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Vier Tage später
Die Luft war klar frisch, die Sonne schien ... doch Theresa konnte sich gerade an rein gar nichts mehr erfreuen.
Die letzten Tage hatte sie sich nur in ihrem Bett verkrochen, ihre Knie festgehalten, war lediglich heute Morgen dann aufgestanden um kurz einkaufen zu gehen. Denn sie hatte nichts mehr zu Hause gehabt, was ihr derzeit über empfindlicher Magen vertrug.
Es hatte ihr gut getan. Nun, immerhin insoweit dass sie sich dann heute endlich wieder aufrappeln konnte um die nächsten notwendigen Schritte zu planen. Denn es nutzte nun alles nichts mehr. Sie war ungewollt schwanger und der Vater ihres Kindes, der erste und einzige Mann in ihrem Leben, mit dem sie tatsächlich geschlafen hatte, war tot.
Das musste sie nun wohl oder übel akzeptieren und weiter machen. Also hatte sie heute endlich das Telefon in die Hand genommen um bei sage und schreibe dreizehn Gynäkologen anzurufen.
Denn die Zeit drängte ja nun.
Gott im Himmel...
Es schien fast so, als ob es in Deutschland keine Ärzte mehr geben würde. Zumindest nicht mehr für neue Patienten.
War das so, weil Gott da oben ihr nun irgendetwas mitteilen wollte?
Sie blickte kurz zittrig durchatmend zu den träge dahinziehenden Wolken hinauf, derweil sie nun weiter total steif und taub anfühlend am Flussufer entlang lief und nur noch versuchte wieder zur Ruhe zu kommen ... doch es viel ihr schwer.
Ihr war immer noch eiskalt.
- Und sie bereute den Anruf in Spanien.
Bereute es auch, dass sie die trauernde Familie durch ihren Anruf nun sicher total aufgeschreckt und entsetzt hatte.
Sie sollten ihren geliebten Bruder und Sohn vielleicht auch Enkel und Urenkel doch besser in guter Erinnerung behalten. Und nicht nur wegen ihr Sorgen oder sogar auch noch Ärger empfinden müssen.
Nein.
Das wollte sie ganz und gar nicht.
Sie musste nun also wohl ganz allein eine Lösung für sich finden. Musste erwachsen handeln.
Doch das viel ihr gerade echt unglaublich schwer.
Sie war ja kaum aus der Schule raus und das erste Semester an ihrer Uni würde schon in drei Wochen beginnen. Sie hatte auch erst für übernächste Woche einen Termin bei dem Frauenarzt erhalten. Und das auch nur deshalb, weil sie gesagt hatte sie sei erst neunzehn, ungewollt schwanger, es gäbe auch keinen Vater und sie wollte ... nein, musste nun ganz schnell abtreiben lassen.
Daraufhin war es kurz still in der Leitung gewesen und dann hatte sie aber doch noch einen früheren Termin erhalten und außerdem noch die Empfehlung, sich bei einer Beratungsstelle für Missbrauchsopfer zu melden.
Dazu ein paar Nummern und Namen von Organisationen und Selbsthilfegruppen...
Lieber Himmel!
Hatte sie denn wirklich so schlimm geklungen?
Und sollte sie denen etwa wirklich sagen, dass es Missbrauch war?
Es war anscheinend selbst in Deutschland recht schwer diesen Weg zu gehen und ein Kind abtreiben zu lassen. So viele Beratungen und Vorgespräche ... das hatte sie am Laptop gelesen. Doch wenn man einfach sagte, dass es Missbrauch war, wurde man damit wohl in Ruhe gelassen.
Doch... sie war sich ja auch immer noch nicht sicher ob sie überhaupt abtreiben sollte.
War das denn richtig, wenn Marco nun auch noch tot war?
Und Gott musste doch sicherlich einen Grund dafür gehabt haben, dass sie nur von dem einen Mal sofort schwanger geworden war, oder?
- Ja.
... Es musste einen Grund für all das geben. Es ergab sicherlich irgendwann auch für sie noch einen höheren Sinn. Etwas von Marco sollte wohl noch in dieser Welt bestehen bleiben. Von dem netten, lustigen und gutaussehenden Marco...
Aber ... sie war doch nun mal erst 19 Jahre alt. Noch kaum richtig erwachsen. Sie verdiente noch nichts, hatte keine Eltern oder Verwandten mehr, ihre Oma war auch schon gestorben und eine Ausbildung hatte sie auch noch nicht um sich und ein Kind nun irgendwie versorgen zu können.
So konnte sie doch jetzt unmöglich schon Mutter werden.
Sie hatte sich doch nicht die letzten Jahre so sehr den Arsch aufgerissen und die ständigen Demütigungen und Beleidigungen ihrer Mitschüler ertragen, um jetzt nur noch Sozialhilfe zu beantragen und ihr Leben quasi wegzuwerfen?!
Nein, ... nein, nein!
Sie konnte es einfach nicht behalten. Sie musste abtreiben. Vor allem jetzt, wo es ja auch keinen Vater mehr dazu gab.
Ja.
Sie musste vor dem Frauenarzttermin also doch noch zu einer Beratungsstelle gehen. Musste denen ja nicht besonders viel erzählen, außer dass sie in Spanien gepilgert war, einen Abend zu viel Wein in einem Orangenhain getrunken hatte, davon betrunken gewesen war ... und sich nun noch nicht einmal mehr daran erinnern konnte überhaupt Sex gehabt zu haben ...
Das war ehrlich und die Wahrheit... nur mit ein paar Auslassern wie: Der Kindsvater ist übrigens nun tot und hatte einen Hirntumor!
Herrgott... das konnte sie doch niemandem erzählen! Wer würde sowas glauben. Am Ende würden die Behörden oder die Organisationen noch ein Fass aufmachen und Marcos Familie doch noch mal behelligen. Nein... das konnte sie diesen Menschen einfach nicht antun.
Marcos Bruder...
Er war so lange still geblieben, als sie ihn darum gebeten hatte Marco sprechen zu dürfen. Nur seine schweren Atemzüge waren zu hören gewesen ... vier lange, angespannte Atemzüge.
Er hatte in dem Moment sicherlich mit seiner Trauer und um seine Fassung gerungen.
Da war jemand, der seinen Bruder sprechen wollte, eine junge Frau, die ihn vor wenigen Wochen noch gekannt und mit der er sogar auch noch eine Nacht geschlafen hatte.
Er hatte ihm von ihr erzählt, hatte es schwer bereut, bis zum Schluss...
Gott!
Sie atmete tief tief durch und wischte sich die schon wieder überlaufenden Tränen mit dem Hemdsärmel ab.
Vielleicht war das alles wirklich nur wegen seiner Krankheit so geschehen. Er war zuvor immer so nett, freundlich und zurückhaltend gewesen. Aber der Alkohol und sein Hirntumor ... hatten ihn dann dazu veranlasst, ... sie zu...
Sie kniff die Augen zu und blieb abrupt stehen weil ihr Herz mal wieder zu rasen begann.
Das konnte sie ihm einem Toten nicht mehr in die Schuhe schieben.
Denn er konnte sich jetzt nicht mehr dazu äußern. Weder im positiven noch im negativen Sinne.
Haaach...!!!
Und sie konnte sich tatsächlich auch nicht sicher sein, ob nicht doch sie auf ihn zugegangen war. Im Vollsuff ...
Er war ja schließlich bis dahin auch niemals irgendwie übergriffig geworden.
Und sie selbst hatten auch immer einen gewissen, Abstand zueinander gehalten. Schließlich war er nur eine Urlaubsbekanntschaft, lebte in Spanien und sie selbst in Deutschland. Auch wenn sie sich vielleicht zuletzt doch ein klein wenig in ihn verguckt gehabt hatte, weil er einfach von sich aus so ritterlich und nett gewesen war und auch noch so extrem gut ausgesehen hatte.
Sie hatte aber ehrlich nie auch nur daran gedacht, so etwas ernsthaftes daraus erwachsen zu lassen.
Also hatten sie auch noch auf der Picknickdecke extra weit auseinander gesessen und sich einfach nur darüber unterhalten, was ihr nächstes Reiseziel sein würde.
Sie hatte ihm von Oma erzählt und ihrem Traum, nur einmal im Leben den Jakobsweg zu gehen. Den Traum, den sie nun anstatt ihrer Oma verwirklichte, ... ihr zu Ehren.
Marco hatte das an ihr bewundert.
Er hatte gesagt, es gäbe nicht mehr viele junge Menschen, die noch so viel auf die Familie hielten.
Sie hatten Glas um Glas von dem süßen Jungen Wein getrunken, der wirklich fast wie Traubensaft schmeckte. Ein noch junger Wein mit wenig Alkoholgehalt, hatte Marco ihr sogar mehrmals versichert.
Sie hatten über religiöse Werte und die nächste Route gesprochen und Marco hatte ihr von seiner eigenen Abuela mütterlicherseits erzählt.
Er hatte sie allerdings schon früh verloren.
Mit keiner Silbe hatte er dabei seinen eigenen kurz bevorstehenden Tod erwähnt.
Nein!
Mit keiner Silbe, hatte er ihr gesagt, dass dies seine letzten Tage und Wochen auf dieser Welt waren.
Im Nachhinein gesehen betrachtete sie es nun sogar als eine Ehre, dass er mit einer ihm so vollkommen Fremden Person seine letzten Tage hatte verbringen wollen. Aber dann wiederum fiel ihr ein, dass sie tagsüber ja beide immer nur alleine gewandert waren, jeder für sich, schweigend, den eigenen Gedanken nachhängend. Vielleicht war es ja nur ihre Ruhe gewesen, die ihn letztlich angezogen hatte.
Sie verlangte nichts von ihm oder der Welt.
Sie wollte auch nichts von ihm. Wusste nichts von seiner Krankheit und machte sich auch deshalb keine Sorgen um ihn oder bemitleidete ihn sogar. Darum war er wohl letztlich auch noch länger in ihrer Nähe geblieben.
Sie war für ihn wohl das Sinnbild von normal gewesen, unwissend und freundlich.
Und doch ... sie bereute diese Nacht in Gijõn.
Sie bereute sie sogar sehr.
Wäre sie doch nur nach dem dritten Glas aufgestanden und wieder hinunter in die Stadt gelaufen, zu dem gebuchten Zimmer in diesem Pilger-Haus.
Sie hatte es noch gewollt, ... doch er hatte sie gebeten, noch ein bisschen länger da zu bleiben.
Ja.
Daran erinnerte sie sich noch.
Die Sterne waren so schön gewesen, dass Kerzenlicht verzaubernd, die Stimmung friedlich.
Weder anzüglich, noch gefährlich, noch romantisch ...
Also, warum war dann letztlich so passiert?
- Wie nur...?
Sie erinnerte sich wirklich nicht mehr daran.
Nur noch an seine Hand auf ihrer Wange, als er sie fast lachend... oder war das auch lallend... fragte ob sie schon betrunken sei ...
Dann wieder seine Augen... als er sie angesehen hatte und schließlich... hatte sie ihn ... oder nein, ... hatte er sie ... geküsst?
Es waren nurmehr so winzige verschwommene Bruchstücke, keine zusammenhängende Erinnerung mehr.
Aber sie hatte nicht eine Sekunde lang Angst vor ihm gehabt und er hatte ihr auch nicht wehgetan.
Ja.
Eine irrsinnige Romanze unter Alkoholeinfluss.
So musste es gewesen sein.
Und dann, am nächsten Morgen, war sie dann aber halb nackt aufgewacht sie trug nur noch ihr T-Shirt und darunter das Bustier ... und der Morgentau lag auf ihr und auch der Decke. Das war unangenehm gewesen.
Ab da hatte sie dann einfach nicht mehr nachgedacht, nichts mehr überlegt, einfach nur so schnell wie möglich ihr Zeug gepackt und sich angezogen, derweil Marco verwirrt aussehend und viel langsamer als sie dasselbe tat.
Hatte er sich da nicht auch immer wieder den Kopf gehalten und das Gesicht verzogen...? So als hätte er plötzlich arge Schmerzen?
Gott.
Sie hatte es für einen Kater gehalten...!
Doch er hatte zunächst noch nicht mal mehr ein Wort herausgebracht, genauso wenig wie sie ja auch nicht.
Sie erinnerte sich sogar noch an den einen Moment, als sie ihre kurze Jeanshose fand, hastig reinstieg und hochzog und den Reißverschluss eilig schloss, da er mit riesengroßen Augen vor der weißen Picknickdecke kniete und total entsetzt auf den kleinen Blutfleck darauf starrte. Dort, wo sie zuvor gelegen hatte.
Das Zeichen ihrer vergangenen Jungfräulichkeit.
Sie wäre sich am liebsten sofort irgendwo vergraben gegangen. Hätte einfach so im Boden versinken mögen - Rutsch und weg.
Und genau so erging es ihr jetzt auch wieder, sogar schon seit vier Tagen.
Die Peinlichkeit dieser makaberen Situation bereitete ihr eine megadicke Gänsehaut.
Sie hatte bei einem Toten angerufen um ihm zu sagen das er Vater werden würde... und sein Bruder war rangegangen.
Nein... die Fettnäpfchen hörten nun nach ihrem Abitur tatsächlich nicht auf, sich vor ihr auszubreiten. Und nur darum ging sie nun schniefend und immer noch mit den immer wieder überlaufenden Tränen kämpfend, völlig durchgedreht und rastlos fühlend, am Fluss entlang spazieren und versuchte einfach nur zu atmen und ihre Fassung endlich zurück zu gewinnen.
Denn die Leute in Spanien kannten sie ja zum Glück gar nicht. Sie hatten sie nie gesehen und würden sie auch niemals sehen.
Vielleicht sollte sie es nun einfach als Gestohlen melden, eine neue Simkarte beantragen, und das auch gleich mit einer neuen Nummer...
Ja.
Marco hatte ihre Nummer nicht gehabt. Doch sein Bruder hatte sie nun.
Ach - Shit. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht...? Sie konnte ihn doch auch einfach nur blockieren.
Hätte sie doch nur die Zeit zurückdrehen können, an den Anfang ihrer Pilgerreise... nach drei, vier Tagen unterwegs mit den ersten Blasen und Muskelkater im Gepäck, war sie ruhig geworden. Ja, sie hatte Frieden in sich gefühlt.
Sie war da, wo Oma immer hatte sein wollen und es war gut so.
Doch seit dieser Nacht war ihre Ruhe dahin. Ebenso das friedliche Gefühl Oma tatsächlich noch ein Stück auf ihrem Weg in den Himmel begleitet zu haben.
Sie war auf den Pilgerpfad zurückgekehrt, ja das schon.
Sie war einfach weitergelaufen, ohne Marco und nun auch ganz ohne andere Leute, die sie vielleicht noch unterwegs hätte kennen lernen können ... weil sie sich das dann nicht mehr getraut hatte. Sie war für sich geblieben, bis zum Ende des Jakobsweges.
Doch es war schon zu spät ...
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