Kapitel 38 - Flucht aus Nurmengard
Eilig folgten die jungen Haistras Frau Widmer. Auch Filio und Hannes wirkten mittlerweile restlos überzeugt. Jan konnte sie nur zu gut verstehen. Frau Widmers Geschichte hatte wie ein Deckel auf den überkochenden Topf an offenen Fragen gepasst, der sich im Laufe des Schuljahres immer weiter gebildet hatte. Aber was es mit Herrn Grindelwald auf sich hatte, konnte Jan sich nach wie vor nicht erklären. Er fragte sich, woher Frau Widmer die Überzeugung nahm, dass der Schlossbesitzer in einen Kampf mit Yaxley verwickelt war. Genauso gut konnte er doch auch einfach das weitere Vorgehen mit ihm besprechen.
Doch die Geheimagentin wirkte überaus entschlossen. Als sie bei dem Kiosk ankam, warf sie einen kurzen Blick durch die Gucklöcher, dann richtete sie ihren Zauberstab auf die Wand und zeichnete ein Rechteck ein. Dort wo sie die Wand bereits berührt hatte, hinterließ sie eine tiefe Linie, so als würde sie einen Plätzchenteig schneiden und nicht eine dicke Steinwand.
Nachdem das Rechteck fertig war, flüsterte sie etwas und tippte es an. Ein Türgriff entstand in der Mitte der markierten Fläche.
»Lina, schau du bitte durch das Spionagefenster hier«, wies Frau Widmer die Schülerin an. »Wenn Yaxley besiegt ist, könnt ihr nachkommen.«
Sie selbst spähte noch einmal durch die beiden Öffnungen, dann trat sie eilig durch die eben erstellte Tür.
»Die Frau ist der Wahnsinn«, kommentierte Lina, die wie angewiesen bei dem Spionagefenster Position bezogen hatte. »Sie treibt Yaxley mit ihren Sprüchen in die Enge, als wäre er ein Erstklässler. Jetzt ist er entwaffnet, mit einem Silencio belegt und an Noras Stuhl gefesselt.«
»Also können wir ihr folgen?«, fragte Jan.
»Spricht nichts mehr dagegen«, erwiderte Lina.
Hannes war bereits dabei, die Tür von Frau Widmer wieder zu öffnen und in den Kiosk zu gehen.
»Vorsicht, hoher Absatz«, warnte er sie, nachdem er selbst fast in den Raum hineingefallen wäre. Dementsprechend vorsichtig folgten ihm Jan und seine Freunde in den Kiosk, der fast nicht mehr wiederzuerkennen war. Regale lagen quer übereinander oder zersplittert auf dem Fußboden. Bücher und deren Seiten bedeckten den Boden wie Konfetti. In der großen X-Potion-Ausstellwand klaffte ein riesiges Loch, welches das X mehr wie ein übergewichtiges Strichmännchen aussehen ließ. Inmitten dieser Verwüstung entdeckten sie Herrn Grindelwald und Frau Widmer. Der Schlossbesitzer hatte sich auf die Schulter der Geheimagentin gestützt und blutete stark aus einer Wunde an der Stirn. Als er bemerkte, wie sie sich ihm näherten, sah er Frau Widmer überrascht an.
»Ich dachte, alle Schüler wären evakuiert worden.«
»Diese sieben hier waren in deinen Geheimgängen, als die Durchsage kam«, erklärte sie. »Deswegen haben sie nichts mitbekommen. Aber außer uns ist tatsächlich das ganze Schloss evakuiert. Der Zugang zu Winterfels ist gekappt. Wenn wir jetzt auch noch in Sicherheit sind, war unser Vorhaben mehr als erfolgreich.«
Während sie redete, waren ihre Augen konzentriert auf ihre Karte gerichtet.
»Dann wünsche ich euch viel Erfolg bei eurer Flucht«, erwiderte Herr Grindelwald und richtete sich langsam wieder auf. »Wenn alles funktioniert, dann sehen wir uns heute Abend wieder.«
Frau Widmer sah ihn entrüstet an.
»Du kommst mit uns, Manuel!«, sagte sie bestimmt. »Was willst du denn sonst machen?«
Herr Grindelwald schüttelte den Kopf und vermied es dabei, seine Gesprächspartnerin anzusehen.
»Es tut mir leid, Flavia. Aber das hier ist das Schloss meiner Familie. Meiner ehrwürdigen Vorfahren. Und es ist Schande genug, dass Gellert es auf der ganzen Welt so in Verruf gebracht hat. Ich werde nicht zulassen, dass Nurmengard wieder zum Quartier schwarzer Magier wird. Und wenn ich bei dem Versuch, die Ehre meiner Familie zu retten, sterbe!«
Er ballte entschlossen die Fäuste und wagte es endlich, Frau Widmer ins Gesicht zu sehen.
»Es tut mir leid, Flavia«, wiederholte er. »Aber ich muss es tun.«
Mit diesen Worten drehte er sich um und bahnte sich einen Weg durch die am Boden liegenden Regalbretter.
»Manuel!«, rief die ihm hinterher und schickte einen Zauber auf ihn los, den er allerdings problemlos abwehrte, ohne auch nur hinzusehen. »Manuel, das ist Unsinn, was du da vorhast.«
Doch Herr Grindelwald war bereits hinter der nächsten Biegung verschwunden.
Frau Widmers Blick wanderte voller Entsetzen auf ihre Karte und dann zu Jan und seinen Freunden.
»Er ist völlig geblendet von diesem Ziel, den Ruf seiner Familie wiederherzustellen. Er kann niemals gegen so viele ankommen. Er hätte einfach mit uns kommen sollen!«
»Aber denken Sie nicht, dass sie zu zweit sehr wohl eine Chance hätten?«, fragte Levi. »Natürlich sind Pettigrews Leute in der Überzahl, aber Sie und Herr Grindelwald haben den Heimvorteil. Sie kennen die Geheimgänge und haben die Karte, mit der sie Pettigrews Leuten immer einen Schritt voraus sind.«
»Sicher hätten wir eine Chance. Aber ich kann euch doch nicht so einer großen Gefahr aussetzen. Ihr müsst Nurmengard so schnell es geht verlassen. Und alleine ist das viel zu gefährlich für euch.«
»Ich hätte da eine Idee, wie wir es vielleicht ganz unbeschadet schaffen können, das Schloss zu verlassen«, erzählte Levi mit einem kämpferischen Lächeln auf dem Gesicht. »Etwas weiter unten am Berg in diesem Schuppen ist das Quidditchschiff gelagert. In diesem Schuppen ist auch ein Portait von Hans-Herbert Grindelwald, was für mich bedeutet, dass der Geheimgang dorthin führen muss. Wenn wir durch den Geheimgang in den Schuppen kommen, können wir dort in das Schiff steigen und damit fliehen.«
»Ihr wollt mit einem fliegenden Schiff fliehen?«, wiederholte Frau Widmer. Auf ihrer eigentlich makellosen Haut an der Stirn bildeten sich Falten. »Wenn das ein paar Muggeltouristen sehen und ins Internet stellen, können wir jede Geheimhaltung vergessen.«
Sie schüttelte den Kopf und hob ein Buch mit der Aufschrift zauberhafte Gerichte vom Boden auf.
»Aber die Geheimhaltung steht auf meiner Prioritätenliste unter Menschenleben«, fuhr sie dann fort und riss eine Seite aus dem Buch. Mit einem geschickten Schwenk ihres Zauberstabs färbte sie das Papier weiß und kopierte mit einer weiteren Bewegung einen Teil ihrer Karte auf die Seite. Dann malte sie mit ihrem Zauberstab einen verschnörkelten, roten Strich.
»Das ist der Geheimgang, den ihr nehmen müsst«, erklärte sie und reichte Levi die Karte. »Pettigrews Leute dürften den Geheimgang nicht kennen – ihr seid dort also sicher. Und geht bitte keine Umwege! Ich weiß, dass ihr eine gewisse Vorliebe für Abenteuer habt, aber jetzt ist definitiv der falsche Zeitpunkt dafür!«
»Wir versprechen Ihnen, dass wir keinen Meter gehen werden, den wir nicht unbedingt brauchen«, versicherte Levi. »Glauben Sie uns, in so einer Situation ist auch uns die Abenteuerlust vergangen.«
Auf Frau Widmers Gesicht bildete sich ein leichtes Lächeln.
»Ich glaube fest daran, dass ihr das schafft. Viel Erfolg!«
»Den wünschen wir Ihnen auch«, erwiderte Marina stellvertretend für sie alle. Dann trennten sich ihre Wege. Frau Widmer folgte Herrn Grindelwald ins Innere von Nurmengard hinein, während die sieben Freunde aus Haistra sich wieder in den Geheimgang begaben.
»Wir müssen nach rechts«, erkannte Levi mit Frau Widmers Karte in der Hand. »Wieder zurück zum Treppenhaus und dann drei Stockwerke nach unten. Danach führt der Gang wohl kurz an den Schlafräumen vorbei und dann mitten durch den Berg in Richtung Schuppen.«
Eilig liefen sie geradeaus. Nur selten hielt jemand von ihnen kurz an, um durch die Spionagefenster zu sehen – und wenn doch mal jemand einen Blick hindurch warf, dann fand man überall das gleiche Bild vor – Leere und vereinzelt auch Zerstörung.
Von Frau Widmer und Herrn Grindelwald sahen sie nichts mehr.
»Nach diesem Schuljahr gebe ich jegliches Verdächtigen endgültig auf«, meinte Jan, während sie das Treppenhaus betraten. »Frau Castor und Herr Grindelwald, die beiden merkwürdigsten Personen dieses Schuljahr sind die einzigen, die hier noch die Stellung halten. Und Herr Moos, den ich wirklich nett fand, hat uns einfach an Pettigrew verraten.«
»Frau Widmer hatte schon recht, eine Karriere als Privatdetektiv würde ich dir auch nicht empfehlen«, witzelte Lina.
»Dem schließe ich mich an«, sagte Jan lachend. »Sonst täte mir Herr Jorski auch wirklich ein bisschen leid. Er würde auf Schritt und Tritt verfolgt werden.«
Es war das erste Mal, dass er selbst einen Witz über sein krampfhaftes Festhalten an seinem Herr-Jorski-Verdacht im letzten Jahr machte. Und irgendwie fühlte es sich unfassbar befreiend an. Es war ein Schritt weg von der Selbstüberzeugung und dafür ein Schritt in Richtung Einsicht, dass er mit seinem ersten Bauchgefühl einfach oft falschlag.
»Auch wenn er nicht mit Pettigrew verbündet ist, bleibt Herr Grindelwald aber ein komischer Vogel«, meinte Hannes. »Ich weiß nicht, warum er seine Vorfahren so toll findet, aber wenn er weiterhin bedingungslos versucht, das Image seiner Familie wiederherzustellen, wird ihn das noch in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.«
»Seine Grundidee ist ja nicht einmal schlecht«, wandte Levi ein. Gerade passierten sie den Ausgang des Treppenhauses im zweiten Untergeschoss. »Aber er überstürzt es einfach. Ich denke, es dauert noch ein paar Generationen bis die moderne Familie Grindelwald sich wieder vollständig in der modernen Zaubererwelt etabliert hat.«
»Genau das ist wahrscheinlich sein Problem«, erwiderte Anna. Angesichts des bevorstehenden Flugs klang ihre Stimme noch einmal leiser als normalerweise. »Er ist der letzte Nachfahre seiner Familie. Wenn er es nicht schafft, den Namen Grindelwald wieder reinzuwaschen, wird er für immer mit Gellert Grindelwald assoziiert werden.«
»Das heißt, er wird heute echt alles geben, um Pettigrew zu besiegen und als Held in die Geschichte einzugehen?«, mutmaßte Marina.
»Nicht unwahrscheinlich«, gab Levi zurück. »Aber wenn man bedenkt, wie viele Leute schon daran gescheitert sind, Pettigrew zu schnappen, dann hat er sich da ganz schön was vorgenommen. Sobald wir mit dem Schiff irgendwo in Sicherheit angekommen sind, müssen wir die Aurorenzentrale alarmieren.«
Das heißt, wir beeilen uns und hoffen, dass Frau Widmer und Herr Grindelwald so lange durchhalten«, fasste Jan den Plan zusammen. Levi nickte. Sie verließen das Treppenhaus und traten in einen langen Korridor. Nur eine spärliche Beleuchtung flackerte auf, als sie Levi bei der nächsten Gabelung nach rechts folgten. Es wirkte ganz so, als hätte diesen Gang schon lange niemand mehr genutzt und gewartet.
»Jetzt wird's unheimlich«, witzelte Filio.
»Es ist auch mit Licht schon unheimlich genug«, erwiderte Lina schnippisch und entzündete mit einem Lumos ein Licht an ihrem Zauberstab.
Levi und Anna taten es ihr gleich. Im nun schon heller beleuchteten Gang, folgten sie Frau Widmers roter Linie in Richtung Schuppen. Allerdings wäre die Karte ab der Gabelung nach dem Treppenhaus gar nicht mehr notwendig gewesen. Ohne Abzweigungen und große Biegungen ging es geradeaus, vorbei an Spinnweben und vereinzelt funktionierenden Deckenspots. Jan fühlte sich wie in einem Gruselfilm.
Doch er wusste, dass sie ein Horrorfilm erwarten würde, wenn sie nicht durch diesen Gang in den Schuppen entflohen. Und so folgte er dem Licht, das die Zauberstäbe seiner Freunde spendeten, und lief mit ihnen schweigend den schmalen Weg entlang bis sie vor einer stählernen, rostigen Tür ankamen.
»Entdecker Filio?«, fragte Levi und machte eine einladende Geste. »Eine Aufgabe für dich?«
Jan bewunderte ihn für die Leichtigkeit in seiner Stimme – mitten in dieser brandgefährlichen Situation. Selbst aus Filios Gesicht war jegliche Abenteuerlust gewichen.
»Um ehrlich zu sein würde ich es bevorzugen, diese Türe nicht zu öffnen«, gestand der. »In diesem gruseligen Gang fühle ich mich erstaunlich geschützt im Vergleich zu dem, was uns da draußen erwartet.«
»Wir müssen Hilfe für Herrn Grindelwald und Frau Widmer holen«, erinnerte ihn Levi. »Nicht nur aus Nächstenliebe, sondern auch für uns selbst. Wenn Pettigrew die beiden besiegt und Frau Widmers Karte in die Hand bekommt, findet er uns schneller als Fiete Beck einen Schnatz fängt.«
»Ich weiß, Levi«, sagte Filio niedergeschlagen. »Ich weiß. In solchen Situationen wird mir nur immer bewusst, wie gerne ich mein Leben doch mag. Solche Gedanken machen mich ungewohnt zögerlich. Aber natürlich hast du recht. Entern wir uns ein Schiff!«
Mit einem neu erstarkten Lächeln und einer steifen Handbewegung, als besäße er statt Fingern bloß einen Eisenhaken öffnete er die rostige Tür. Helles Licht kam ihnen entgegen. Vorsichtig spähte Filio durch die Tür.
»Wir befinden uns hier in luftiger Höhe«, stellte er fest. »Gut vier Meter über dem Boden. Aber vor uns liegt der Schuppen mitsamt Quidditchschiff. Und außer uns ist niemand hier.«
»Aber wie sollen wir denn da runterkommen?«, fragte Jan und trat neben Filio, sodass er selbst einen Blick bekommen konnte. Der Begriff ›Schuppen‹ war für diesen Raum ähnlich unpassend wie ›Kiosk‹ für den Laden von Nora und Leander. Vielmehr glich die große Halle hier einer Werft, in der das Becken gerade trockengelegt worden war, um die Unterseite des Schiffs zu inspizieren. Den Abstand vom Boden bis zur Decke schätzte Jan auf fast zehn Meter. Und irgendjemand war auf die Idee gekommen, den Eingang zur Geheimtür auf halbe Höhe der Wand zu setzen.
»Gibt es irgendeinen Gegenzauber für den Duro?«, überlegte Lina. »Irgendwas womit wir den Boden da unten weicher machen können?«
»Warum denkst du denn immer so kompliziert, Lina?«, fragte Filio mit einem schelmischen Grinsen. Die Angst, die man eben noch aus seiner Stimme herausgehört hatte, war angesichts des bevorstehenden Erfolgs schon fast wieder vollständig verschwunden. Er griff in eine Tasche seiner Cargohose und zog ein sehr kurzes Seil hervor. Er nahm in jede Hand eines der Enden und zog dann daran. Wie ein Kaugummi dehnte sich das Seil auf die doppelte Länge aus und blieb auch so, als Filio es kurz darauf wieder losließ.
»Als würde ich einen Geheimgang ohne entsprechende Ausrüstung betreten«, meinte er mit überspitztem Entrüsten. »Das nie endende Seil kann man immer gebrauchen! Willst du zuerst, Jan?«
Etwas zögerlich nickte der Angesprochene. Auch wenn er sich nicht ganz wohl dabei fühlte, denn vermeintlich schützenden Geheimgang zu verlassen, klammerte er sich am Filios Seil und ließ sich damit an der Wand herunter. Jetzt war keine Zeit für Zweifel. Es war Zeit für die Flucht aus diesem Schloss.
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