1. Das verrückte Trio
Clara lernte Lucia am Abend des 7. Dezembers kennen.
Sie war damals nur ein Mädchen gewesen, das vergessen hatte, das Geburtstagsgeschenk für ihre Mutter abzuholen und jetzt durch die dunklen Straßen hetzte, hoffend, dass der Buchladen trotz der späten Uhrzeit noch offen hatte.
Und Lucia war damals lediglich eine Praktikantin, die, in ihr Buch vertieft, vergessen hatte, den Laden abzuschließen.
Beide waren sich auf Anhieb sympathisch und nachdem Clara ihr mehrere Male ihren Nachnamen buchstabiert hatte ("N-i-e-d-e-r-n") und Lucia endlich das Geschenk gefunden hatte (Die erste Staffel von Doctor Who, also die allererste!) waren sie schon lange in ein Gespräch verwickelt.
Lucia hatte einen Vater, der irgendwas mit Hotels machte, worüber genau schwieg sie aus und einen Bruder, der aber seit sie vierzehn wurde, auf und davon war.
Ihre Mutter war schon lange tot, durch einen tragischen Unfall in einem Sägewerk von Baumstämmen überrollt. Lucia konnte sich kaum an sie erinnern.
Clara war anfangs überrascht, wie viel Lucia schon nach so kurzer Zeit von sich Preis gab, aber sie verstanden sich so gut, dass auch Clara etwas von ihrem Leben erzählte.
Eins führte zum anderen und plötzlich fiel Clara siedendheiß ein, dass sie den Zug inzwischen längst verpasst hatte.
"Ich kenne jemanden, der dich fahren würde!", sagte Lucia fast sofort und verstummte dann erschrocken.
"War das jetzt zu aufdringlich?", fragte sie zögernd. "Ich meine, natürlich, nur wenn du möchtest und so. Ich würd mich natürlich freuen und..." Sie wurde immer leiser und das Ende des Satzes wurde zu einem Nuscheln. Sie starrte angestrengt in eine Ecke und wurde rot.
Clara war von dem Angebot überrascht. Sie hätte höchstens erwartet, dass Lucia ihr angeboten hätte, sie selber nach Hause zu fahren, aber wie sie später erfuhr, besaß die junge Halbitalienerin noch gar keinen und es sollte zwei Jahre dauern, bis sie sich endlich dazu überwand.
"Also, auf Anhieb fällt mir nichts ein.", begann sie zögernd. "Aber ich will Dir auch keine Um..."
"Das ist gar kein Problem!", versicherte Lucia hastig und ihre Augen strahlten. "Ich muss hier nur noch schnell abschließen!"
Als sie hinter den Verkaufstresen hervorkam, hatte Clara das erste Mal die Gelegenheit, sie richtig zu mustern.
Lucia war ein Durchschnittstyp. Sie war etwas größer als normal und trug weite, jungenähnliche Klamotten, die sie sehr rundlich erschienen ließen.
Sie hielt sich so, als versuche sie unscheinbar zu sein, aber ihre Augen strahlten ununterbrochen eine unterdrückte, kindliche Freude aus.
Jetzt schloss sie hastig die Ladentür ab, ließ die Jalousien herunter und gemeinsam verließen sie den Laden durch die Hintertür.
Während sich die Beiden auf den Weg machten, tauschten sie Vermutungen über eine mögliche Weltherrschaft der Fische aus. Dabei stützten sie sich ausschließlich auf die unvollständige Erforschung des Ozeans, das Bermuda-Dreieck, sowie auf eine Folge Doctor Who und Star Wars Episode IV.
Grund der Diskussion war die Behauptung Claras gewesen, Lucia wäre in einem Paralleluniversum des Massenmordes angeklagt worden, als sie erfuhr, wieviele Zierfische ihre neue Freundin versehentlich getötet hatte. Das letzte Mal hatte sie ein Aquarium zerbrochen und die Fische vor Aufregung in mit Kohlensäure versetztes Wasser verlegt.
Zu Beginn ihres nächtlichen 'Spaziergangs' hatten sie spontan beschlossen, nicht auf den großen Hauptstraßen zu bleiben, sondern nach alteingebrachten Klischees schmale Nebengassen zu benutzen.
"Hier passiert sowieso nie was!", versicherte Lucia. "Görlitz ist eine Rentnerstadt und außerdem ist es hier schneller!"
Naja, es gab immer ein erstes Mal.
Gerade als die beiden in eine der genannten Gassen einbogen, waren sie bei der philosophischen Frage angekommen, ob ein Oktopus im Anzug attraktiver aussehen würde.
Clara konnte sich im Nachhinein nicht an den Ursprung des Gesprächs erinnern, denn plötzlich bemerkte sie einen Pfeil, der in der Hauswand steckte. Geistesgegenwärtig hielt sie Lucia am Kragen fest, als diese, in ihre Auslegungen über Anzugfarben der Oktopusse vertieft, um ein Haar dagegen gelaufen wäre.
Das Gesicht, das sie machte, als sie realisiert hatte, in was sie da beinahe reingelaufen wäre, war Gold wert. Auf alle Fälle reichte es, um ihrer neuen besten Freundin einen Lachkrampf zu bescheren, die rechtzeitig zu Seite ausgewichen war. Denn im Gegensatz zu ihr hatte sich Lucia vor Schreck erst einmal hingesetzt. Als die sich von Schock erholt hatte, rappelte sie sich würdevoll auf und warf ihrer Begleiterin einen niederschmetternden Blick zu. Dann stimmte sie aber in das Lachen mit ein und zog den Pfeil aus der Wand.
Immer noch glucksend tappte das brünette Mädchen weiter die abgedunkelte Gasse entlang.... und knallte mit voller Wucht in einen schwarz gekleideten Mann. Erschrocken taumelte sie zurück und starrte in sein Gesicht. Er sah die beiden nur flüchtig an und zischte:
"In Deckung, ihr Beiden, sofort!" Dann schob er Lucia hinter ein Auto und verschwand am Ende der Gasse.
Clara starrte ihm mit offenem Mund hinterher.
"Hast du das gesehen??", hauchte sie hingerissen. Lucia starrte sie an:
"He's a Pirate!", wisperte sie aufgeregt und hielt sich automatisch ein Auge zu.
"Was?" Clara war für einen Moment verwirrt, bis ihr einfiel, was die Andere meinte. "Nein, er hatte eine Waffe!"
Trotzdem schoss ihr automatisch die Melodie von Hans Zimmers Meisterwerk durch den Kopf.
Lucia zog sie neben sich hinter das Auto und zeigte nach vorne:
"Ein Abenteuer!", quickte sie begeistert. Zwei weitere Männer kamen aus einer Tür, die in die Gasse führte. Jeder der Beiden hielt eine große Waffe in den Händen. Und sie liefen direkt auf die Mädchen zu.
~¤~
Die Zwei umklammerten sich fest. Weniger aus Angst, als vielmehr vor Aufregung. Beide fühlten sich wie in einen Film versetzt. Die beiden Männer bemerkten sie nicht, sondern liefen am Versteck vorbei. Jetzt standen sie so, dass sie nur leicht über die Schulter sehen mussten, um die Beiden zu bemerken. Bevor das allerdings passieren konnte, kam wie aus dem Nichts ein zweiter Pfeil angeschossen, der sich in Schulterhöhe neben den Männern in die Hauswand bohrte. Ein Zischen ertönte, als sich der Schaft öffnete und weißer Dampf hervortrat. Binnen Sekunden sanken die beiden Fremden zu Boden.
"INDIANER!", quietschte Lucia nach einer Pause der Verblüffung, bevor sie von ihrer vernünftiger denkenden Begleiterin mitgezehrt wurde. Die zwei Mädchen verließen fluchtartig die Gasse und rannten die spärlich beleuchtete Straße hinunter. "Wohin?", fragte Clara keuchend. Sie hatte keine Ahnung, wo genau sie waren.
"Einfach geradeaus!", japste Lucia und sie hetzten weiter.
Zehn Meter weiter riss sie sich aber los:
"Sag mal, spinnst du eigentlich? Wir hätten das Abenteuer unseres Lebens gehabt, wenn wir geblieben wären!", schrie sie. "Wir wären Winnetou begegnet!"
Clara lehnte sich nach Luft schnappend an eine Hauswand. "Wenn das Winnetou gewesen wäre, wäre ich doch nicht weggelaufen!", meinte sie lachend. "Aber der cheatet doch nicht!"
"Und er ist tot!" Lucia setzte sich neben sie auf den Boden. "Ich hasse Karl May!"
"Ich auch." Clara wandte sich ihr wieder zu. "Wie weit ist es noch? Langsam wirds mir echt zu spät!" Lucia stand immer noch keuchend wieder auf:
"Wir sind gleich da."
~¤~
Tatsächlich standen sie schon nach ein paar Minuten vor einer Wohnungstür in einem offenbar frisch saniertem Haus. Bevor Lucia den Klingelknopf betätigen konnte, ging die Tür auf und völlig verschlafener älterer Junge stand auf der Schwelle:
"Man hört euch schon von der Straße!", stöhnte er und rieb sich die Augen. Er schien noch mitten im Wachstumsschub zu stecken, so dünn war er.
"Oh, haben wir dich geweckt?", fragte Clara erschrocken. Sie vermutete, dass das Damian war, laut Lucias Berichten fast sowas wie ein zweiter Bruder für sie.
"Neee!", dehnte der Junge schläfrig. Gut, 'Junge' war nicht ganz angebracht, er sah etwas älter aus als sie, also ungefähr zwanzig.
"Hab gezockt. Ich warte ja noch auf Rox!"
Er hörte auf, sich an der Türklinke abzustützen und stellte sich gerade hin, als er sie bemerkte.
"Damian!", stellte er sich kurz vor. Also wie sie gedacht hatte.
"Clara", gab sie zurück und Damian lächelte schief.
Lucia starrte sie an:
"Ich hätte dich jetzt mit 'Maria' vorgestellt!", sagte sie verdutzt.
"Ich habe NIE gesagt, dass ich 'Maria' heiße!" Jetzt war es Clara an der Reihe, verwirrt zu gucken.
Damian lachte:
"Sie denkt sich die Namen imnmer nach Aussehen aus!", erwiderte er.
"Ich brauchte Wochen, bis sie akzeptiert hatte, dass ich nicht Matthias heiße."
Dann wandte er sich Lucia zu.
"Und was wollt ihr so spät hier!", fragte er.
Lucia riss schuldbewusst den Arm hoch.
"Sie hat wegen mir ihren Zug verpasst!", gestand sie.
Damian warf den Kopf zurück und brach in lautes Gelächter aus.
"Das toppt so einiges!", prustete er, dann sah er Clara entschuldigend an: "Das tut mir leid für dich. Ich fahre dich gerne nach Hause!"
Dann stockte er ungläubig:
"Ist das ein Pfeil?"
Lucia schien die Frage als Einladung zu betrachten, ihn Damian direkt unter die Nase zu halten.
"Ein PFEIL!", flüsterte sie verschwörerisch und fuchtelte damit herum.
Damian packte sie an den Hüften, hob sie hoch und trug sie ins Wohnzimmer. Sie schrie auf und klammerte sich an ihm fest. Am Zielort angekommen stellte er sie in die Mitte des Raumes: "Du hast die Tür versperrt.", sagte er nur und ging wieder raus, um sie zu schließen.
Clara kam vorsichtig hinter ihm her in die Wohnung gelaufen.
Das waren die merkwürdigsten und dabei freundlichsten Personen, die sie bisher getroffen hatte.
Lucia, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte, drehte sich zu ihr um.
"Ich hab Hunger!", jammerte sie und zeigte auf ein Aquarium. "Darf man die essen?"
"NEIN!!", donnerte Damian durch den Raum. "Die kann man gar nicht essen du Dummi!"
"Man kann ALLES essen, Dödel; außer es ist zu hart!", fauchte Lucia ihn an. "Außer Katzenfutter! Das ist eklig."
"Trocken oder nass?", warf Clara ein. Langsam bekam sie das Gefühl, dass solche Unterhaltungen hier an der Tagesordnung waren.
"Man könnte sie runterzutschen... wie Spaghetti!", Lucia schien von ihrer Idee des Zierfischdessert begeistert. "Lucia, NEIN!" Damian sah sie warnend an. Sie hob beschwichtigend die Hände. "Ist ja gut! Wann wollte... ah das muss sie sein! "
Alle lauschten dem Klirren des Schlüsselbundes und dem Knirschen des Schlosses, als es langam geöffnet wurde. Fast zeitgleich ging in Lucias Hosentasche das Handy los und spielte den 'Imperial March' ab.
"Roxy!", rief Damian erleichtert aus.
Im Flur erschien ein Mädchen, dass die eins achtzig schon längst hinter sich gelassen zu haben schien. Sogar Damian wirkte neben ihr klein.
Lucia winkte abwesend die Hand und hörte in ihr Handy:
"Ja? Achso,... Ja, ich komm bald nach Hause!... Nein, ich treibe mich nicht in Nachtclubs rum.... Ich bin bei Damian. ...Was soll das heißen, das ist dasselbe?... Moment! ...Damian ist Zuhälter????..."
Damian nahm ihr lachend das Telefon ab: "Grüß Gott, Papa Moser! Nein ich werde deine Tochter nicht abfüllen, obwohl sie es nach der Aktion mit den Fischen verdient hat!... Ist gut, ich bring sie gleich nach Hause! ... Moment, deine Tochter will ihr Handy wiederhaben und springt deswegen an mir hoch! Sicher, dass ihr sie nicht doch aus dem Tierheim habt?"
Er horchte ein paar Sekunden in den Hörer und lachte dann auf:
"Ja, gut wir reden dann später! Man sieht sich!"
Er legte auf und hielt das Handy in die Höhe. Erwartungsvoll sah er Lucia an:
"Spring!"
Diese zog verzweifelt wimmernd an seinem Arm und jammerte: "Meins, meins, meins..."
Roxy machte dem Ganzen ein Ende, indem sie sich einmal reckte und Damian das Handy abnahm.
"Man ärgert keine kleinen Mädchen!", rügte sie ihn.
Dann lächelte sie Clara an und umarmte sie als Begrüßung. Egal wie selbstbewusst und überlegen Damian auftrat, der Blonden wurde klar, dass in Extremsituationen Roxy das Kommando hatte.
"Nein!", donnerte Damian. "Ich habe Papa Moser versprochen, dass ich dich nocht abfülle und dich in völlig nüchternem Zustand bei ihm absetzte! Schließlich bin ich hier Georgersatz!"
"Georg ist blöd!", sagte Lucia trotzig. "Wir hassen Georg!"
"Ich kenn ihn doch gar nicht.", warf Clara ein. "Musst du nicht. Hauptsache du hasst ihn!"
Damian packte Lucia am Arm und schleifte sie nach draußen.
"Soll ich dich auch heimbringen?", rief er Clara über die Schulter zu. "Du musst mir dann nur sagen, wo du wohnst!"
"Vertrau ihm nicht, er ist Zuhälter!", schrie Lucia aus dem Treppenhaus.
"Nur Montags!", brüllte er zurück. Roxy stubste Clara an.
"Normalerweise sind sie nicht so schlimm.", meinte sie.
Clara merkte auf einmal, wie sehr ihr die Stimmung hier gefiel, die die drei noch so Fremden verbreiteten.
"Schade!", seufzte sie von Herzen. Die drei gefielen ihr!
~¤~
Über den Dächern der Stadt kehrte der Quinjet nach erfolgreicher Mission in die Hauptzentrale zurück
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