die Conny hinterlassen hat, ist auf einmal allgegenwärtig, droht mich zu verschlingen. Ich schalte auf meinem Laptop eine seichte Netflix-Sitcom ein, kuschle mich ins Bett und ziehe mir die Decke bis zum Kinn hoch.
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