Operation 12: Refugium
Es war mitten in der Nacht als das Auto endlich langsam die Einfahrt hochholperte. Enzio schlief fest in seinem Kindersitz auf der Rückbank und Sharon saß mit geschlossenen Augen auf dem Beifahrersitz.
Zweieinhalb Tage lang waren sie unterwegs gewesen und hatten sich am Steuer abgewechselt.
Jetzt fielen Georg fast die Augen zu und er hoffte nur noch, dass er richtig eingeparkt hatte, ohne dabei die Zwergsträucher, die den Parkplatz säumten, zu Kleinholz zu verarbeiten, und stellte den Motor ab.
Schlaftrunken öffnete Sharon die Augen und blinzelte.
"Sind wir da?", murmelte sie und richtete sich auf.
Georg sah zu dem kleinen Häuschen hoch, das seit einiger Zeit zu seinem Zuhause geworden war und fühlte sich das erste Mal seit langem froh. Auch wenn sein Architektenherz innerlich blutete, weil sein Vater darauf bestanden hatte, es in der Art der alpinen Berghäuser zu bauen, was in der nordamerikanischen Parklandschaft mehr als merkwürdig aussah. Die weiß getünchte Front schimmerte perlumuttfarben im Mondlicht und die holzvertäfelte obere Hälfte wirkte dadurch umso dunkler. In der unteren Etage leuchteten plötzlich zwei Fenster auf, ein sicheres Zeichen dafür, dass die ukrainische Haushälterin den Motor gehört hatte.
Herr Moser hatte ihr und ihrer sechzehnjährige Tochter Daryna das Haus vermietet unter der Bedingung, dass Georg dort mit einer geringen Beteiligung wohnen könnte. Die beiden waren ihm ans Herz gewachsen und Madame Rudenkos Herzlichkeit und Darynas halbherzige Rebellion gegen ihre Mutter waren der Hauptgrund dafür, dass Georg gerne zurück kam.
"Hmh!", machte er, als ihn die Müdigkeit wieder überkam, rieb sich den Kopf und stieß schwach die Autotür auf.
"GEORG!", schallte eine definitiv weibliche und definitiv ausländische Stimme zu ihnen herüber, unangenehm laut in der Stille der Nacht und ließ Georg erschrocken zurückschauen. Die Haustür stand offen und eine weibliche Person mit beträchtlichen Körperumfang schoss wie ein Torpedo auf sie zu.
Enzio wachte in seinem Sitz auf.
"Georg!" Verschlafen rieb er sich die Augen und strampelte unwillig gegen den Gurt. "Sind wir zuhause?" Der Kleine hatte es überhaupt nicht gemocht, quer über den ganzen Kontinent zu fahren und dabei auch noch in den Kindersitz gesperrt zu sein.
"Ja, Kleiner!" Sharon streckte sich verschlafen. "Wir sind da."
Sie streckte den Arm nach hinten und strich Enzio über die Wange. Georg öffnete die Hintertür und hob seinen Sohn heraus, bevor Madame Rudenko neben ihm stand beide an sich drückte, so fest, dass Georg hoffte, Enzios Knochen mögen heil bleiben. Sie hatte sich beim ersten Treffen als Madame vorgestellt und seitdem w s r es dabei geblieben. Die Ukrainerin eine stämmige, umfangreiche Frau in ihren Fünfzigern, hatte ein rotes, glänzendes Gesicht aus dem eine winzige Nase lugte aus der Mitte heraus. Ihre strohblonden Haare waren meistens in einen dünnen, unordentlichen Zopf geflochten.
"Ihr seid zuhause!", rief sie laut und Enzio hielt sich die Ohren zu.
Georg ahnte, was kommen würde und versuchte, sich zu befreien, da drückte die Haushälterin ihm einen dicken Kuss auf beide Wangen, bevor sie sich Enzio schnappte und der gleichen Begrüßung unterzog.
"Und Sharon!", rief sie erfreut und ließ die Beiden los.
Die Agentin lächelte und kam ums Auto. Sie schien keine Probleme mit der herzhaft-feuchten Begrüßung der Ukrainerin zu haben, zweifellos hatte sie in ihrer Laufbahn schon Schlimmeres erlebt, als mitten in der Nacht von der Wucht einer osteuropäischen Bisonkuh beinah umgerannt zu werden.
"Sharon!", Madame Rudenko lächelte, aber wie sie den Namen aussprach, klang irgendwie falsch in Georgs Ohren. Aber dafür konnte sie nichts, sie sprach nicht sonderlich gutes Englisch.
Jetzt drehte sie sich um und rief etwas unfreundlicher Richtung Haus:
"DARYNA!"
Ihre Tochter kam leicht widerwillig im Morgenmantel herausgelaufen und Georg beschlich das Gefühl, dass die beiden auf ihn gewartet hatten.
"Ich finde meine Hausschuhe nicht!", rief das Mädchen halblaut und Madam Rudenko seufzte laut.
"In Lwiw ist es um diese Jahreszeit noch viel kälter, also jammer nicht!"
Georg lachte und kam dem Mädchen entgegen, um sie zu umarmen.
Daryna war fast das Gegenteil ihrer Mutter: schlank, mit breitem, amerikanischem Mundwerk und langen, blonden Haaren, die in dem Moment offen über ihre Schultern fielen.
"Wir haben dich vermisst!" Daryna drückte ihn erleichtert an sich und Georg hob sie kurz mit einem Arm hoch.
"Das hoffe ich doch!" Er ließ sie herunter und nahm Enzio, der sein Gesicht in seinem Nacken vergraben hatte, wieder in beide Arme. "Wer isst denn sonst, was deine Mutter kocht?"
"Das habe ich gehört!" Madam Rudenko stemmte gerade beide Koffer gleichzeitig aus dem Wagen und stiefelte mit ihnen Richtung Haus. "Tun nicht so, als würde es dir nicht schmecken!"
"Es schmeckt fantastisch!" Sharon warf Georg einen bösen Blick zu, den er überhaupt nicht einordnen konnte.
"Natürlich tut es das! Ich verwende Rezepte von meiner Mutter!"
Daryna sah zu Georg hoch, als erwarte sie, dass er einen Witz darüber machte, also nickte er ihr bedeutungsvoll zu, was sie nochmal auflachen ließ.
"Gib ihn mir!" Auffordernd nahm sie ihm Enzio ab, der nur widerwillig von seinem angewärmten Schlafplatz weggezogen wurde. Er verzog sein Gesicht und sein Mund begann zu zittern.
"Du verziehst den Jungen!", schalt Madam Rudenko über den Rücken hinweg. "Kann er überhaupt laufen?"
Daryna strich Enzio über den Rücken und summte leise, was ihn zu beruhigen schien, denn sein Wimmern verstummte.
"Natürlich kann er das! Genau deswegen muss ich ihn tragen, sonst rennt er mir weg!"
Madam Rudenko gab einen abschätzigen Laut von sich. Georg nahm es ihr nicht übel. Wahrscheinlich konnten die Dreijährigen in der Ukraine schon reiten und den Sarazenen den Kampf ansagen.
Er folgte ihr in das Haus und wurde von der Hitze, die von dem lodernden Kamin ausging, fast erschlagen. Er strahlte eine solche Wärme aus, dass Georg den Rest der Einrichtung, wie den lackierten Holztisch, die buntgemusterte Sofagarnitur und die weiß-roten Vorhänge bereits in Flammen aufgehen sah.
"Wir wollen doch nicht, dass ihr friert!" Madam Rudenko öffnete die Klappe und schob einen weiteren Scheit hinein.
Sharon zog sich sofort die Jacke aus, faltete sie ordentlich zusammen und legte sie über einen Stuhl. Georg spürte, wie sein Brustkorb pochte und atmete langsam aus, was ihm einen schrägen Blick von der Agentin, die jetzt nur noch in einem engen Top da stand, einbrachte, aber er kümmerte sich nicht darum.
Die Hitze drang ihm unter die Haut, knotete sich um seine Adern und seine Nerven, schloss sich um sie, wie eine Membran.
Schnelle Energiestöße erreichten sein Hirn und sie pochten in seinen Zellen. Georg schloss kurz die Augen, als die unheimliche Kraft wieder in ihm aufpulsierte, an die er sich immer noch nicht ganz gewöhnt hatte, und setzte sich auf die nächstbeste Oberfläche.
"Es ist warm genug, denke ich!", ächzte er und rieb seine Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte.
Sharon fragte ihn etwas, Besorgnis in ihrer Stimme, aber ihre Stimme klang verzerrt, beinahe tierisch und er verstand nicht, was sie sagte. Es knirschte und klingelte in seinen Ohren, als ob sogar die Luft im Raum Geräusche machte.
"Kannst Du das nochmal wiederholen?", fragte er und konzentrierte sich langsam. Die Flammen zuckten im Feuer in einem seltsamen Rythmus, den er sich vielleicht auch nur einbildete.
"Brauchst du ein Glas Wasser?", fragte Sharon besorgt und Georg schüttelte den Kopf.
"Ich hab wohl zu lange im Auto gesessen!" Je länger er in das Feuer sah, desto mehr Details erkannte er. Eine winzige, hellgelbe Stichflamme zuckte immer wieder auf und tänzelte um die lodernden Hölzer.
"Ach Junge!" Madam Rudenko drängte sich neben ihn und tätschelte seine Wangen. "Wenigstens glühst du nicht! Jetzt mach die Augen auf und sie mich an!"
Georg zuckte zusammen und riss seinen Blick vom Feuer.
Wie man ein Dia austauschte, wechselten vor seinen Augen die hellroten Flammen mit dem heißen Kamin und er drehte den Kopf Richtung Madam Rudenkos kleine blaue Knopfaugen, die ihn prüfend anstarrten.
"Er ist müde Mum!", warf Daryna unwillig ein. "Es ist fast vier Uhr morgens!"
Madame Rudenko hob warnend die Hand:
"Wir sind keine Amerikaner! Nenne mich nicht Mum!" Daryna verlor der kurzen Starrkampf, indem sie mit den Augen rollte.
"Sie hat Recht!", schaltete Sharon sich ein und zog Georg hoch. "Wir sind durch den halben Kontinent gefahren. Wir sind alle müde!"
Als Georg neben ihr stand, zog sie ijm dicht an sich und flüsterte ihm zu:
"Sieh nach unten!"
Irritiert gehorchte Georg und musterte angestrengt die dunkelbraunen Dielen, auf denen er stand.
Die Ukrainerin seufzte und murmelte etwas in ihrer Muttersprache. Georg hatte keine Ahnung, was sie da sagte, aber seine Ohren spitzen sich unwillkürlich bei einem Wort, das nach 'Wodka' klang.
Die Einrichtung, die wie das Äußere sehr an Almöhi erinnerte, flackerte schattenhaft und Georg schob es tatsächlich auf seine Müdigkeit, die ihn sogar dazu brachte, sich an dem Geländer hoch zu tasten.
In seinem Zimmer hatte niemand gewagt, etwas zu verändern und er ließ sich ohne Umstände auf sein Bett fallen.
"Georg!" Sharon versuchte, ihn zu rütteln. "Deine Tabletten!"
Er hatte die Augen geschlossen, die Flammen umringten ihn wieder, schmiegten sich an ihn. Als Sharon ihn wieder anfasste, zuckte sie plötzlich erschrocken zurück, aber Georg kümmerte es nicht. Er griff wie durcj Watte nach seinem Kopfkissen, stopfte es unter seinen Kopf und konzentrierte sich auf die Hitze, die immer noch durch seinen Körper tobte und auf eine beißende Art angenehm war, wie ein scharfer Geruch, der einen aus der Ohnmacht riss.
Plötzlich zuckte er zurück, als sich ein eisiges Gefühl von einem winzigen Punkt in seinem Arm ausbreitete und die Hitze übernahm.
Dann blinzelte er, das überschwengliche Gefühl erlosch und er war einfach nur müde.
Langsam drehte Georg den Kopf zur Seite und als Sharon sein Gesicht sah, ließ sie seinen Arm wieder los und verstaute die Spritze wieder.
"Was war das bitteschön?", fragte sie und setzte sich auf das Bett.
"Habe ich schon erwähnt, dass ich sehr empfindlich auf Wärme reagiere?"
Georg drehte sich auf den Rücken um sie besser sehen zu können. Ihre blonden Haare faszinierten ihn. Wie konnte ein Mensch nur so glänzende Haare haben?
"Das habe ich jetzt gesehen!" Sharon legte sich neben ihn.
"Aber deine Augen haben richtig geleuchtet!"
Vorsichtig fühlte sie seinen Arm. "Besonders heiß bist du dabei aber nicht geworden. Ich hatte Angst, dass sich deine Haut sonst auch noch verändert!"
Georg sah auf seine Hände, die wie immer glatt und braun waren. "Das wäre für die beiden ziemlich verstörend gewesen!" Er lachte bei der Vorstellung und schloss die Augen.
Jetzt war es dunkel, so wie es sein sollte.
"Ich lass dich mal schlafen!" Sharon stand wieder auf. "Falls irgendwas ist, an der Lage meines Zimmers hat sich nichts geändert!" Georg hörte, dass sie sich nicht bewegte, sondern weiter auf ihn herab sah.
"Ich glaube nicht, dass noch mal was passiert. Hier ist es kühler!"
Er konnte fühlen, wie sie kurz lächelte.
"Ich habe eigentlich Lucia gemeint!", sagte sie. "Langsam solltest du aufhören, nach ihr zu suchen."
Georg unterdrückte den Drang, sich die Ohren zuzuhalten.
Er wollte es nicht mehr hören, das ganze "Gib auf", "Lass los", "Es bringt nichts mehr!" Es war seine Entscheidung, er würde aufhören, wenn er entschied und er hatte nicht vor damit. Sein Gefühl hatte ihm jahrelang öfters gerettet als sein Kopf und auch jetzt war es sein Antrieb, dass seine kleine Schwester irgendwie noch am Leben war.
"Das wurde auch zu Howard Stark gesagt, als er nach Captain America gesucht hat."
Sharon verstummte kurz.
"Nur das Lucia kein genetisch verbesserter Supersoldat ist, der über der Arktis abgestürzt ist, sondern eine junge Frau, die sich in einee HYDRA Basis in die Luft gesprengt hat."
Georg drehte sich um und presste das Kissen auf seinen Kopf. Was auch immer Sharon jetzt sagte, er würde es nicht mehr hören.
Aber offenbar hatte die Agentin alles gesagt. Plötzlich spürte er, wie sie sanft seine Schulter streichelte, bevor sie den Raum verließ.
Georg begann seine Atemzüge zu zählen, um sich zu beruhigen. Sein Herz pochte immer noch und schrie nach dem Energieschub, der von der Hitze des Kamins gekommen war. Es war wie ein plötzlicher Adrenalinschub gewesen, eine fremde Droge, die jede Zelle in seinem Körper auf hundert Prozent aufgeladen zu haben schien.
Wütend warf er das Kissen weg, setzte sich auf und fuhr sich durch die Haare.
Müdigkeit und Neugierde stritten sich in ihm, gemischt mit dem Frust, den Sharons ablehnende Haltung gegenüber Lucia aufgebracht hatte.
Georg schwang die Beine über die Bettkante.
Er versuchte, an seine Schwester zu denken und stellte mit Entsetzen fest, dass er sich kaum an sie erinnern konnte.
Er wusste, dass sie lächelte, konnte sich aber nicht an ihr Gesicht erinnern, er hörte einen weit entfernten Hall ihres Lachens, aber ihre Stimme selbst war wie Luft. Panik glomm in ihm hoch.
Ruckartig erhob sich Georg, wühlte wie verrückt in seinem Rucksack herum, fischte sein Feuerzeug heraus und starrte es aufatmend an. Es wurde mit Gas bedient und ähnelte mehr einem Bunsenbrenner als einem herkömmlichen Feuerzeug.
Probehalber ließ er eine kleine Flamme aufflackern und beobachtete sie, wie sie in der Dunkelheit zu tanzen schien.
Dann hielt er seine Hand darüber, spürte die Wärme auf der Haut und hielt das Feuerzeug näher, bis es die Haut berührte.
Er spürte, sich die Kettenreaktion in seinem Körper fortsetzte und schloss die Augen, als seine Angst weggespült wurde.
Erst als sein ganzer Körper zu vibrieren schien, atmete er aus und öffnete sie wieder und eine kalte, blaue Glut leuchtete in ihnen.
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