~ 2 ~
Mein Puls rast und mir wird ein wenig übel. Sekundenlang starren wir uns nur an, wortlos, und obwohl etwas in mir lauthals danach schreit, schaffe ich es nicht, den Blick abzuwenden. Das Ticken der Uhr über mir ist übertrieben laut in der Stille. Ich möchte umkehren, aus dem Zimmer taumeln, die Tür ins Schloss werfen, doch ich stehe da wie festgefroren. Ich habe Biologie im Leistungskurs und weiß, dass es anatomisch nicht möglich ist, aber bei Gott, ich bin kurz davor, mein wummerndes Herz auszukotzen.
Draußen ertönt ein lauter Donnerschlag und ich zucke heftig zusammen. Im nächsten Augenblick räuspert sich der Mann und der merkwürdige Moment ist endgültig vorbei.
»Wie geht's dir?«, fragt er mich. Seine Stimme ist tief, angenehm. Aber sein Blick hält meinen noch immer gefangen und die Frage irritiert mich.
»Wie es mir ... geht?«
Noch immer stehe ich da wie eine Idiotin und kann einfach nicht aufhören, ihn anzustarren. Was stimmt denn nicht mit mir?
»Du bist neu, oder?« Er lächelt. »Zumindest hab ich dich hier noch nie gesehen. Gefällt dir der Job?«
Sein Blick ist wachsam, irgendwie ... lauernd? Als würde da noch etwas anderes mitschwingen, etwas Unausgesprochenes. Als würde er mit seinen Fragen nur etwas zu kaschieren versuchen, was darunterliegt. Innerlich rufe ich mich zur Vernunft. Was denke ich denn da für albernes Zeug? Er ist einfach nur höflich und möchte Small Talk führen. Ich bin hier diejenige, die sich eigenartig verhält.
Ich balle meine zitternden Hände zu Fäusten und reiße endlich meinen Blick von ihm los. Es kostet mich mehr Kraft als erwartet.
»Stimmt, heute ist mein erster Tag«, sage ich und versuche dabei zu ignorieren, dass meine Stimme bebt. Ich setze mich endlich in Bewegung und gehe zum Tisch. Dabei vermeide ich es, den Pfleger ein zweites Mal anzusehen, allerdings kann ich nicht verhindern, dass mir sein Duft in die Nase steigt und sich mit dem allgegenwärtigen Geruch von Desinfektionsmitteln vermischt. »Ist ein Nebenjob, eigentlich bin ich noch Schülerin.«
»Hier am Albert-Einstein-Gymnasium?«
»Jap.« In Sekundenschnelle räume ich das Tischchen ab und schenke der Patientin ein Lächeln, das möglicherweise ein wenig verkniffen wirkt. Dabei stelle ich allerdings fest, dass sie gar nicht wirklich anwesend ist. Ihre Augen sind geöffnet, doch ihr Blick ist leer, starrt an die Decke. »Also dann, man sieht sich.«
Ich stürze fast aus dem Zimmer, und als hinter mir die Tür ins Schloss fällt, lasse ich mich dagegen sinken und atme tief durch. Was um Himmels willen war das denn? Was ist nur los mit mir, wieso hat mich diese Begegnung derart aus der Fassung gebracht? Fahrig wische ich mir mit dem Handrücken über die Stirn, auf der sich feine Schweißperlen gebildet haben. Als aus dem Inneren des Zimmers ein Geräusch ertönt und sich Schritte der Tür nähern, packe ich meinen Geschirrwagen, drehe um und haste über den Gang zurück zum Aufzug. Die Tellerstapel klirren und wackeln bedrohlich, aber ich halte nicht an. Ich höre, dass hinter mir die Tür ins Schloss fällt, höre Schritte auf dem Linoleum, aber ich widerstehe dem Impuls, mich noch einmal umzudrehen, und dann ist es mit einem Mal still. Vorsichtig luge ich über die Schulter zurück, doch der Pfleger ist verschwunden.
»Wie sah er denn aus?«, fragt Emilia, als ich sie beim Spülen unauffällig auszufragen versuche.
»Ziemlich groß, ungefähr in meinem Alter ... vielleicht ein wenig älter. Dunkles Haar, dunkle Augen, hellbraune Haut ...«
Emilia grinst. »Hat er dir gefallen?«
»Was?« Hitze schießt mir in die Wangen. Das ist nun wirklich nicht das, was ich gedacht habe, als ich den Kerl gesehen habe. Er war höflich, und vermutlich sieht er auch ganz gut aus mit seinen markanten Gesichtszügen und den breiten Schultern, und irgendwie riecht er gut, nach Minze und Kaffee und ... das spielt eigentlich keine Rolle. Was ich gefühlt habe, war definitiv was anderes. Eine Art Nervosität. Aber nicht von der guten Sorte. Glaube ich.
Mir fällt auf, dass ich Emilia immer noch nicht geantwortet habe, und ihr Grinsen wird breiter.
»Nein«, würge ich hervor. »Ich meine, ich kenne den doch gar nicht. Ich war nur neugierig.«
Ich senke den Blick auf das Spülbecken und schrubbe die Töpfe brutaler ab als nötig. Meine Gedanken rasen. Etwas an dem Typ hat mich völlig aus dem Konzept gebracht, aber das war mit Sicherheit nicht nur sein Aussehen.
»Und deswegen wirst du so rot?«, bohrt Emilia nach.
Ich stöhne auf und sie lacht.
»Schon gut, ich ärgere dich doch nur ein bisschen. Nach deiner Beschreibung muss das Siath gewesen sein. Und ich versteh deine Reaktion, er ist süß. Zu jung für mich, aber süß.«
»Wie alt ist er denn?«, frage ich und möchte mir noch im selben Moment auf die Zunge beißen.
»Einundzwanzig«, sagt Emilia. »Arbeitet seit bald drei Jahren hier als Pfleger, und er ist verdammt gut in seinem Job. Er brennt dafür, das merkt man. Kümmert sich um die Patienten, auch abseits seiner Verpflichtungen. Soviel ich weiß, hat er auch keine Freundin. Ich kann ja mal dafür sorgen, dass ihr zwei zusammen in der Garderobe eingesperrt werdet.«
Sie wackelt mit den Augenbrauen und ich werfe den Spüllappen nach ihr.
»Untersteh dich!«
Eine halbe Stunde später ist meine Schicht vorbei. Emilia hatte recht, die Heizungsluft hat es geschafft, meine durchnässten Klamotten zu trocknen, und als ich die Klinik um kurz nach acht verlasse, ist mir wohlig warm, obwohl mir kühler Wind ins Gesicht weht. Der Regen hat endlich aufgehört und der Himmel klart ein wenig auf. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen und atme einmal tief durch.
Der Gedanke daran, jetzt in mein Zimmer zurückzukehren, erfüllt mich nicht gerade mit Vorfreude. Dagmar ist nicht da und zu Hause wartet nichts auf mich als ein Stapel Umzugskisten, den ich mir vorgenommen habe auszupacken. Unschlüssig stehe ich ein paar Minuten vor der Klinik herum, bis ich beschließe, zu den Klippen rauszufahren. Seit Conny Verschwinden war ich schon mehrmals dort, und ich weiß selbst nicht, was ich mir davon erhoffe. Aber irgendwas muss ich tun, ich kann nicht einfach rumsitzen und darauf warten, dass sich das Rätsel von allein löst. Die Klippen sind der Ort, an dem sich die Spur verläuft. Ich habe sie auf meinem Zettel notiert und unten im Meer wurde Connys Tasche gefunden, sie hatte sich an einem Felsen verfangen. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, wir müssen in dieser Nacht dort gewesen sein.
Wenn ich irgendwo noch einen Hinweis finden kann, dann da.
Ich steige in den nächsten Bus und an der letzten Haltestelle vor der Innenstadt aus. Restaurants und Bekleidungsgeschäfte erstrecken sich links von mir, rechts davon liegt der Hafen, noch ein Stück dahinter das Waisenhaus, kurz bevor es in die Wohnsiedlungen geht. Der Stadtpark befindet sich rechts von mir. Von dort aus sind es nur etwa zwanzig Minuten Fußmarsch hinaus aus der Stadt und hoch zu den Klippen. Da vor zwei Wochen das Sommerfest in diesem Park stattgefunden hat, ist es immerhin nicht völlig abwegig, dass Conny und ich von dort aus zu den Klippen rausgelaufen sind.
Aber warum?
In Gedanken versunken mache ich mich auf den Weg. Von der Party ist fast nichts mehr zu sehen. Tische und Bänke sind längst abgebaut, die Bühne ebenso. Ein paar vereinzelte Reste von Luftschlangen und Girlanden hängen noch zwischen den Bäumen, sie wurden beim Aufräumen wohl übersehen. Nur wenige Menschen sind heute im Park unterwegs – eine ältere Dame mit Hund, ein Pärchen, eng aneinandergeschmiegt.
Die Luft ist nach dem Sturm frisch und klar, und ich atme tief durch, inhaliere den Duft von Erde und feuchtem Gras und der feinen Note des Ozeans, die zu mir herunterweht. Verzweifelt lasse ich meinen Blick schweifen, nehme jedes Detail meines Weges in mir auf, in der stillen Hoffnung, dabei etwas zu finden oder vielleicht irgendeine Erinnerung auszulösen, doch ... nichts.
Viel zu schnell habe ich den Park durchquert und die Klippen erreicht. Hier oben ist es kälter, der Wind schärfer. Einzelne Strähnen lösen sich aus meinem Zopf und wehen mir ins Gesicht, mein weiter Pullover flattert im Wind. Ich schlinge die Arme fest um meinen Oberkörper, während ich langsam bis zum Rand der Klippe gehe. Meine Schuhe hinterlassen dabei ein schmatzendes Geräusch im nassen Gras. Der Geruch von Fisch und Salz liegt in der Luft, die Schreie von Möwen gesellen sich zum Rauschen des Meeres unter mir.
Mein Puls rast, als ich vorsichtig über den Rand luge. Fast rechne ich damit, Conny dort unten liegen zu sehen, ihren toten Körper, der von den Wellen angespült wurde. Doch dort, viele Meter unter mir, ist nichts als die kleine Bucht und die Wellen, die sich tosend an den Felsen im Meer brechen. Enttäuschung und Erleichterung zugleich machen sich in mir breit.
Wie jedes Mal beginne ich das Gras abzulaufen und nach etwas zu suchen, wonach genau, weiß ich jedoch selbst nicht. Wenn es hier etwas gäbe, hätte es die Polizei längst gefunden, das weiß ich. Aber ich kann es einfach nicht akzeptieren. Ein Mensch kann doch nicht einfach so verschwinden, spurlos.
Fieberhaft versuche ich mich an den Vorabend meines Geburtstages zurückzuerinnern, während ich Stück für Stück die Wiese durchforste.
Conny und ich sind in unserem Zimmer. Gegen zehn fangen wir an, uns für den Abend fertig zu machen. Wir müssen leise sein, denn wir wollen uns heimlich fortschleichen. Ich bin zwar ab Mitternacht volljährig, aber Conny noch nicht.
Es ist vollkommen still auf dem Gang, und nach einem kurzen Blick aus der Tür kommen wir überein, dass wir es wagen können.
Wir trauen uns nicht, das Licht einzuschalten, aber dank des Vollmondes, der direkt in unser Zimmer scheint, können wir mehr als nur Umrisse erkennen, und das sollte genügen. Ich schnappe mir lautlos die Jeans und das Shirt, die ich mir bereitgelegt habe. Wir müssen uns große Mühe geben, bei unserer Aufregung leise zu bleiben. Ich fühle mich einem hysterischen Lachanfall nahe, und Conny scheint sehr mit sich zu kämpfen, um nicht in einen für sie typischen Redeschwall auszubrechen.
Das Shirt, das ich mir extra für diesen Abend gekauft habe, sitzt ausgezeichnet. Es ist schwarz und aus einem dünnen satinähnlichen Stoff, der sich kalt und angenehm auf meine Haut legt und meine Figur sanft umspielt. Einige Stellen des Oberteils werden durch winzig kleine silberne Strasssteinchen betont, und gehalten wird das ganze Kunstwerk durch ein Band, das ich mir im Nacken zusammenknote.
Ich sehe in den Spiegel und finde mich hübsch. Vielleicht liegt es daran, dass im Mondlicht alles weniger detailliert zu sehen ist, oder vielleicht liegt es an meiner guten Laune oder der wunderschönen Kleidung, die ich trage. Aber die nervende Angewohnheit, immer sofort meine selbst ernannten Problemstellen zu betrachten, ist heute Abend verschwunden. Ich sehe nicht die schreckliche Lücke zwischen meinen Schneidezähnen, für die ich mich früher so sehr geschämt habe, dass ich lange Zeit nur mit geschlossenem Mund gelacht habe, oder die kleine Narbe auf meiner Wange, die ich von den Windpocken zurückbehalten habe.
Im Mondlicht sieht meine Haut umwerfend aus, glatt und weiß. Im Mondlicht sehe ich nur ein junges Mädchen mit großen dunklen Augen, silbrig glänzendem schulterlangem Haar und dem schönsten Lächeln, das diese Welt je gesehen hat. Trotz Zahnlücke.
Ich sehe zu Conny, die inzwischen schwarze Leggins und ein pinkfarbenes, langes, eng anliegendes Oberteil ohne weiteren Schnickschnack, jedoch mit einem tiefen Ausschnitt trägt. Farbe und Schnitt des Oberteils passen sehr gut zu ihr. Das Pink bringt ihr volles honigblondes Haar noch besser zur Geltung, und der Schnitt des Tops betont ihre üppigen Brüste. Ich muss mich regelrecht dazu zwingen, meine Augen von ihrem Dekolleté abzuwenden.
»Perfekt«, kichert sie leise, als sie meinen Blick bemerkt. »Wenn das Teil bei dir schon so eine Wirkung erzielt, will ich gar nicht wissen, wie die Jungs das finden werden ...«
Für einen kurzen Moment macht sich ein unangenehmes Ziehen in meiner Magengegend breit. Ich hoffe nicht, dass sie den Abend dazu nutzen wird, sich jemanden aufzureißen. Nicht dass ich prinzipiell etwas dagegen hätte, aber ich möchte mich ungern wie ein fünftes Rad am Wagen fühlen oder im schlimmsten Fall allein nach Hause gehen müssen. Schnell schüttle ich diesen Gedanken ab. Das würde sie mir nicht antun. Vor allem nicht an meinem Geburtstag.
Ich greife in meinen Nacken und löse den Verschluss des Medaillons, das ich schon immer trage.
»Hier«, sage ich und reiche es Conny mit einem Zwinkern. »Damit du nicht so nackt aussiehst.« Es passt wunderbar zu ihrem Outfit. Sie grinst und hängt es sich um den Hals. Ich ziehe mein Handy hervor, hebe es hoch und wir schießen ein Selfie.
»Also dann«, sagt Conny, »machen wir uns davon. Auf einen legendären Abend!«
An dieser Stelle setzt meine Erinnerung aus. Ich habe keine Ahnung, was danach geschehen ist. Natürlich weiß ich, dass wir das Haus verlassen haben und zum Fest gegangen sind, es muss so gewesen sein.
Aber die Bilder sind aus meinem Kopf verschwunden, als hätte jemand den Ordner gelöscht, und meine Erinnerung setzt erst am nächsten Morgen wieder ein:
Ich wachte gegen Mittag auf. Mein Kopf dröhnte, mein Magen rebellierte und mein Hals war trocken und kratzig. Ich versuchte den Abend Revue passieren zu lassen, doch es gelang mir nicht. Da war nichts als Schwärze. Eine Weile lang starrte ich die Wand an und grub in meinen Gedanken nach Erinnerungen. Ich wusste nicht mehr, wie wir nach Hause gekommen waren. Nicht mehr, wie ich ins Bett gekommen war.
Als ich mich umdrehte, um Conny zu fragen, war ihr Bett leer.
Seufzend laufe ich die komplette Klippe ab, doch ich finde nichts, weder hier draußen noch in meinem Kopf. Die Sonne am Horizont hat sich inzwischen dunkelorange gefärbt und versinkt jeden Augenblick im Meer. Die Schreie der Möwen sind verstummt, und so trete ich nach einer Weile enttäuscht den Rückweg an. Mein Herz ist schwer. Ich weiß genau, dass es sinnlos ist, trotzdem komme ich immer wieder hierher.
»Conny«, flüstere ich vor mich hin. »Was hast du nur gemacht?«
Als ich im Park ankomme, ist es bereits dunkel und die Wege werden nur noch von den Straßenlaternen erhellt. Inzwischen ist keine Menschenseele mehr hier und es beginnt wieder zu nieseln. Ich muss mich beeilen, um den letzten Bus zu meinem Viertel zu erwischen, wenn ich nicht den ganzen Weg zu Fuß gehen will. Trotzdem zieht es mich zur Parkmitte hin, an die Stelle, an der vor zwei Wochen die Bühne aufgebaut war. Jetzt, im Halbdunkel, wirkt der Park ganz anders als tagsüber. Nicht nur das Licht ist anders, auch die Geräusche haben sich verändert, sogar der Duft. Irgendwo über mir stößt ein nachtaktiver Vogel einen Schrei aus, vielleicht eine Eule. Neben mir im Gebüsch raschelt es. Eine Sekunde später kommt ein Igel heraus, huscht an mir vorbei und verschwindet in den Schatten.
Ich gehe weiter, bis ich an der gepflasterten Stelle ankomme, in deren Mitte sich der große Springbrunnen befindet und die uns beim Fest als Tanzfläche gedient hat. Ganz anders war der Park an diesem Abend. Dröhnende Bässe, buntes Scheinwerferlicht, das über die Tanzenden hinwegglitt. Musik und Stimmengewirr, Gelächter, die Luft schwer vom Alkohol und Zigarettenrauch.
Mit einem Mal werde ich von Schwindel erfasst. Keuchend beuge ich mich nach vorn und klammere mich am Rand des Brunnens fest. Ich blinzle ein paarmal, doch meine Umgebung beginnt sich zu drehen, die Bilder werden unscharf, verschwimmen direkt vor meinen Augen. Bis ich mich plötzlich inmitten einer anderen Situation befinde, immer noch am selben Ort, doch zu einer anderen Zeit.
Conny steht mit glühenden Wangen neben mir und strahlt über alle vier Backen, während ich kritisch meine Umgebung begutachte.
Ich habe nicht besonders viel für Partys übrig, und die Angst, erwischt zu werden, liegt noch immer wie ein bedrohlicher Schatten über mir, aber ich kann nicht anders: Ich muss breit grinsen. Connys Vorfreude und Begeisterung sind so süß und so ansteckend, dass meine Bedenken immer weiter in den Hintergrund rücken, je länger wir unterwegs sind. Sie reicht mir ein Bier, und so trinken wir, unterhalten uns, reißen Witze und lachen wie alle anderen, als wären wir zwei völlig normale Mädchen in einer für uns völlig normalen Situation. Es ist eine der wenigen Gelegenheiten in meinem Leben, in denen ich mich in der Öffentlichkeit wirklich wohlfühle und nicht wie eine Außenseiterin, denn ich weiß, all die anderen, die hier sind, wissen nicht, wer ich bin und woher ich komme. Heute Abend sind wir ihresgleichen, und ausnahmsweise fühle ich mich normal.
Auf der Bühne steht ein DJ und ohrenbetäubende basslastige Technomusik hüllt mein Hirn in einen Schleier aus dumpfer Gleichgültigkeit.
Conny brüllt etwas in mein Ohr, was ich nicht verstehe, legt ihren Arm um meine Taille und zieht mich sanft in Richtung der Bar, die etwas abseits zwischen den hohen Kastanien aufgebaut wurde. Ich bin wie hypnotisiert.
Ich habe Musik schon immer geliebt, habe aber nie besonders viel eigene Musik besessen, denn sämtliche Streamingdienste sind für mich einfach zu teuer. Umso mehr freue ich mich, wenn ich im Radio zufällig meine Lieblingslieder höre. Aber dies ist kein Vergleich zu der Musik und der Atmosphäre, die ich hier genießen darf. Ich fühle mich wie betäubt, wie in Trance.
Conny bestellt zwei Becher einer dunkelroten Flüssigkeit, und ich frage mich gar nicht mehr, woher sie plötzlich so viel Geld hat oder was das für ein Getränk ist. Ich grinse sie an und wir stoßen unsere Becher aneinander, um sie dann in einem Zug zu leeren.
So ist also das Leben außerhalb von Gertrudis. So ist das Leben von Tausenden von anderen Menschen in dieser Stadt und von Milliarden Menschen auf der Welt.
Tun sie das jedes Wochenende? Immer dasselbe?
Ich frage mich unwillkürlich, ob ich glücklicher wäre, wäre dies auch ein fester Bestandteil meines Lebens.
»Lass uns tanzen«, schreit Conny in mein Ohr, und diesmal verstehe ich sie, da sich mein Gehör langsam an den Lärm gewöhnt. Ich nicke, und wir schieben uns durch die Menschenmassen nach vorn in Richtung der Tanzfläche.
Ich weiß nicht, ob es die hypnotisierende Musik ist oder ob es die vielen Menschen sind, ob es vielleicht die Hitze ist oder das geheimnisvolle Getränk. Ob es die Verbotenheit unseres Tuns oder ob es vielleicht einfach nur Conny ist, die so strahlt und so unendlich glücklich aussieht, dass ich selbst fast weinen muss vor Glück; aber an diesem Abend fühle ich mich so gut, so schön und so unsterblich wie nie zuvor in meinem Leben.
All die Unbekümmertheit und Oberflächlichkeit, all das Glitzern und Lachen und Tanzen, all diese unbedeutenden Kleinigkeiten sind das, was in unserem dunklen, tristen Leben immer gefehlt hat, und es hier vereint auf so engem Raum zu finden ist wie das Paradies für mich.
Conny und ich drehen unsere Runden auf dem Pflaster durch die grellen Lichtblitze und Laser, bis wir nicht mehr wissen, wo oben und unten, vorn und hinten ist, tanzen, bis uns schwindelig wird. Auch als Conny irgendwann verschwindet, tanze ich weiter. Ich gehe auf in der Musik und werde zu einem Teil von ihr. Ich mache mir keine Gedanken darüber, dass ich nie gelernt habe, wie man tanzt, habe keine Angst, dass ich mich vielleicht lächerlich machen könnte, denke nicht an morgen, denn alles ist unwichtig geworden. Nur wir sind wichtig. Nur heute Abend ist wichtig.
Ich bin glücklich.
Ich weiß nicht, wie lange ich schon tanze und wie viele Becher von dem roten Getränk ich inzwischen schon getrunken habe. Drei? Vier? Mein Gesicht fühlt sich rot und heiß an, meine Hände warm und verschwitzt. Meine Lunge brennt von all dem Rauch, den ich einatme, und meine Füße schmerzen in den ungewohnten hohen Schuhen. Und dennoch ging es mir nie besser.
Die Menschen um mich herum nehme ich als undeutliche dunkle Schatten wahr, die sich durch das blitzende Licht des Stroboskops wie Roboter zu bewegen scheinen. Plötzlich erblicke ich Conny wieder in der Menge, erst als undeutlicher Schemen, aber als sie tanzend näher kommt, erkenne ich ihr Gesicht, das noch immer leuchtet. Sie ist wunderschön.
Ich vermute, dass sie wieder mit mir zur Bar gehen will, doch sie sagt kein Wort, sondern strahlt mich nur mit ihrem wärmsten Lächeln an und legt ihre Arme um mich, und so tanzen wir zu zweit. Als ihr Gesicht näher kommt, weiche ich nicht zurück, sondern warte auf sie. Als ihre Lippen sich sanft auf die meinen legen, schließe ich die Augen und gebe mich hin, Conny, der Musik, diesem Moment. Die Frage, ob das, was wir tun, richtig oder falsch, merkwürdig oder gar verboten ist, stelle ich mir gar nicht.
Connys rechte Hand liegt fest auf meiner Taille und presst meinen Körper sanft, aber bestimmt an ihren, ihre weichen, vollen Brüste drücken gegen meine. Mit ihrer linken Hand greift sie in mein Haar und ich schlinge meine Arme um ihren Hals, während ich die Lippen leicht öffne und sie ihre Zunge dazwischenschiebt.
So stehen wir inmitten der Tanzfläche, wiegen uns sanft im Takt der Musik, klammern uns aneinander fest wie zwei Ertrinkende, küssen uns mit der Hingabe zweier Liebender, und in diesem Moment wird mir bewusst, dass ich sie tatsächlich liebe.
Unwichtig, ob sie mich auch liebt, unwichtig, wie echt meine Liebe ist. Ich habe getrunken und mein Geist ist benebelt. Möglich, dass wir uns morgen schämen. Möglich, dass ich mich morgen frage, wie ich jemals so für sie fühlen konnte, wie ich im Moment für sie fühle. Aber deshalb ist meine Liebe trotzdem echt, ist sie ganz aufrichtig und so ehrlich, wie sie in diesem Moment nur sein kann.
Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken.
Es gibt Dinge, die kann man zerdenken, hat Conny einmal gesagt. Die Liebe sei eines davon. Man könne so lange darüber nachdenken, warum und ob und auf welche Art man einen Menschen wirklich liebe, das Ganze so lange rationalisieren und zerpflücken, dass am Ende nichts mehr übrig bleibt als die reine Vernunft.
Es spielt keine Rolle, woher ein Gefühl kommt.
In dem Moment, in dem es gefühlt wird, ist es echt.
Und in diesem Moment fühle ich, dass ich Conny von ganzem Herzen liebe, schon immer geliebt habe, und habe ich vor wenigen Minuten noch gedacht, dass ich nicht glücklicher sein könnte, weiß ich nun, dass ich es definitiv doch sein kann.
Nach einer Zeit, die mir wie die Ewigkeit vorkommt, löst meine Freundin sich von mir. Ihre Augen funkeln.
»Komm«, sagt sie, »wir holen uns noch einen Drink.«
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