Kapitel 39 - Kampf in den Wolken
Es war ein großer Vorteil, dass alle von ihnen beim Bau des Schiffes mitgeholfen hatten und Levi dank seiner Rolle als Ersatzhüter sogar schon einige Male mit dem Schiff geflogen war. So waren sie grob mit dem Aufbau und der Steuerung des Schiffs bekannt. Nichtsdestotrotz hatte Jan ein mulmiges Gefühl, während er hinter Lina als Zweiter aufs Deck des Quidditchschiffs stieg. Wesentlich schlimmer ging es allerdings Anna. Sie stand mit kreidebleichem Gesicht am Boden des Schuppens und selbst aus der Distanz konnte Jan sehen, dass ihre Hände zitterten.
»Du darfst nicht daran denken, dass wir gleich fliegen«, sagte Filio aufmunternd. »Schau mal, es ist ein Schiff, auf das wir hier steigen. Stell dir einfach vor, wir gehen an Bord einer Fähre, um gleich die Nordsee zu überqueren.«
Anna nickte zaghaft und ergriff die erste Sprosse der Strickleiter. Während sie diese langsam emporstieg, öffneten Levi und Hannes den Eingang des Schuppens. Ein Lächeln huschte über Jans Lippen, als er sah, wie die beiden gemeinsam ihre Stäbe auf das schwere Rolltor richteten und es mit angespanntem Gesichtsausdruck nach oben beförderten. Auch wenn Hannes immer wieder viel Zeit mit seinen Freunden aus Ehura verbrachte, zeigte er in schwierigen Momenten doch ganz zweifelsohne, dass er seinen Zimmergenossen Haistra ein mindestens genauso treuer Freund war.
Jan und Lina inspizierten in der Zwischenzeit schon einmal das Steuerrad. Es sah fast so aus, als wäre es einem Piratenschiff geklaut worden, aber da sie selbst die Sprossen des Rads gefertigt hatten, wussten sie es besser. Und auch die Steuerung funktionierte anders als bei herkömmlichen Schiffen. Das Steuerrad war nach Filios Entwurf an einem Kugelgelenk angebracht worden und konnte somit nicht nur nach links und rechts, sondern auch nach oben und unten lenken. Die Geschwindigkeit stellte man mit einem Hebel neben dem Steuerrad ein.
Sobald Levi und Hannes auch an Bord waren, übernahm Hannes das Lenkrad und Lina den Steuerhebel. Levi hingegen stellte sich hinter die beiden, um den Überblick zu behalten und bei Bedarf Anweisungen geben zu können. Jan und Marina bezogen am Heck des Schiffs Position, um rechtzeitig festzustellen, wenn sie verfolgt würden. Filio hingegen war mit Anna unter Deck gegangen, damit sie dort so wenig wie möglich vom Flug mitbekam.
Levi drehte sich noch einmal zu Jan und Marina um.
»Bereit?«, fragte er.
»Bereit«, bestätigte Marina, während Jan nicht mehr als ein schwaches Nicken zustande brachte. Die Sorge, was er tun sollte, wenn Pettigrews Leute sie tatsächlich entdecken und angreifen sollten, verknotete seine Stimmbänder regelrecht, sodass es ihm schwerfiel, etwas zu sagen.
»Dann wollen wir mal«, meinte Levi.
Mit konzentriertem Gesichtsausdruck legte Lina den Hebel für die Geschwindigkeit vor – und offenbarte dabei, dass sie das Quidditchschiff noch nie gefahren war. Anstatt sich langsam zu einer geeigneten Geschwindigkeit vorzutasten, hatte sie den Hebel einfach bis zur Hälfte nach vorne gelegt. Das Schiff beschleunigte wie ein Feuerblitz und Jann wurde gegen die Reling am Heck geschleudert. Er konnte noch sehen wie Lina panisch den Hebel zurückdrehte, aber da waren sie dem Tor schon viel zu nah.
»Nach oben!«, rief Levi geistesgegenwärtig – schließlich durften sie den Schiffsboden beim Verlassen des Tores nicht beschädigen. Sofort riss Hannes das Steuerrad nach unten. Doch auch er hatte es mit der Steuerung übertrieben. Ein ekliges Knacken ertönte. Das nächste, was Jan sah, war wie der Fahnenmast mitsamt Segel in die Schlucht unter ihnen stürzte, während das Schiff bedrohlich ins Wanken geriet.
Er hörte, wie Lina eine ganze Reihe unanständiger Flüche murmelte, während Hannes sich ausgiebig bei Levi entschuldigte.
»Macht nichts«, meinte der hingegen und winkte ab. »Das Segel war sowieso nur aus optischen Gründen da. Zum Fliegen braucht das Schiff hier ausschließlich Magie.
»Und wenn jemand im Schloss das Knacken gehört hat?«, fragte Hannes.
»Dann sollten wir sehen, dass wir zügig von hier verschwinden«, erwiderte Levi. »Kurs auf die Schlucht hinter dem nächsten Berg. Wir müssen aus dem Sichtfeld von Pettigrews Leuten gelangen!«
»Hört sich nach einem Plan an«, erwiderte Hannes und hielt das Lenkrad gerade und fest, während Lina diesmal betont vorsichtig den Hebel vorschob.
Zufrieden drehte sich Jan wieder um und ließ den Wind seine Haare verwehen. Beim Blick über die Reling wurde auch ihm ein wenig schwindelig. Sie waren Hunderte Meter über dem Fluss im Tal, der sich in einer rauschenden Strömung zwischen den Bergen schlängelte. An den Berghängen waren immer wieder kleine Wasserfälle zu sehen, die ins Tal stürzten und sich von dort aus ihren Weg in den großen Fluss bahnten. Gemeinsam mit den bunt blühenden Blumen zwischen den schroffen Felskanten bildeten sie eine malerische Atmosphäre.
»Wenn man nicht die ganze Zeit Angst haben müsste, dass gleich Pettigrews Unterstützer hinter uns auftauchen, dann könnte man die Fahrt wirklich genießen«, rief er Marina gegen den Flugwind zu.
»Oh ja, Jan, das stimmt!«, erwiderte sie mit strahlenden Augen. »Stell dir mal vor, hier mit einem Besen langzufliegen! Das wäre ein Traum!«
Jan schauderte es ein wenig bei dem Gedanken, hier mit einem Besen entlangzufliegen. Ohne Schutzzauber wie auf den Schulfeldern und stattdessen mit schroffen Berghängen und so großer Fallhöhe.
»Wenn wir das hier geschafft haben, ist Frau Widmer die letzte, die dir verbietet, das einmal auszuprobieren«, antwortete er daher ausweichend.
»Und jetzt nach links!«, kommandierte Levi. Im nächsten Moment wurde das Schiff schlagartig in der Luft gedreht – so heftig, dass sie nicht in das benachbarte Tal, sondern auf den Berg rechts von ihnen zusteuerten. Ein Ruck ging über das ganze Deck, als Hannes seinen Kurs schleunigst wieder korrigierte. Jan wollte nicht wissen, wie es Anna unter Deck ging.
»Sorry Leute«, ertönte kurz darauf die Entschuldigung von Hannes. »Das nächste Mal lenke ich vorsichtiger!«
»Ich wäre schonmal zufrieden damit, wenn du das Steuerrad beim Drehen auch wirklich festhalten würdest«, stichelte Lina. »Niemand von uns wird dich dafür bewundern, wie cool du beim Lenken aussahst, wenn wir deswegen gegen eine Felswand fahren.«
Hannes' Antwort darauf bekam Jan allerdings schon nicht mehr mit, denn in diesem Moment stieß Marina aufgeregt mit ihrem Ellenbogen gegen seine Schulter.
»Jan! Sieht du das auch da hinten?«
Mit ihrem anderen Arm deutete sie auf Nurmengard. Jan folgte ihrem Blick und wusste sofort was sie meinte. Zwei Gestalten auf Besen hatten sich bereits in die Luft erhoben – drei weitere folgten ihnen. Anhand der Tatsache, dass Jan das ohne Fernglas so klar und deutlich erkennen konnte, wusste er, dass ihr Vorsprung noch viel zu gering war. Sie hatten ein Problem.
Jan verfluchte die Entscheidung, in den Geheimgang aufzubrechen. Zu allem Übel war er es auch noch gewesen, der vorgeschlagen hatte, heute Morgen aufzubrechen. Warum hatte er das getan? Warum hatten sie in der Freistunde nicht einfach eine Runde Alraunengarten spielen können. Wenn auch nur einem von ihnen hier etwas geschah, dann war das seine Schuld.
»Wir werden verfolgt!«, rief er den drei am Steuerrad zu.
»Wie viele?«, kam es von Hannes zurück.
»Fünf Leute auf Besen.«
Es folgte ein verärgertes Knurren.
»Wir haben nicht zufällig Kanonen auf diesem Schiff?«, fragte Hannes.
»Leider nicht«, antwortete Levi und schaffte es dabei trotz der gefährlichen Situation noch ein Lachen in seine Stimme zu legen. »Ich fürchte, wir müssen ganz klassisch auf Zauber zurückgreifen. Ich würde Jan und Marina dabei mal unterstützen. Ihr zwei bekommt das Schiff auch ohne meine Anweisungen gesteuert, oder?«
»Ob das wirklich so ist, siehst du spätestens, wenn wir abstürzen«, erwiderte Lina. »Aber wir geben unser Bestes.«
»Dann geben wir auch mal unser Bestes«, meinte Levi und stellte sich mit einem aufmunternden Klatschen zwischen Jan und Marina. »Unser Vorteil ist, dass wir auf einem großen Schiff stehen. Sie haben nur wackelige Besen. Da reicht schon eine Beinklammer, um sie für einen ganzen Moment außer Gefecht zu setzen.«
»Sie haben es natürlich aber auch deutlich leichter, unser Schiff zu treffen«, gab Jan zu bedenken. »Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass ich es schaffe, sie auf ihrem Besen zu erwischen.«
»Das«, begann Levi nachdenklich, »ist zwar richtig, aber wir ignorieren es bestmöglich. Wir schaffen das schon. Petrificus Totalus!«
Jan und Marina taten es im gleich. Ihre Verfolger wichen den Zauber allerdings problemlos aus und schickten im Gegenzug eine Welle aus rotweißen Lichtblitzen auf ihr Schiff zu. Nur dank Hannes scharfem Wendemanöver entkamen sie dem Angriff. Damit beförderte er sie zudem hinter die Felswand des benachbarten Bergs, sodass sie erst einmal den Blickkontakt zu ihren Verfolgern verloren.
»Kannst du die Geschwindigkeit noch hochfahren, Lina?«, fragte Levi mit besorgtem Blick auf den Berghang, hinter dem jeden Moment ihre Verfolger wieder auftauchen konnten.
»Wir sind schon bei Höchstgeschwindigkeit«, gab die zurück. »Wenn ich den Hebel noch weiter nach vorne drücke, reißt er ab.«
»Dann müssen wir jetzt eine magische Meisterleistung vorführen«, stellte Levi fest. »Sie zielen deutlich besser als wir. Und ihre Zauber sind schon ziemlich krass. Ich würde vorschlagen, du und ich kümmern uns ab jetzt ausschließlich um die Verteidigung, Jan. Dann kannst du dich voll und ganz darauf konzentrieren, unsere Verfolger anzugreifen, Marina.«
»Hört sich nach einem Plan an«, erwiderte Marina und drehte ihren Zauberstab einsatzbereit in der Luft. »Obwohl ich merke, dass es mir echt ein bisschen schwerfällt, sie anzugreifen. Klar verfolgen sie uns und wollen uns aus irgendeinem Grund Schaden zufügen, aber trotzdem hätte ich ein echt schlechtes Gewissen, wenn ich jemanden von ihnen mit einem Sturz vom Besen in den Tod schicken würde.«
»Ein Sturz vom Besen bringt niemanden von ihnen um«, antwortete Levi. »So einen Arresto Momentum wird jeder von ihnen hinbekommen. Es geht nur darum, sie aufzuhalten.«
»Aber wie lange müssen wir sie eigentlich aufhalten?«, fragte Jan ratlos. »Haben wir irgendein Ziel vor Augen, das wir erreichen wollen?«
Levi sah ihn mit einem ratlosen Blick an, der so gar nicht zu ihm passte. Dazu schüttelte er leicht den Kopf.
»Nein, nicht wirklich«, gestand er. »Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir mit dem Schiff einfach weit genug wegfliegen, dann auf Besen umsteigen und zum österreichischen Zaubereiministerium fliegen. Aber da haben die fünf da uns einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht.«
Verbittert sah er zum Berghang, hinter dem auf einmal der erste der fünf Besenflieger auftauchte.
»Sie kommen!«, stellte er fest.
Marina war blitzschnell zur Stelle. Sie feuerte einen Schockzauber auf die benachbarte Felswand und ließ die dabei entstehenden Felsbrocken mit einem Wingardium Leviosa genau auf die nächsten ihrer Angreifer fliegen.
Während der erste von ihnen sich mit einem geschickten Zauber verteidigte, reagierte sein Hintermann zu spät. Der Angriff brachte seinen Besen aus dem Gleichgewicht und versetzte ihn in eine schwindelerregende Drehung, bei der er gegen einen seiner Mitstreiter stieß und sie gemeinsam in die Tiefe stürzte. Erst knapp vor der Wasseroberfläche fingen sie sich mit einem Zauber auf und setzten anschließend den Flug auf ihrem Besen fort.
»Das war Weltklasse, Marina!«, lobte Jan den unkonventionellen Einfall, auf den ihre Verfolger ganz offensichtlich nicht vorbereitet waren. Doch nicht nur sie hatte der Angriff abgelenkt, sondern auch Jan. Viel zu sehr auf die beiden getroffenen Flieger konzentriert, bemerkte er erst bei Levis »Achtung«, dass auch sie Opfer eines Angriffs geworden waren.
Eilig richtete er einen Protego gegen einen schwarzvioletten Lichtstrahl, der drohte in die Kapitänskajüte einzuschlagen. Den weißen Lichtblitz, der genau auf ihn zuschoss, bemerkte er allerdings zu spät. Als er seinen Zauberstab hob, spürte er bereits, wie ein merkwürdiges Kribbeln seine Stirn berührte und kurz danach wurde ihm ganz schwummrig zumute. Er sah wie Levi Marina etwas zurief und dann auf ihn zustürzte, um ihn zu stützen.
»Jan!«, rief er besorgt. »Jan, ist alles gut bei dir?«
Jan blinzelte einmal und sah nachdenklich zu Levi. Dafür, dass er gerade von einem vermutlich schwarzmagischen Zauber getroffen worden war, ging es ihm erstaunlich gut. Selbst das schwindelige Gefühl, dass die Welt um ihn herum sich drehte, verschwand auf einmal wieder. Er konnte klar und deutlich sehen und er glaubte auch klar und deutlich denken zu können.
»Ich... ich denke schon«, sagte er verwundert. Auch das ging erstaunlich einfach.
Levi sah ihn mit großen Augen an.
»Du siehst wirklich so aus, als wäre dir nichts passiert. Aber ich habe doch gesehen, wie dich der Zauber getroffen hat.«
»Vielleicht war es Pettigrews Praktikant, der ihn abgefeuert hat«, witzelte Jan.
Levi sah ihn mit einem Strahlen an.
»Dir geht es wirklich gut«, sagte er erleichtert und drückte ihn kräftig. »Wir müssen von jetzt an wirklich konzentrierter sein!«
Sie kehrten zurück zur Reling, wo auch Marina Jan mit großen Augen ansah.
»Jan! Was ist passiert?«
»Ich wurde... Protego! ... von einem Zauber getroffen. Aber irgendwie hat er nicht gewirkt. Mir geht es einwandfrei.«
Eine ganze Welle aus Angriffszaubern flog im nächsten Moment auf sie zu. Jan, Marina und Levi versuchten mit einigen fast schon synchronen Schutzzaubern ihr Bestes, aber sie konnten nicht verhindern, dass einer der Zauber das Heck des Schiffes traf. Ein gewaltiger Ruck ging durch das Schiff, dann war auf einmal ein Knistern zu hören. Der Geruch von Rauch stieg ihnen in die Nase. Jan musste nicht nach unten sehen, um zu wissen, dass ihr Schiff Feuer gefangen hatte.
»Wir brennen!«, rief Levi zu Hannes und Lina am Steuerrad.
»Also fliegen wir in den Fluss, um das Feuer zu löschen?«, fragte Hannes.
»Nein!«, widersprach Jan. »Wenn wir an Höhe verlieren, sind sie uns noch mehr im Vorteil.«
»Wenn wir in der Höhe verbrennen, haben wir überhaupt gar keinen Vorteil«, entgegnete Lina.
»Der Wasserfall!«, rief Levi in dem Moment und deutete auf einen Strom, der sich auf der gegenüberliegenden Bergseite über eine Klippe stürzte. Ohne etwas zu antworten, riss Hannes das Lenkrad um und wich damit gleichzeitig einer weiteren Attacke ihrer Angreifer geschickt aus.
»Das ist echt gut, wenn du solche Drehmanöver einbaust, Hannes«, erkannte Marina. »Das verwirrt sie. Mach weiter so!«
»Aye!«, rief Hannes in der Tonlage eines Piraten und machte eine weitere ruckartige Drehung auf den Wasserfall zu.
Jan und Levi wehrten unterdessen den nächsten Lichtblitz ab, während Marina ihre Angreifer mit ein paar Ganzkörperklammern wieder in die Defensive drängte.
Doch mittlerweile waren die beiden verunglückten Flieger wieder zu ihren Kameraden aufgeschlossen. Gegen fünf vollausgebildete Zauberer hatten sie keine Chance. Auch Marina musste bald wieder bei der Verteidigung mithelfen. Erschwert wurde diese dadurch, dass der Rauch ihnen zunehmend die Sicht versperrte.
Doch plötzlich sahen sie auch bei ihren Verfolgern ein rotes Leuchten aufglimmen. Dann ein zweites. Und ehe sie sich versahen, standen zwei der Besen ihrer Widersacher lichterloh in Flammen. Während einer der Zauberer seinen Brand schnell wieder löschte, verlor der andere vollkommen die Kontrolle über seinen Besen und begann in Schlangenlinien mit seinem Besen durch die Luft zu trudeln. Den Moment der Überraschung nutzte Marina, um einen weiteren ihrer Verfolger mit einem Expelliarmus seines Zauberstabs zu erleichtern.
»Achtung jetzt wird's unbequem!«, durchbrach Hannes Stimme im nächsten Moment ihre Euphorie. Noch ehe jemand fragen konnte, was er damit meinte, drehte sich das Schiff nicht nur nach links, sondern geriet auch massiv in Schräglage. Jan, Levi und Marina klammerten sich mächtig an der Reling fest, während Hannes das schiefe Schiff unter dem Wasserfall hindurchsteuerte und danach wieder geraderückte.
»Anders wären wir gegen die Felsen geschrammt«, meinte er zur Entschuldigung, während Lina die Geschwindigkeit wieder auf das Maximum stellte und er damit fortfuhr, sie in wilden Schlangenlinien durch die Schlucht zu jagen.
Zufrieden stellte Jan fest, dass Hannes' geschicktes Manöver tatsächlich ausgereicht hatte, um das Feuer zu löschen. Aber noch immer sah es nicht so aus, als würden sie in absehbarer Zeit ihre Verfolger abschütteln können. Zwar hatten sie durch das überraschende Feuer an deren Besen und Marinas Entwaffnungszauber wieder etwas Distanz zwischen sie bringen können, aber auch sie schienen ihr Feuer mittlerweile gelöscht zu haben und holten jetzt wieder auf. Jan merkte, dass langsam seine Kräfte ausgingen. Trotz des kalten Flugwinds spürte er Schweißtropfen von seiner Stirn perlen und fragte sich, wie lange er das noch durchhalten würde.
»Protego!«, schrie er abermals, um einen weiteren Angriff abzuwehren.
In diesem Moment hörte er laute Schritte auf dem Deck. Er musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass sie von Filio stammten.
»Fahrt langsamer!«, rief im nächsten Moment die passende Stimme dazu.
Als Antwort kam ein Schnauben von Lina
»Aber selbstverständlich doch. Was sollen wir noch machen? Die weiße Fahne hissen?«
»Geht es Anna nicht gut?«, fragte Levi zwischen zwei Schutzzaubern mit einem besorgten Unterton.
»Anna geht es nicht gut, seitdem wir das Schiff betreten haben«, entgegnete Filio. »Aber darum geht es nicht. Sie hat vorgeschlagen, die ganze Umgebung hier mit einem Nebulus zu verstecken. Dann können wir unbemerkt auf Besen fliehen. Aber sobald der Nebel auftaucht, müssen wir das Tempo runterfahren. Nicht, dass wir gegen eine Felswand krachen.«
»Ein Nebulus?«, fragte Marina. »Aber den können wir doch gar nicht. Schon gar nicht gut genug, um alles hier in Nebel zu setzen.«
»Anna kann das. Sie hat mal einen Roman gelesen, wo die Hauptfigur das in vielen brenzlichen Situationen gemacht hat und dann wollte sie das auch können. Sie hat das wohl die ganzen letzten Sommerferien geübt.«
»Aber bringt der Nebel denn wirklich was?«, fragte Hannes, der das Schiff nach wie vor mit halsbrecherischen Manövern durch die Schlucht steuerte. »Mit einem Homenum Revelio können sie uns doch trotzdem finden.«
»Anna meinte, der wäre nicht für so einen Kampf geeignet. Der dauert wohl zu lange und fordert höchste Konzentration. Außerdem ist Titus Pettigrew nicht bei ihnen. Wir gehen davon aus, dass niemand von seinen Unterstützern den auch kann. Schließlich ist es einer der kompliziertesten Zauber, die es gibt.«
»Hört sich echt gut durchdacht an«, meinte Marina. »Ich finde die Idee gut. Schafft Anna das denn in ihrem aktuellen Zustand?«
»Sie will es versuchten.«
»Wir wünschen ihr viel Erfolg!«, sagte Levi.
»Und bis sie fertig ist, geben wir noch einmal alles«, stimmte Hannes zu. »Lina, bist du sicher, dass der Hebel nicht noch ein bisschen weiter nach vorne geht?«
»Wenn ich die Halterung breche, sollten da noch ein paar Geschwindigkeitsreserven auftauchen.«
»Aber nicht vergessen! Wenn der Nebel eintritt, müsst ihr sofort langsam werden«, rief Filio ihnen noch zu, während er wieder unter Deck verschwand.
Levi sah Jan und Marina aufmunternd zu.
»Noch einmal alles geben!«, meinte er und klatschte motivierend in die Hände. Direkt aus der Klatschbewegung hinaus feuerte er einen Schockzauber auf die Verfolger – Jan und Marina schlossen sich ihm sofort an. Lina hatte unterdessen tatsächlich den Hebel irgendwie weiter nach vorne geschoben, denn langsam nahm das Schiff Geschwindigkeiten einer Achterbahn an. Hannes' wilde Kurven sorgten dafür, dass Jan sich tatsächlich so fühlte, als wäre er im Europapark. Im nächsten Augenblick hatte er dann das Gefühl, er wäre in eine Geisterbahn umgestiegen. Denn augenblicklich füllte sich der ganze Talboden mit Nebel. Mit rasanter Geschwindigkeit stiegen die Wolken nach oben und innerhalb von wenigen Sekunden war ihre gesamte Sicht verdeckt.
Ein kräftiges Ruckeln verriet, dass Lina das Schiff gebremst hatte. Nur weil er sich kräftig an der Reling festgehalten hatte, fiel Jan nicht um.
Etwas eingeschüchtert sah er sich um. Selbst Hannes und Lina konnte er nur noch als schwache Silhouetten im Nebel erkennen. Anna hatte ganze Arbeit geleistet. Dass sie und Filio das Deck betraten, konnte man nur anhand ihrer Schritte hören. Sehen konnte Jan die beiden erst, als sie sich alle bei Hannes und Lina am Steuerrad trafen.
»Das war klasse, Anna!«, lobte Levi begeistert.
»Aber echt!«, bekräftigte Marina.
Filio übertönte Jans Zustimmung, indem er drei Besen auf den Boden fallen ließ.
»Mehr konnte ich nicht tragen«, schnaufte er.
Er verteilte seine Ausbeute an Hannes, Levi und Lina.
»Ich hole schnell noch zwei.«
»Zwei?«, wiederholte Lina skeptisch und zählte mit dem Finger durch die Runde.
»Wir wollten fragen, ob wir bei jemandem von euch mitfliegen könnten«, erklärte Filio. »Anna und ich sind beide nicht die besten Flieger. Wie wir im Nebel auch nur annähernd irgendwo ankommen sollen, ist uns ein Rätsel.«
»Alles gut, du kannst bei mir mitfliegen«, sagte Levi und winkte ihn zu sich.
»Ich nehme dich mit, Anna«, bot sich Lina an.
»Dann fliegt schonmal los«, entschied Jan. »Wir holen uns noch Besen und dann folgen wir euch.«
Im Nebel konnte Jan nur sehen wie Lina sich zu ihm umdrehte, aber er konnte sich ihren skeptischen Blick nur zu gut vorstellen.
»Wie wollt ihr uns denn in dem Nebel hier finden?«
»Wir sollten uns einen Treffpunkt überlegen«, meinte Hannes. »Was haltet ihr davon, wenn wir erstmal zu der Felskante über dem Wasserfall von eben fliegen. Die finden wir gut, weil man das Rauschen von dem Wasserfall bis hierhin hört. Da überlegen wir dann, wo es weitergeht.«
»So machen wir es«, stimmte Levi zu und hielt seinen Besen Filio hin. »Legen wir los!«
Auch Hannes klemmte sich seinen Besen bereits zwischen die Beine. Lina und Anna hatten noch ein wenig Schwierigkeiten, weil Anna so stark zitterte, dass Jan fürchtete, ihre Beine würde sie nicht halten. Lina hatte eine herausfordernde Aufgabe vor sich.
Jan und Marina liefen an ihnen vorbei und gelangten über die Treppe unter Deck.
»Wir hätten fragen sollen, in welchem Raum Filio die Besen gefunden hat«, stellte Marina fest.
Jan warf einen Blick auf die vom Nebel verschleierten Türen.
»Stimmt. Aber in einem Quidditchschiff werden wir schon irgendwo Besen finden, oder?«
Marina lachte kurz auf. Und als würde Jans Herz wegen der ganzen Aufregung nicht ohnehin schon viel zu schnell schlagen, spürte er es jetzt noch einmal besonders heftig pulsieren.
Er öffnete die erste Tür zu seiner linken, fand darin allerdings nur die portablen Torringe. Die halfen ihm jetzt gar nichts. Ohne den Raum noch eines Blickes zu würdigen, ging er zur nächsten Tür.
Im Flur stieß er fast mit Marina zusammen, die aus dem Raum gegenüber gelaufen kam.
»Auch nichts«, berichtete sie.
In der nächsten Kammer erwartete Jan bloß ein Tisch mit Stühlen – warum baute man so etwas in das Tribünenschiff ein? Sein verärgertes Schnauben wurde von Marinas Rufen übertönt.
»Gefunden!«
Erleichtert lief Jan zur Tür hinaus und nahm den Besen entgegen, den Marina ihm reichte. Es war ein älterer Komet, aber er wirkte so, als sollte er in der Lage sein, Jan zum Wasserfall zu bringen. Dennoch hatte er Angst. Und die wurde noch einmal deutlich größer, als er Stimmen hörte, während sie wieder aufs Deck liefen. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber sie gehörten definitiv keinem ihrer Freunde. Das konnte nur eins bedeuten – Pettigrews Verfolger waren ganz in der Nähe. Mit seiner linken Hand ergriff er das Treppengeländer – aus Angst, seine Beine könnten jeden Moment vor Angst einknicken. Mit dem Besen in der rechten Hand stützte er sich zusätzlich ab. Er fühlte sich gebrechlich wie ein alter Mann, während er so die Treppe emporstieg.
Als er oben angekommen war, zerriss eine weitere Stimme die Luft. Doch Jan versuchte gar nicht erst, sie zu verstehen. Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Er hatte schon zwei Begegnungen mit Pettigrew selbst überstanden. Selbst wenn er auch unter den Verfolgern hier war – sagte man nicht, dass alle guten Dinge drei waren?
Doch als er die Augen wieder öffnete und gerade zu Marina gehen wollte, die bereits am Rand des Decks stand, kam in ihm ein ganz unwohles Gefühl auf. Was war, wenn er bei diesem Fluchtversuch ums Leben kam und Marina niemals sagen konnte, wie sehr er sie mochte? Wenn er starb und ihr nie gesagt hätte, wie sein Herz pulsierte, wenn sie ihn anlächelte?
Als Marina ihn aufmunternd ansah und ein »Bereit?« von sich gab, fühlte sich Jan, als ob sein Kopf sich von selbst schütteln würde.
»Einen Moment noch, Marina«, hörte er sich sagen. »Du weißt, ich bin nicht der beste Flieger und ich bin ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob ich das hier überlebe, besonders, wenn ich bedenke, dass die Besen gleich unser kleinstes Problem sind.«
»Ich finde, du hast in den letzten anderthalb Jahren echt gut fliegen gelernt«, entgegnete Marina. »Aber wenn du magst, kannst du auch bei mir mitfliegen.«
»Das meinte ich gar nicht«, antwortete Jan zögerlich. »Ich wollte dir nur noch etwas sagen, bevor wir losfliegen.«
Doch jemand fiel Jan ins Wort. Er rief die zwei Worte, die Schaden anrichteten, wo auch immer sie nur hinkamen – »Bombarda Maxima!«
Im nächsten Moment explodierte das Schiff. Dielen barsten, flogen durch die Luft und fielen in die Tiefe. Ohne dass sie etwas dagegen ausrichten konnten, wurden Jan und Marina vom Deck geschleudert. Und dann fiel Jan. Sobald er das realisierte, fing er an zu schreien. Er schrie nicht um Hilfe, keine sinnvollen Wörter, er schrie einfach seine Angst aus dem Hals. Und damit schrie er auch seinen Verstand wach.
Denn plötzlich realisierte er, dass er doch noch den Besen in der Hand hielt. Er war dem Tod noch nicht hoffnungslos ausgeliefert. Und solange er noch klar denken und handeln konnte, würde er etwas tun. Entgegen der immensen Kraft des Winds, der ihm beim Fallen entgegenwehte, bewegte er seinen Besen zwischen seine Beine und ergriff dann mit beiden Armen fest den Stiel. Doch noch lange brachte er kein Fliegen zustande. Der Besen hing über ihm in der Luft und es fühlte sich so an, als versuchte Jan sich an ihm festzuhalten, obwohl sein Fluggerät doch genauso fiel wie er.
Er mobilisierte seine letzten Kraftreserven, um sich mitsamt Besen in der Luft umdrehen, dann riss er den Stiel des Komets in die Höhe. Er spürte, wie der Wind nach wie vor wild um ihn tobte, aber die Adrenalinüberflutungen wie bei einer nie enden wollenden Fahrt in einem Freefall-Tower, hörten plötzlich auf. Jan drehte seinen Kopf nach links und nach rechts – nach wie vor war um ihn herum nichts als Nebel – aber die Schwaden bewegten sich nicht mehr in Rekordgeschwindigkeit an ihm vorbei. Das konnte nur eins bedeuten – er flog tatsächlich!
Ganz vorsichtig hielt er den Besenstiel nach links und nach rechts, nur um zu sehen wie sich seine Fahrtrichtung daraufhin tatsächlich änderte. Er flog! Er lebte! Doch seine Euphorie schwand, als er an Marina dachte. Wo war sie nur? Sie hatte es doch nicht etwa nicht geschafft, sich auf ihren Besen zu retten! Jans Herzschlag setzte für einige Sekunden aus. Das durfte nicht sein! Marina durfte nicht gestorben sein – schon gar nicht, weil er sie vom Losfliegen abgehalten hatte. Ohne dass er etwas dagegen tun konnte, bildeten sich Tränen der Verzweiflung auf seiner Wange.
»Marina!«, schrie er gegen alle Vernunft an, die ihm sagte, jetzt bloß leise zu sein. »Marina!«
Er konnte nicht wissen, dass Celia Ivyng Marina während ihres Falls abgefangen und danach an den Besen von Thorfinn Rowle gefesselt hatte. Bei Jans Rufen bildete sich ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen.
»Wie niedlich«, flüsterte sie Marina zu. »Dein Freund ruft nach dir. Zum Glück sind wir keine Unmenschen. Wir wollen euch nicht länger voneinander trennen.«
Sie gab dem Zauberer, der mit seinem schulterlangen, dunkelbraunen und vom Wind verwehten Haar dicht neben ihr flog ein Handzeichen. Schon kurz darauf ließ er Jan mit einem gezielten Zauber das Bewusstsein verlieren. Celia hatte sich unterdessen schon auf den Weg zurück nach Nurmengard gemacht, um ihrem Verlobten die frohe Kunde auszurichten.
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