Kapitel 6 - Castor und Moos
Es war eine völlig neue Erfahrung für Jan, am Haistra-Tisch zu sitzen und der Auswahlzeremonie von Beginn an einfach nur zuzuschauen. Er hatte einen Platz zwischen Levi und Anna und beobachtete interessiert, wie die neuen Schüler von Herrn Tuplantis in den Innenhof geführt wurden. Nur zu gut konnte Jan sich erinnern, wie er sich in ebendieser Situation vor einem Jahr gefühlt hatte. Er war völlig überwältigt gewesen von den ganzen Eindrücken - und ziemlich aufgeregt wegen der vielen Schüleraugen, die auf ihn gerichtet gewesen waren. Daher versuchte er, allen Erstklässlern freundlich zuzulächeln. Doch deren Aufmerksamkeit war ohnehin nicht auf ihn gerichtet, sondern auf die großen Gründerbäume in den Ecken des Innenhofs oder auf Herrn Tuplantis, der sie mit ruhigen Schritten auf die Bühne führte.
»Es sind viel mehr als wir letztes Jahr«, stellte Levi fest.
»Stimmt«, sagte Jan. Auch ohne zu zählen konnte man erkennen, dass es deutlich mehr Schüler in den neuen ersten Klassen gab als in ihrem Jahrgang.
»Ich glaube aber, dass wir ein echt kleiner Jahrgang sind«, wandte Marina von der anderen Seite des Haistra-Tischs ein. »Wenn man bedenkt wie groß die Klassenräume sind. So groß müssten die ja nicht sein, wenn man überall nur mit fünfzehn Schülern wäre.«
»Noah war auch total überrascht, als ich ihm erzählt habe, dass wir nur vier Leute in unserem Schlafzimmer sind. Er schläft mit sieben Leuten in einem Zimmer.«
»Da sind mir vier aber lieber«, meinte Lina. »Stellt euch mal vor, jeder von den sieben baut irgendeine Maschine, die in einer Nacht plötzlich explodiert. Da wird man aber schnell abhängig vom Trank der offenen Augen.«
Sie verstummten, als die Schüler vor der Bühne ankamen und Herr Tuplantis die Stufen emporstieg.
»Guten Abend, liebe Schülerinnen und Schüler!«, begrüßte er sie mit einer einladenden Geste. »Ich freue mich, viele alte Gesichter wiederzusehen. Und ich freue mich ebenfalls, in aufgeregte neue Augen schauen zu können. Weil ich weiß, wie lang sich jeder meiner Sätze zieht, wenn man aufgeregt ist, verschiebe ich alle Neuigkeiten hinter die Auswahlzeremonie und belasse es für jetzt bei einem ›Willkommen in Winterfels!‹ Liebe Erstklässler, ihr werdet jetzt von meiner freundlichen Kollegin Frau Relting aufgerufen werden. Kommt dann einfach auf die Bühne und genießt diesen Moment. Auch wenn ich mittlerweile schon einiges an Lebenserfahrung sammeln durfte, habe ich noch nichts Vergleichbares erlebt.«
Er schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln.
Dann trat Frau Relting vor, schlug ein Blatt auf ihrem Klemmbrett um und las den ersten Namen vor.
»Emilian Abels!«
Die Auswahlzeremonie begann.
Jan und seine Freunde beobachteten interessiert, wie die neuen Erstklässler auf die Bühne liefen, dort mit großen Augen auf die Gründerbäume schauten und schließlich zu der Frucht liefen, die für sie herabgefallen war. Es war spannend zu sehen, wie unterschiedlich die Schüler mit der Situation umgingen. Während man den meisten zum Beispiel durch gerötete Wangen eine leichte Aufregung ansehen konnte, gingen zwei Jungen bemüht lässig auf die Bühne und blickten mit einem selbstbewussten Grinsen in die Menge. Jan fand dieses Verhalten zwar unsympathisch, beneidete die beiden aber auch dafür. Er hätte sich so ein selbstbewusstes Auftreten nie getraut. Ein anderer Junge wiederum stolperte vor lauter Aufregung beim Erklimmen der Treppe über seine eigenen Füße und blickte schließlich mit feuerrotem Gesicht in die Schülermenge.
Als auch der letzte Schüler einem Haus zugeordnet worden war, nahm Frau Relting ihr Klemmbrett wieder unter den Arm und setzte sich wieder an den Lehrertisch. Stattdessen trat Herr Tuplantis wieder nach vorne.
»Es ist immer wieder schön, neue Schüler bei ihren ersten Schritten in Winterfels zu sehen«, meinte er schmunzelnd. »Solltet ihr bei euren weiteren Schritten irgendwelche Hilfe brauchen, dann könnt ihr euch gerne an eure Haussprecher, eure Hauslehrer oder auch an mich wenden. Winterfels soll ein Ort sein, an dem sich jeder zu Hause fühlt.«
Er blickte mit einem aufmunternden Lächeln durch die Reihen.
»Aber kommen wir nun zu den Ankündigungen, die euch noch interessieren dürften. Wie ihr vermutlich wisst, hat Herr Jorski, der euch letztes Jahr in Zaubertränke unterrichtet hat, nur einen einjährigen Vertrag unterschrieben. Er ist mittlerweile zum polnischen Zaubereiministerium zurückgekehrt, wo er als Auror schwarzen Magiern wieder das Leben schwer macht. Nun brauchen wir allerdings jemanden, der euch beibringt, wie Zaubertränke funktionieren und wie ihr selbst welche brauen könnt. Leider gibt es keine ausgebildeten Lehrer für das Fach Zaubertränke. Also habe ich beschlossen, jemanden aus der Praxis für das Fach zu rekrutieren. Und daher darf ich euch nun feierlich euren neuen Lehrer vorstellen: Herrn Lucas Moos. Er hat in der Entwicklungsabteilung von X-Potion gearbeitet und verfügt daher über weitreichende Fachkenntnisse.«
Er deutete mit seinen Händen präsentativ auf einen jungen, leicht untersetzten Mann mit zur Seite gekämmten, schwarzen Locken, sowie einer unauffälligen Halbrahmenbrille. Als er sich von seinem Platz erhob, fiel Jan ein, woher er diesen neuen Lehrer kannte. Das war der Aussteller, den sie auf der InWEx beim Stand von X-Potion getroffen hatten. Nachdenklich betrachtete Jan den Mann, der freundlich seine Hand zum Gruß hob. Hatte er ihnen nicht erzählt, dass er seine Arbeit dort liebte? Warum hatte er dann das Angebot von Herrn Tuplantis angenommen?
Jan blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn Herr Moos setzte sich wieder und Herr Tuplantis sprach weiter.
»Wie wir alle wissen, ist im vergangenen Jahr allerdings auch unser Kollege und Freund Merino König verschwunden. Aller Hoffnungen zum Trotz wurde er immer noch nicht wiedergefunden. Daher musste auch das Amt das Lehrers für Verteidigung gegen die dunkeln Künste neu besetzt werden. Das wird in diesem Jahr Frau Castor übernehmen.«
Er zeigte auf eine kleinwüchsige Frau, die in der Mitte des Tisches zwischen Herrn Goldenberg und Frau Nauberger Platz genommen hatte. Als sie sich mit weit geöffneten Augen und verspannten Gesichtszügen vorsichtig erhob, hatte Jan das Gefühl, eine ältere Version von Frau Nauberger vor sich zu haben. Sie wirkte schon damit überfordert, sich vor einer großen Menge Schüler zu erheben. Statt der Schülerschar wie Herr Moos freundlich zuzuwinken, starrte sie bloß auf Herrn Tuplantis, als erhoffte sie sich von ihm ein Zeichen, sich wieder setzen zu dürfen. Sobald der Schulleiter weitersprach, nahm sie schnell wieder Platz.
»Merino ist allerdings nicht nur Lehrer für dieses überaus wichtige Fach gewesen, er ist auch der stellvertretende Schulleiter gewesen. Auch dieses Amt müssen wir angesichts der geringen Wahrscheinlichkeit, dass er an diese Schule zurückkehrt, neu besetzen. Herr Goldenberg wird seine Position übernehmen.«
Der Lehrer mit dem himmelblauen Umhang erhob sich und sah zufrieden in die Schülerschar. In der Halle erhob sich Applaus. Der Lehrer für Deutsch und Flugunterricht genoss wegen seiner schülerfreundlichen Art in der Schule große Beliebtheit. Auch Jan war froh, dass die Wahl auf ihn und nicht beispielsweise Herrn Egger gefallen war. Nachdem Herr Goldenberg wieder Platz genommen hatte, fuhr Herr Tuplantis fort.
»Und es gibt eine weitere Sache, die ihr wissen solltet. Sie hängt mit den Ereignissen des vergangenen Schuljahres zusammen. Kurz vor dessen Ende ist es uns zum Glück gelungen, die Widersacher, die uns das ganze Jahr über unseren Freiheiten beraubt haben, zu besiegen. Daher wird uns in diesem Schuljahr wieder all das möglich sein, was wir im letzten Jahr vermisst haben: Quidditch spielen, Briefe schreiben, zwischen den Ställen und Gewächshäusern umherstreifen. Glaubt mir, das alles haben wir Lehrer auch vermisst. Allerdings möchte ich dennoch zur Vorsicht mahnen. Die letzten Worte von Titus Pettigrew, bevor er geflohen ist, waren ›das war noch nicht der letzte Kampf!‹ Daher ist es noch eindringlicher als sonst verboten, das Schulgelände zu verlassen. Und sollte euch irgendetwas Verdächtiges auffallen, dann meldet uns das bitte.«
Er ließ einen eindringlichen Blick über die Schülermenge schweifen.
»Aus dem letzten Jahr haben wir also Vorsicht gelernt, vor allem im Bereich des Briefeschreibens. Doch was wären Lehren, wenn darauf keine Handlunge folgen? Während ihr euch auf der InWEx natürlich ausschließlich mit sinnvollen Unterrichtsmaterialien ausgestattet habt, habe ich bei Progressive Way einen Eulentunnel in Auftrag gegeben. Er ist vorgestern Abend fertiggestellt worden und wird sicherstellen, dass wir sorgenfrei Briefe an unsere Liebsten verschicken können. Ich könnte euch jetzt lange Reden darüber halten, wie er zu benutzen ist, aber ich habe ähnlich großen Hunger wie ihr und daher überlasse ich es euren Hauslehrern, euch im Laufe der nächsten Tage zu zeigen, wie der Eulentunnel funktioniert. Daher übergebe ich jetzt an unseren Küchenchef: Knut Relting.«
Der Koch, der vor allem durch seine auffällig runde Nase und seine weiße Kochschürze auffiel, erhob sich und ließ mit dirigentenhaften Bewegungen das Essen von den Speisewägen am Rand des Innenhofs auf die Tische fliegen.
»Bei dem haben wir dieses Jahr auch Unterricht«, erinnerte sich Levi. »Du weißt doch, wir haben den Koch-WP gewählt.«
»Stimmt, da war ja was«, meinte Jan und verdrehte die Augen. »Ich glaube, da freue ich mich sogar mehr auf den Unterricht bei Frau Nauberger. Und das muss schon was heißen.«
»Ach Jan, du darfst nicht so voreingenommen da dran gehen«, sagte Levi lachend. »Das wird großartig. Wenn du in dem WP gut aufpasst, musst du in deinem Leben nie wieder einen Schneebesen in die Hand nehmen.«
»Auch Muggel kochen nicht mehr mit Schneebesen. Es gibt mittlerweile Handmixer oder Thermomixe. Aber Spaß macht das deswegen noch lange keinen. Wenn man irgendetwas falsch macht, dann kann einfach die ganze Arbeit umsonst gewesen sein. Das ist doch so frustrierend.«
»Deswegen ist es wichtig, dass du im WP gut aufpasst, damit du eben nichts mehr falsch machst«, entgegnete Levi. »Aber ich glaube, eine Stunde da wird dich mehr überzeugen als tausend weitere Argumente von mir. Warten wir einfach die Woche mal ab.«
»Ich versuche unvoreingenommen zu sein«, bestätigte Jan. »So wie ich das allgemein dieses Jahr versuchen werde. Die neuen Lehrer werden nicht so verdächtigt wie ich es bei Herr Jorski gemacht habe. Auch wenn Frau Castor es geschafft hat, nur durch Aufstehen, einen ziemlich schlechten Eindruck zu hinterlassen.«
»Das finde ich einen klasse Vorsatz! Erinnerst du dich noch an unser erstes Essen hier in Winterfels? Da gab es Holundersuppe. Du hattest zwar noch nie welche gegessen, fandest, dass sie nicht wirklich lecker aussah, aber hast ihr eine Chance gegeben. Und entweder bist du echt gut im Schauspielern oder sie hat dir gar nicht so schlecht geschmeckt. Hättest du dich von deiner Voreingenommenheit beeinflussen lassen, dann hättest du nie eine leckere Holundersuppe gegessen.«
Levis Blick fiel auf eine Schüssel mit einer zähflüssigen, silbrigen Flüssigkeit.
»Wo wir gerade bei Holundersuppe sind: Willst du eine?«
Jan nickte lächelnd. Und nahm sich fest vor, Levis Worte zu Herzen zu gehen. Er würde versuchen, mit einer positiven Einstellung an den Koch-WP zu gehen. Und keine vorschnellen Urteile gegenüber Frau Castor zu fällen. Denn Levi hatte recht: Die Holundersuppe schmeckte wirklich gut. Und wenn er stur bei seiner Voreingenommenheit geblieben wäre, hätte er diese Delikatesse verpasst.
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