Kapitel 43 - Die Pflicht eines Schulleiters
Jan sah Herrn König hinterher, wie er hinter einer Wegbiegung verschwand. Er konnte nach wie vor nicht glauben, was gerade passierte. Nachdem er über ein Jahr verschwunden gewesen war, tauchte Herr König auf einmal im dunklen Verließ eines gewaltigen Gefängnisses wieder auf, befreite ihn und Marina, nur um dann auf einmal wieder zu verschwinden. Marina neben ihm sah ebenso verwirrt aus.
»Das ist echt ein gewaltiger Fiebertraum«, flüsterte sie wahrscheinlich mehr zu sich selbst.
Jan nickte leicht. Obwohl er genau wusste, dass das hier kein Traum war. Spätestens nachdem Herr Tuplantis mit seiner Skibrille gemeinsam mit Herrn Jorski aus einer Säule aufgetaucht waren, hätte er sich so stark erschrocken, dass er aufgewacht wäre.
Seitdem die beiden da waren, fühlte Jan sich allerdings trotz der unheimlichen Gegend hier erstaunlich sicher. Herr Tuplantis leitete sie, als würden sie einfach nur eine Nachtwanderung durch den Schwarzwald machen, auf der es nichts Gefährlicheres gab als Dornen und Schlammpfützen.
»Es geht hier weiter«, sagte Herr Tuplantis und deutete auf eine hübsche Treppe aus Erlenfurnier. Auch ohne eine geführte Besichtigung konnte Jan erahnen, dass in diesem Stockwerk Pettigrew selbst wohnte. Während es in den anderen teilweise so ausgesehen hatte wie im Kerker einer mittelalterlichen Burg, wirkte diese Etage hier recht wohnlich – mit ein paar Fenstern hätte sie einem überdimensionierten Einfamilienhaus entstammen können.
Doch dieses Ambiente verschwand im nächsten Stockwerk schon wieder. Es glich mehr einem Lagerhaus. Allerdings merkte man hier, dass sie mittlerweile im bewohnten Teil des Erkstags angekommen waren. Immer wieder lockte Herr Tuplantis sie in kleine Nebenräume, um Personen auf dem Flur auszuweichen.
Während sie in einem dieser Räume warteten, bis die Brille keine Personen mehr in der Nähe anzeigte, erklang auf einem eine laute Explosion. Der Boden unter ihnen bebte leicht.
Jan sah mit großen Augen zu Herrn Tuplantis und Herrn Jorski.
»Das war Merino«, stellte Herr Tuplantis fest. »Er war schon immer Fan der lauten und aufsehenerregenden Zauber. Aber ich weiß nicht, ob das heute eine gute Wahl war.«
»Wir müssen jetzt noch vorsichtiger sein«, sagte Herr Jorski besorgt. »Darf ich einmal kurz deine Brille haben?«
Herr Tuplantis reichte ihm die MuggelMag-Erfindung, die sie bislang sicher durch den Erkstag gebracht hatte.
Herr Jorski setzte sie vorsichtig auf. Auch wenn die getönten Scheiben daraufhin seine Augen verdeckten, konnte man schon anhand seiner zusammengepressten Lippen sehen, dass er sich konzentrierte. Als er sie absetzte, wirkte er aber aus irgendeinem Grund zufrieden.
»Es sollte passen«, sagte er an Herrn Tuplantis gewandt. Dann sah er zu Jan und Marina. »Habt ihr Lust, durch Wände zu laufen?«
»Durch Wände zu laufen?«, wiederholte Jan ungläubig. Herr Jorski nickte. Die beiden Schüler sahen sich kurz verwundert an.
»Wir machen alles mit Ihnen, wenn Sie glauben, dass uns das lebend aus dem Erkstag bringt«, antwortete Marina schließlich.
Herr Jorski schmunzelte.
»Wir geben unser Bestes.«
Er gab Herrn Tuplantis die Brille zurück und reichte Jan die Hand. »Bereit?«
»Bereit«, bestätigte Jan. Herr Jorski trat mit ihm einen Schritt auf die Wand zu, sodass sie genau vor ihr standen. Dann hielt er seinen Zauberstab dagegen und nickte Jan aufmunternd zu. Sie machten einen weiteren Schritt nach vorne. Für den Bruchteil einer Sekunde bekam Jan das Gefühl, von allen Seiten zerquetscht zu werden. So musste es sich für ein Auto anfühlen, durch die Waschstraße zu fahren.
Doch schon im nächsten Moment traten er uns Herr Jorski wieder aus der anderen Seite der Wand hervor – als wären sie bloß durch eine Lichtschranke getreten. Wenige Sekunden später folgten Herr Tuplantis und Marina.
»Wir sind wirklich durch die Wand gelaufen!«, stellte Marina beeindruckt fest.
»Deswegen müsst ihr bei Frau Schmidt immer gut aufpassen«, sagte Herr Jorski mit einem Augenzwinkern. »Dann könnt ihr sowas auch irgendwann alleine.«
Jan sah sich währenddessen bereits im Raum um, in dem sie gelandet waren. Ganz offensichtlich war es das Schlafzimmer von einem von Pettigrews Mitstreitern. Ordnung und Sauberkeit schienen ihm nicht sonderlich wichtig zu sein. Hosen und Hemden lagen genauso auf dem Boden verteilt wie leere Essenstüten und Artefakte, denen Jan einen schwarzmagischen Nutzen definitiv nicht absprechen wollte.
Während Herr Tuplantis seine Brille nochmal an Herrn Jorski weiterreichte und mit ihm überlegte, was wohl der schlauste Weg war, stellte sich Marina zu Jan. Dafür, dass sie sich mitten im Hauptquartier des berüchtigtsten Schwarzmagiers ihrer Zeit befanden, wirkte sie erstaunlich entspannt.
»Ich glaube, hier wohnt dieser Robert«, scherzte sie mit Blick auf das Chaos.
»Glaubst du?«, fragte Jan. »Er hat auf mich eigentlich einen ganz organisierten Eindruck gemacht. Ich glaube, in der Schule hat er immer schon eine Woche vorher für jede Arbeit angefangen zu lernen.«
»Das kann schon sein«, sagte Marina. »Aber ich wette mit dir, dass seine Mutter jeden Tag noch für ihn gekocht hat, bevor er zu Pettigrew gegangen ist.«
Jan lachte. Bevor er allerdings etwas erwidern konnte, winkte Herr Jorski sie wieder zu sich.
»Es ist zu riskant, die Treppen nach oben zu gehen«, erklärte er. »Aktuell geht es auf den Gängen hier zu wie in ein Ameisennest. Wir nehmen einen alternativen Weg deswegen.«
Er reichte Jan erneut seine Hand, auch wenn der diesmal nur zögerlich einschlug. Es wäre ihm lieber, wenn ihre beiden Befreier manchmal etwas mehr von ihrem Plan preisgeben würden. Vollstes Vertrauen in sie hatte er trotzdem. Letztes Jahr hatte er gesehen, wie die beiden gegen Titus Pettigrew und seine Mitstreiter gekämpft hatten. Sowohl ihre magischen Fähigkeiten, aber auch ihr taktisches Geschick hatte Jan tief beeindruckt. Sie würden schon wissen, wie sie am besten hier herauskamen.
Herr Jorski ging mit Jan durch eine weitere Wand und jetzt, wo Jan wusste, was ihn erwartete, fühlte es sich nicht einmal so schlimm an. Vor allem an seinem Rücken fühlte er sich ein wenig an eine Massage erinnert. Hinter dieser Wand erwartete sie allerdings kein chaotisches Schlafzimmer, sondern ein schmaler, düsterer Schacht. Weil er damit überhaupt nicht gerechnet hatte, lief Jan aus Versehen gegen Herrn Tuplantis. Hastig murmelte er eine Entschuldigung und trat einen Schritt zurück. Dabei merkte er, dass der Boden unter ihm leicht schwankte. Wo waren sie hier gelandet?
»Das ist ein Lastenaufzug, oder?«, fragte Marina.
»Auch wir sind noch nie vorher hier gewesen«, erwiderte Herr Tuplantis. »Aber es sieht ganz danach aus, als hätte Pettigrew manche Objekte, die er lieber unbemerkt in seine Gemächer bringen will.«
»Denken Sie, der Aufzug führt bis ganz nach oben?«, fragte Jan hoffnungsvoll. Nachdem sie sich immer mühevoll Etage für Etage nach oben gekämpft hatten, kam ihm das fast schon zu schön vor, um wahr zu sein.
»Wir werden es jetzt herausfinden«, sagte Herr Jorski und zielte mit seinem Zauberstab auf die Bodenplatte des Lastenaufzugs. Langsam setzte er sich in Bewegung. Während er dafür sorgte, dass sie sich nach oben bewegten, nahm Herr Tuplantis die Brille wieder ab und schob sie sich in sein lockiges Haar. Dann betätigte er den Knopf in seinem Ohr und begann, leise zu sprechen. Jan vermutete, dass er ihrem Unterstützern draußen mitteilte, wie ihre Lage gerade war.
»Stell dir mal vor, Englisch gestern wäre nicht ausgefallen«, flüsterte Marina Jan zu. »Dann hätten wir niemals den Geheimgang betreten und wären einfach ganz normal evakuiert worden.«
»Das heißt, Herr Egger ist schuld an dem ganzen hier?«, schlussfolgerte Jan mit einem Schmunzeln im Gesicht. Auch er versuchte, möglichst leise zu sein, um weder Herrn Tuplantis zu stören, noch ungewollte Aufmerksamkeit auf sie zu lenken. »Der Ansatz gefällt mir.«
»Damit machen wir es uns ein bisschen einfach«, stellte Marina fest. »Wir hätten einfach die Englisch-Vokabeln abschreiben sollen, anstatt in diesen gruseligen Gang wieder zu gehen. Mein Bedarf an Abenteuern für die nächsten Jahre ist auf jeden Fall mehr als gedeckt.«
»Ich mache ab jetzt auch die Anna-Taktik und werde mich mit dem Lesen von Abenteuer-Büchern zufriedengeben«, stimmte Jan zu. »Obwohl man auch sagen muss, dass wir ganz viel nicht herausgefunden hätten, wenn wir nicht im Geheimgang gewesen wären. Wir hätten nicht gewusst, dass Frau Castor eine Geheimaurorin ist, Herr Grindelwald einfach nur den Ruf seiner Familie herstellen will und Herr König über ein Jahr lang für Pettigrew gearbeitet hat.«
»Wenn du mir auch nur eine Sache davon vorgestern erzählt hättest, dann wäre ich vollkommen auf Linas Seite gewesen, dich zu den Akademischen Astromagiern zu schicken«, erwiderte Marina und konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken. Sie verstummte aber schnell wieder, als sie sich erinnerte, in welcher Situation sie sich hier befanden. Mit wieder ernsterem Gesichtsausdruck wandte sie sich wieder zu Jan.
»Denkst du, Herr König schafft es, die Phiole zu vernichten?«
»Herr König hat es geschafft, die ganze Welt über ein Jahr lang reinzulegen. Seitdem traue ich ihm irgendwie alles zu.«
Jan verstummte, als ihr Lastenaufzug mit einem Ruck zum Stehen kam.
»Endestation«, sagte Herr Jorski. Er sah zu Herrn Tuplantis, der noch ein paar Worte an ihre Unterstützer draußen schickte und sie dann mit einem zuversichtlichen Lächeln ansah.
»Laut Rüdiger sind wir in der obersten Etage angekommen. Wir müssen jetzt nur noch aus dem Nebenkomplex hier rauskommen und die letzten paar Meter über die große Spirale herauskommen.«
Er zog seine Brille wieder aus den Haaren und setzte sie auf.
»Sicherheit sollten wir natürlich trotzdem nicht vernachlässigen.«
Die klobigen Gläser verdeckten noch nicht lange seine Augen, da zuckte er bereits erschrocken zusammen. Er drehte sich einmal in dem schmalen Schacht umher, wobei der Boden unter ihnen besorgniserregend zitterte, dann setzte er die Brille wieder ab.
»Direkt vor dem Aufzug hier steht jemand«, flüsterte er mit einer tiefen Sorgenfalte auf der Stirn.
»Und er bewegt sich nicht. Es wirkt so, als würde er den Ausgang hier bewachen.«
»Ist in dem Raum auf der Seite hier jemand?«, fragte Herr Jorski.
Tuplantis setzte seine Brille wieder auf und schüttelte dann den Kopf.
»Dann mache ich euch jetzt den Weg frei.«
Er richtete sich die langen Ärmel seiner Aurorenuniform und drehte seinen Zauberstab in seiner Hand. Dann verschwand er durch eine Wand aus dem Lastenaufzug. Es war nach wie vor ungewohnt für Jan, Menschen wie Geister durch Wände laufen zu sehen. Er fragte sich, ob viele Zauberer so etwas konnten. Aber hätte Pettigrew dann nicht Schutzzauber dagegen in seinen Erkstag eingebaut? Oder war er sich so sicher gewesen, dass niemand ihn in seinem geheimen Versteck finden würden.
»Unser persönlicher Wächter ist wohl zufällig eingeschlafen«, informierte Herr Tuplantis die beiden Schüler mit einem Augenzwinkern. »Wir können jetzt...«
Er brach mitten im Satz ab und betätigte stattdessen den Knopf in seinem Ohr.
»Witold, da kommt jemand«, flüsterte er eilig. »Verschwinde sofort!«
Eine Zeit lang herrschte Stille im Raum.
Sie hielt allerdings nur für wenige Momente an, denn auf einmal ertönten Schritte auf dem Gang. Als sie vor dem Lastenaufzug ankamen, blieben sie stehen.
»Das darf doch nicht wahr sein«, fluchte eine Stimme, die so klang als würde der dazugehörige Mensch direkt vor der Wand stehen, die ihn von Jan, Marina und Herrn Tuplantis trennte.
Jan atmete betont langsam durch den Mund ein und aus, um ja kein Geräusch zu verursachen. Auch die nächsten Stimmen konnte er daher gut verstehen.
»Was ist passiert?«
»Ich kann es dir beim besten Willen nicht sagen. Ich habe hier Wache gehalten. Dann habe ich Stimmen im Aufzug gehört. Und dann bin ich eingeschlafen.«
»Der König hat also tatsächlich Freunde von sich hereingeschmuggelt. Lass uns sehen, ob sie noch im Aufzug sind. Ansonsten müssen wir sofort den ganzen Erkstag in Alarmbereitschaft setzen.«
Bei diesen Worten zückte Herr Tuplantis seinen Zauberstab und hielt ihn gegen die Wand, die auf den Gang führte. Mit der anderen Hand betätigte er den Knopf in seinem Ohr.
»Zwei Leute vor unserem Lastenaufzug«, flüsterte er in das Mikro-Funkgerät.
Ein kratzendes Geräusch erklang von der Schiebetür, die von Lastenaufzug in den Flur führte. Sie bewegte sich dabei allerdings kein Stück. Mit Blick auf Herrn Tuplantis' Zauberstab verstand Jan, was passierte. Während die zwei Männer auf dem Flur, die Tür öffnen wollten, hielt Herr Tuplantis sie magisch zu – ganz offensichtlich mit Erfolg.
»So machen wir es. Ich wünsche dir jeglichen Erfolg, Witold. Und euch ebenfalls«
Immer noch mit auf die Schiebetür gerichtetem Zauberstab drehte er sich zu Jan und Marina. Auch wenn seine Augen von den getönten Brillengläsern überdeckt wurde, konnten sie seinen eindringlichen Gesichtsausdruck im Halbdunkeln sehen.
»Herr Jorski hält die beiden auf, damit wir fliehen können«, erklärte er. »Sobald ich euch das Zeichen gebe, laufen wir los.«
Jan sah Herrn Tuplantis mit großen Augen an.
»Aber wollen Sie Herrn Jorski nicht helfen?«
»Herr Jorski ist einer der besten Auroren der Welt«, erwiderte Herr Tuplantis ohne zu zögern. »Ihr hingegen seid, zwei schutzbedürftige Schüler. Und es ist die Pflicht eines Schulleiters, dafür zu sorgen, dass ihr wohlbehalten aus diesem Gefängnis hier herauskommt.«
Er drehte sich zu der Schiebetür, die sich gerade einen Spalt breit geöffnet hatte, um und machte ihr mit einem kräftigen Zauberstabschwenk klar, dass gefälligst verschlossen bleiben sollte.
»Aber es war ja unsere eigene Schuld, dass wir hier gelandet sind«, meinte Jan zögerlich. Er hatte ein schlechtes Gewissen dabei, Herrn Jorski alleine zurückzulassen. »Wenn wir nicht in den Geheimgang gegangen wären, dann wären wir jetzt nicht hier.«
»So einfach funktioniert das mit Schuld nicht«, erwiderte Herr Tuplantis. »Wenn ich diesen geldgierigen Lukas Moos nicht eingestellt hätte, dann wären wir jetzt auch nicht hier.« Er verstummte augenblicklich und lauschte auf sein Mikro-Funkgerät.
»Jetzt!«, sagte er dann und öffnete die Schiebetür mit einer kraftvollen Zauberstabbewegung. Dann bückte er sich und kletterte aus dem Lastenaufzug heraus. Jan gab Marina ein Zeichen, dass sie als nächstes gehen konnte. Dann verließ auch er den Lastenaufzug. Er konnte gerade noch sehen, wie Herr Tuplantis einen von Herrn Jorskis Gegnern mit einem Überraschungsangriff in Fesseln legte, dann bedeutete er Jan und Marina, ihm nach draußen zu folgen.
Jan schleuderte Herrn Jorskis anderem Gegner noch einen Expelliarmus hinterher, um dem freundlichen Auror wenigstens ein bisschen zu helfen, dann folgte er Herrn Tuplantis und Marina.
Sie liefen an Türen und an den Wänden aufgehängten Fackeln vorbei bis sie vor einen großen, steinernen Torbogen kamen.
»Ist in Ordnung«, sprach Herr Tuplantis gerade in sein Funkgerät. »Wir kommen klar.«
Dann drehte er sich zu Jan und Marina. Noch immer war es ungewohnt, den Schulleiter mit seiner auffälligen Skibrille auf dem Gesicht zu sehen.
»Wir müssen nur noch links eine halbe Windung auf der großen Spirale laufen, dann haben wir den Ausgang erreicht«, erklärte er. »Wir haben es so gut wie geschafft!
»Seid aufmerksam und hört auf das, was ich euch sage«, forderte er sie noch auf, während er bereits durch das Steintor trat. Jan und Marina folgten ihm. Während in den Gängen zwischen den Räumen von Pettigrew und seinen Gefolgsleuten wenigstens Fackeln und Industrielampen für ein wenig Licht gesorgt hatten, herrschte hier wieder Finsternis. Lediglich durch ein paar Öffnungen in der Decke schien fahles Licht, dass die schier unendlichen Windungen des Erkstags offenbarte – genauso wie das unheimliche Gerippe auf dessen Boden.
In diesem Moment war Jan allerdings recht froh für die Dunkelheit hier. Zwar machte sie den ohnehin schon gruseligen Moment noch unheimlicher, aber sie sorgte auch dafür, dass man sie nicht so gut sehen konnte. Für jemanden auf der anderen Seite der Spirale konnten sie vielleicht auch für einen Mitstreiter gehalten werden. Zwar waren Jan und Marina durch ihre Größe eigentlich klar als Schüler zu erkennen, aber da Herr Tuplantis dem Abgrund am nächsten lief, verdeckte er vielleicht die Sicht auf sie und sorgte somit dafür, dass man sie nicht erkannte.
Immer wieder drehte sich ihr Schulleiter nach hinten um und prüfte, dass sie auch ja nicht verfolgt wurden. Normalerweise drehte er sich recht schnell wieder zu Jan und Marina zurück, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand hinter sich war. Doch nachdem sie gut die Hälfte des benötigten Weges zurückgelegt hatten, blieb er länger stehen, als gewöhnlich. Jan sah zu Marina und bemerkte einen verunsicherten Gesichtsausdruck bei ihr. Doch noch bevor jemand von ihnen nachfragen konnte, gab Herr Tuplantis selbst eine Erklärung von sich.
»Sie haben uns gefunden«, flüsterte er ihnen zu. »Mindestens zwei kommen gleich aus einem Gang kurz hinter uns. Ich verteidige uns, während wir uns so schnell es geht, weiter nach vorne bewegen. Bleibt dicht vor mir und tut nichts Unüberlegtes!«
Er fasste sich an den Kopf, nahm seine MuggelMag-Brille ab und reichte sie Jan.
»Die Brille ist wirklich herausragend, aber ich glaube, im Kampf wäre sie eher hinderlich. Nimm du sie! Sag mir Bescheid, wenn du Personen siehst, auch wenn ich gerade sehr beschäftigt wirke. Ich beschütze euch gegen jeden, der euren Zauberstab auch nur um ein Grad biegen will!«
Jan nahm die Brille überrascht entgegen. »D-Danke!«
Er wollte gerade noch fragen, ob man bei der Benutzung irgendetwas beachten mussten – schließlich hatte sein Vater ihn so erzogen vor Gebrauch von komplizierten Gegenständen immer eine Anleitung zu lesen – aber da feuerte Herr Tuplantis bereits den ersten Zauber spiralabwärts. Dabei ging er rückwärts, um sie trotz des Duells in Richtung Ausgang zu bewegen. Schnell machten Jan und Marina ein paar Schritte nach vorne, um ihm dabei nicht im Weg zu stehen. Dabei zog Jan die Brille von Herrn Tuplantis auf. Vor Schreck wäre er beinahe gestolpert. Die Brille zeigte weit mehr an, als er erwartet hatte. Als er sich nach links umdrehte, zeigte sie Marina in grellem rotem Licht an. Aber auch die Konturen der umliegenden Wände und Torbögen konnte er nun trotz der Dunkelheit gestochen scharf erkennen.
»Was siehst du?«, fragte Marina aufgeregt.
»Du leuchtest rot«, begann Jan wenig professionell. »Herr Tuplantis auch. »Er kämpft gerade mit zwei Personen. Es sind aber tatsächlich keine weiteren in der Nähe. Zumindest sehe ich keine. Und vor uns ist auch... Marina! Vor uns sind zwei Leute. Sie lauern hinter dem übernächsten Torbogen!«
»Das muss Herr Tuplantis wissen!«
»Aber er ist mitten im Kampf«
»Genau das hat er doch eben gesagt. Wir sollen trotzdem Bescheid geben.«
Jan nickte, als er einsah, dass Marina recht hatte.
»Herr Tuplantis!«, rief er gegen den Lärm der Zauberwechsel hinweg. »Im übernächsten Torbogen lauern zwei Leute!«
Während der Schulleiter mit seinem Zauberstab ein Blitzlichtgewitter auf seine Gegner jagte, dass modernste Filmkameras alt aussehen ließ, hielt er seine linke Hand ans Ohr.
»Rüdiger! Notfallplan! Zwei Personen vor den Schülern.«
»Geht weiter!«, rief er. »Konzentriert euch auf eure Verteidigung und habt keine Angst vor dem Mantikor!«
Jan konnte Marina nur einen kurzen verwunderten Blick zuwerfen, bevor er wieder in Richtung der zwei Personen hinter der Wand sah. Was meinte Herr Tuplantis nur mit keiner Angst vor dem Mantikor. Der war doch unverkennbar tot. Hatte Jan sich etwa verhört?
Doch schon im nächsten Moment wurde seine komplette Aufmerksamkeit von etwas ganz anderem beansprucht. Die beiden Leute hinter der Wand setzten sich in Bewegung.
»Sie kommen!«, warnte er Marina – sein Zauberstab einsatzbereit. Marina tat es ihm gleich und nur so konnten sie die erste Angriffswelle ihrer beiden Gegner mit zwei Protegos abwehren.
»Das sind Dolohow und Rowle!«, keuchte Marina entsetzt. Ihre Worte gingen allerdings beinahe in dem Lärm unter, den der Feuerball verursachte, der in diesem Moment über ihre Köpfe hinweg auf die beiden Askaban-Ausbrecher zuflog. Herr Tuplantis musste während seines Kampfs noch die Zeit gefunden haben, seine beiden Schüler etwas zu unterstützen.
Rowle und Dolohow hatten daraufhin auch erstmal alle Hände damit voll zu tun, die Flammen abzuwehren. Jan nutzte die Gelegenheit, sie mit einem Stupor noch etwas weiter zurückzudrängen. Doch selbstverständlich reichte das nicht aus, um den Kampf für sich zu entscheiden. Viel zu schnell standen die zwei ehemaligen Todesser wieder kampfbereit da. Während Rowle bereits wahllos Flüche von sich gab, die mehr als ausreichend waren, um sowohl Jan, als auch Marina im Schach zu halten, stand Dolohow regungslos da und richtete seinen Zauberstab konzentriert auf Jan. Was auch immer er plante, es musste ein ausgesprochen schwieriger Fluch sein. Einer, gegen den Jans einfache Abblockzauber keine Chance hatten.
Doch in diesem Moment kam etwas großes Weißes aus dem Schlund des Erkstags geschossen. Erst als sich ein knochiger Greifarm um Dolohows Körper wickelte und ihn mit einem markerschütternden Schrei in die Tiefe riss, verstand Jan, was gerade geschehen war. Rüdiger Repertor musste das Mantikorgerippe als seine persönliche Marionette zum Leben erweckt haben. Auch Thorfinn Rowle realisierte das gerade, denn er unterbrach seinen Fluchhagel auf Jan und Marina und blickte angsterfüllt dorthin, wo sein Mitstreiter gerade verschwunden war.
Marinas Entwaffnungszauber konnte er erst im letzten Moment abwehren. Seine Konzentration galt vielmehr dem Abgrund entgegen, wo jeden Moment ein neuer Greifarm auftauchen konnte. Doch als dies geschah, war er vorbereitet. Er feuerte eine ähnliche Salve an Zaubern auf die Knochen ab, wie Jan und Marina sie eben schon abbekommen hatten. Die Knochen allerdings verteidigten sich nicht. Jan musste mitansehen, wie seine sichergeglaubte Rettung in Stücke zerhauen wurde, die in alle Richtungen davonflogen – auch auf sie zu. Marina hingegen schien zu beschäftigt damit, einen weiteren Angriffszauber auf Rowle zu jagen, um das zu bemerken.
»Marina!«, rief Jan erschrocken und rannte zwischen sie und die tödlichen Splitter. Mit geschlossenen Augen und einem kraftvollen Flipendo versuchte er, sie zu beschützen.
Noch während er den Zauber aussprach siegte allerdings seine Neugier, sodass er die Augen öffnete. Tatsächlich stoben die Knochensplitter in alle Richtungen von ihnen davon. Er hatte es geschafft. Aber auch Rowle hatte den Greifarm mittlerweile zu Knochenmehl verarbeitet und sich sicherheitshalber wieder hinter dem Torborgen verborgen. Von dort aus fuhr er nun fort, wüst Flüche auf Jan und Marina zu feuern. Dabei ging er allerdings brachial und ohne wirklich viel nachzudenken vor.
Seine Flüche waren für Jan und Marina parierbar – und einige trafen nicht einmal sie, sondern prallten bereits am Torbogen wieder am und ließen die Wände bedrohlich wackeln. Dennoch waren es so viele, dass Jan bald vor lauter Anstrengung Schweißperlen auf der Stirn standen. Außerdem kamen sie so nicht vorwärts, da sie sich nicht trauten, den Torbogen, hinter dem er lauerte, zu passieren. Ein gewisser Abstand zu Rowle vermittelte Jan ein kleines Gefühl von Sicherheit. Aber der Kampf stagnierte somit. Und Pettigrew gewann Zeit, um mehr Anhänger auf sie zu schicken. Es musste etwas geschehen.
»Wollen wir uns trauen, an ihm vorbeizugehen?«, fragte Jan zwischen zwei Abblockzaubern.
Marina warf ihm nur einen kurzen Blick zu, aber der zeigte, dass sie von dem Gedanken nicht sonderlich begeistert war.
Während Jan noch überlegte, wie sie anders an Rowle vorbeikommen konnten, ertönte auf einmal ein Ruf vom obersten Ende der Spirale.
»Expelliarmus!«
Ohne dass Rowle etwas dagegen ausrichten konnte, wurde der Zauberstab seiner Hand entrissen und flog wie von Geisterhand bewegt auf einen Mann zu, der neben dem Eingangstor des Erkstags aufgetaucht war. Er trug ein dunkelblaues Jackett über einem kobaltfarbenen Hemd und eine auffällig runde Brille. Sein rabenschwarzes Haar sah aus, als hätte es schon ein paar Kämpfe heute mitgemacht oder noch nie eine Bürste gesehen. Ehe Rowle etwas ausrichten konnte, ließ er einen steinernen Vorhang aus dem Torbogen nach unten fallen – bis der Schwarzmagier vollkommen eingeschlossen war; ohne Zauberstab.
Jan sah mit weit geöffneten Augen auf die neu entstandene Wand. Er konnte nicht glauben, was gerade passiert war. Um sich zu vergewissern, dass Rüdiger Repertors Erfindung ihm keinen bösen Streich spielte, nahm er die Brille ab und klemmte sie sich in die Haare. Doch das Bild, das sich ihm bot, blieb gleich. Rowle war entwaffnet und eingesperrt worden.
Der Mann, der dafür verantwortlich war, eilte schon auf Jan und Marina zu, wobei er bereits im Laufen einen Zauber auf Herrn Tuplantis' Widersacher abfeuerte.
»Ms Johansen? Mr Maisner?«, fragte er, als er bei den Schülern angekommen war. Jan nickte zögerlich. Auch wenn er nicht in der Zaubererwelt großgeworden war, wusste er, dass der Mann vor ihm einer der legendärsten Zauberer aller Zeiten war.
»Harry Potter?«, fragte er, bevor er sich Gedanken über Höflichkeiten und Formalitäten machen konnte.
Der Mann lächelte.
»Ganz genau«, antwortete er mit einem leichten, englischen Akzent. »Ich leite die Aurorenzentrale Großbritanniens. Und heute bin ich gemeinsam mit meinen internationalen Kollegen hier, um Pettigrews Spuk ein für alle Mal ein Ende zu setzen.«
Er deutete auf die Gruppe Menschen, die nun hinter ihm den Eingang des Erkstags passierte und von dort aus Zauber auf Herrn Tuplantis' Gegner losschickten. Die beiden waren vorher schon ordentlich in die Defensive gedrängt worden, aber nun hatten sie endgültig keine Chance mehr. Sie flohen in den nächsten Torbogen. Jans Blick wanderte wieder zu den Auroren, die nun in ihre Richtung eilten. Er erkannte Svea Dreyer und Flavia Widmer unter ihnen – die anderen vier Zauberer kannte er nicht. Als die beiden Jan und Marina erreichten, strahlten sie die beiden überglücklich an.
»Ihr habt es geschafft!«, stellte Svea mit einem Strahlen auf ihrem Gesicht fest. »Und ihr seht noch erstaunlich unversehrt aus. Ist alles gut bei euch?«
»Uns geht es wirklich gut«, antwortete Jan. »Vielen Dank für euren Einsatz!«
»Das ist unser Beruf«, erwiderte Frau Widmer. Ihr Blick fiel auf Herrn Tuplantis und wanderte die Spirale hinab. »Aber wo ist denn Witold?«
»Er ist noch im Erkstag«, erklärte Herr Tuplantis mit bitterer Miene. »Wir sollten ihm zur Hilfe kommen.«
»Unbedingt«, stimmte Frau Widmer zu und betätigte ihr Mikro-Funkgerät. »Rüdiger; einmal ein Taxi bitte.«
Und während sich Jan noch fragte, was damit gemeint war, tauchte bereits ein knochiger Greifarm aus dem Schlund des Erkstags auf. Diesmal allerdings bewegte er sich deutlich langsamer als beim Angriff auf Dolohow, sodass Herr Tuplantis und Frau Widmer problemlos aufsteigen konnten. Dann erhoben sich die überaus lebendigen Knochen in die Höhe und bewegten sich genau in den Eingang, in dem sie Herrn Jorski zurückgelassen hatten. Ein weiterer Greifarm erschien kurz darauf und ließ zwei nordisch aussehende Aurorinnen darauf Platz nehmen.
Harry Potter sah seine verbleibenden Kollegen erwartungsvoll an.
»Folgen wir ihnen!«, entschied er aufbruchsbereit.
Während die zwei Auroren, die Jan nicht kannte, bereits in die Richtung des Briten liefen, blieb Svea, wo sie war.
»Geht ihr schonmal los!«, meinte sie. »Ich bringe erst noch die beiden Schüler hier raus zu Rüdiger. Sie waren lange genug im Erkstag.«
Potter nickte verständnisvoll und machte sich mit den zwei Männern auf den Weg hinter Herrn Tuplantis' Gruppe her. Svea hingegen stellte sich zwischen Jan und Marina, legte beiden von ihnen eine Hand auf den Rücken und führte sie langsam nach draußen.
»Ihr seid endlich wieder frei«, flüsterte sie ihnen zu.
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