Kapitel 35 - Erwin Orth
Erwin Orth hatte sein Leben dem Schlangenauge gewidmet. Er hatte das Lokal mit zweiundzwanzig Jahren gegründet, nachdem er es mit Ach und Krach zu einem ausreichenden Abschluss in Winterfels geschafft hatte und danach schon einige Jahre in verschiedenen Restaurants des Nord-Kaufhauses gekellnert hatte. Die ersten Jahre waren hart gewesen. Das Schlangenauge lag in einer abgelegenen Ecke Berlins und die meisten Menschen hatten schon ihre Stammlokale. Warum etwas Neues ausprobieren, wenn man wusste, dass einen im Phönix modernes Ambiente und herausragende Speisen erwartete?
Und so hatte Erwin im ersten Jahr rote Zahlen geschrieben. Und das zweite hatte auch nicht so ausgesehen, als wollte ein Nachfragewechsel entstehen. Doch dann war in einer kalten Märznacht ein Engländer vor der Tür des Schlangenauges erschienen. Erwin hatte ihn sofort erkannt, an seinem rattenartigen Gesicht und seiner krummen Körperhaltung.
Er kannte ihn von den Plakaten, die ein Kopfgeld auf ihn versprachen. Aber als der Mann ihn gefragt hatte, ob man in Erwins Lokal essen konnte, ohne es mit Auroren auf den Fersen zu verlassen, hatte Erwin das Gefühl beschlichen, dass es lukrativer war, Peter Pettigrew etwas zu Essen anzubieten, als ihn der magischen Strafverfolgung auszuliefern.
Und bis heute dankte er diesem Gefühl. Pettigrews Kopfgeld hätte ausgereicht, um die Verluste des ersten Jahres auszugleichen. Pettigrews positive Darstellungen seines Lokals in schwarzmagischen Kreisen hatten ihm lebenslange Kundschaft gebracht.
Von Kleinkriminellen, die einen Ladendiebstahl begangen hatten, über gesuchte Verbrecher, die Erklinge freigelassen hatten, bis hin zu den ganz großen Namen wie Walden Macnair und Titus Pettigrew waren die verschiedensten Personengruppen bei ihm zu Gast gewesen. Die Zauber, die er im Laufe der Zeit eingerichtet hatten, sorgten für Schutz und das mystische Ambiente schien perfekt auf die Zielgruppe zugeschnitten.
27 Jahre nach der Gründung des Schlangenauges hatte Erwin nicht nur seine Schulden abbezahlt, sondern auch genügend Startkapital für ein neues Projekt gesammelt. Für das Snake's Eye hatte er bereits eine große Geschäftsfläche in der Nokturngasse erworben. Er hatte große Pläne gehabt. Sein neues Lokal sollte größer werden als sein erstes hier in Berlin. Die Speisekarte wollte er um ein paar traditionelle, englische Gerichte erweitern. Und selbst das mittlerweile in die Jahre gekommene Logo des Schlangenauge sollte zwecks der Expansion ein Facelift erhalten.
Doch auch seinem Schreibtisch waren mittlerweile weder die Zeichnungen seines Architekts, noch die neuen Skizzen für ein Schlangenauge im Polygon-Stil mehr zu sehen. Sie waren in den letzten Wochen überdeckt worden von Mittelungen der magischen Strafverfolgung und Briefen seines Anwalts. Papiere, die die Schließung seines Lokals anordnen, die ihn zu einem ersten Verhör einluden oder in denen sein Anwalt ihm mitteilte, dass immer noch eine Möglichkeit bestand, in Berufung zu gehen. Erwin schnaubte.
Sein Anwalt war ein netter, hilfsbereiter Kerl. Auch wenn er zu der Gruppe guter Menschen gehörte, die sich bereits schuldig fühlten, wenn sie eine kleine, beschönigende Lüge aussprachen, hatte er sich auf Anhieb gut mit Erwin verstanden. Immer wieder redete er davon, dass Erwin sich nach seinem Freispruch als Wirt eines ›seriösen Restaurants‹ einen Namen machen konnte. Die Chancen auf einen Freispruch schwanden allerdings immer weiter.
Erwin hatte diesbezüglich mittlerweile eine resignierte Haltung eingenommen. Er hatte vor über zwanzig Jahren bereits die Grenze zum Unerlaubten übertreten. Er war sich jedes weiteren Schrittes weg vom Erlaubten bewusst gewesen. Und natürlich konnte man manche Sachverhalte ein wenig hin und her biegen, um sie für ihm günstiger aussehen zu lassen, aber weder seine Geschichte noch das Gesetz waren dehnbar genug, um seine Taten in den Bereich des Legalen zu bewegen. Er hatte dieses Risiko in Kauf genommen.
Jahrelang war alles gut gegangen. Bis dann auf einmal dieser Idiot namens Alexander Pettigrew nach Deutschland gekommen war und auf seiner Jagd nach Lob und Lorbeeren auch vor dem Schlagenauge nicht Halt gemacht hatte. Titus hatte Erwin kurz darauf in einem Brief sein tiefes Bedauern mitgeteilt und versprochen, er würde die Taten seines Bruders vergelten. Aber aktuell sah es nicht danach aus, als würde er Erfolg haben.
Ein kleiner Lichtblick für Erwin war, dass Assmann Zaubereiministerin geworden war. Die Jahre von Haas' Liberalisierung waren nun vorbei. Aber auch diesen Triumph konnte Erwin nicht in vollen Zügen genießen. Die meisten seiner Kunden hatten Assmann gewählt. Nach ihrem Koalitionserfolg waren sicher nicht wenige von ihnen in Feierlaune gewesen. Es wäre ein lukrativer Abend für das Schlangenauge gewesen, an dessen Abend er noch lange mit dem Auszählen der Kasse beschäftigt gewesen wäre.
Stattdessen hatte er nun den Inhalt seiner privaten Kasse zählen müssen – und das Ergebnis hatte sein Leben verändert. Seitdem lebte er wie ein Hauself. Er wollte nicht seine Reserven antasten, die er sich für das Snake's Eye beiseitegelegt hatte. Er wollte seinen Plan nicht aufgeben. Er wollte sich nicht eingestehen müssen, dass dieser feine Schnösel Alexander Pettigrew ihn besiegt hatte.
Mit einer paradoxen Mischung aus Kampfgeist und Resignation saß er nun am Schreibtisch in seiner Dachgeschosswohnung und sah hinaus auf die gegenüberliegende Fassade des Berliner Häuserblocks, die selbst das Licht der untergehenden Sonne nicht schönfärben konnte. Hier waren er und das Schlangenauge zu Hause. Er wollte nicht von hier gehen.
Als eine Eule vor seinem Fenster auftauchte, zuckte er erschrocken zusammen. Erst nach einigen Sekunden erkannte er den Waldkauz seiner Schwester und öffnete das Fenster. Der Vogel hielt die aktuelle Tageszeitung in den Krallen. Erwin hatte die tägliche Eule abbestellt, nachdem er seinen Kassensturz durchgeführt hatte. Er musste sparen, wo er nur konnte. Seine Schwester war daraufhin so nett gewesen, ihm jeden Abend ihre Eule mit der gelesenen Zeitung vorbeizuschicken.
Erwin kramte aus einer seiner Schubladen einen Eulenkeks hervor und stellte mit Schrecken fest, dass er der Vorletzte aus der Packung war. Er musste sich überlegen, ob er sich wirklich eine neue Tüte kaufen wollte. Sicher, es war eine nette Geste, aber es war auch einfach ein weiterer Kostenpunkt für ihn. Er reichte dem Vogel den Keks und nahm selbst die Zeitung entgegen. Nicht in der Lage, konzentriert etwas zu lesen, wollte er sie schon auf den Stapel an Zeitungen der letzten Tage legen, an denen er sich genauso gefühlt hatte. Doch dann fiel sein Blick auf das Titelbild – darauf blickte ihn Alexander Pettigrew konzentriert an und untermauerte mit feinen Gesten die Worte, die er in den Zauberstab der Reporter sprach. Viel mehr interessierte Erwin allerdings die Schlagzeile darunter.
Alexander Pettigrew auf der Flucht!
Erwin blinzelte einmal. Die Worte prangten unverändert vor ihm auf dem weißen Papier.
Ohne sich die Zeit zu nehmen, sich hinzusetzen, begann Erwin zu lesen.
»Die große Hoffnung der letzten Jahre ist zum größten Reinfall der Geschichte geworden«, bemerkte Valeria Assmann bei einer Pressekonferenz gestern. Vorausgegangen waren Stunden voller Aufregung. Es begann um die Mittagszeit bei der Anhörung eines prominenten Zeugen im Falle Ullrich Jürgens. Niemand geringeres als Christoph Marell präsentierte den Geschworenen gegen Mittag eine Phiole, die Karling & Berkway zuvor zweifelsohne als die Phiole der Horkruxe identifiziert hatten.
Unter Verweis auf ein Fallprotokoll seiner Kollegin Svea Dreyer erklärte er, dass diese Phiole unwissentlich fast ein Jahr lang im Besitz eines Zweitklässlers gewesen sei. Seine Kollegin habe ein Duplikat erstellt und die Phiole daraufhin zur Leitung der Abteilung für Inneres, Stella Hof, gegeben. In genau deren Büro hatte eine Auroreneinheit wenige Stunden zuvor das von Marell erwähnte Fallprotokoll gefunden. Noch gestern hatte Hof abgestritten, dass die damals noch in Untersuchungshaft sitzende Leiterin der Aurorenentrale ein solches Schreiben angefertigt hatte.
Und nicht nur diese vermeintliche Falschaussage lässt an Hofs Glaubwürdigkeit zweifeln. Auch die Tatsache, dass die Phiole, die durch ihre Hände gegangen ist, von Karling & Berkway als schlechte Fälschung erkannt wurde, während deren Duplikat als das Original identifiziert wurde, legt nahe, dass Hof in der Phiolen-Affäre kriminelle Absichten verfolgt hat. Noch gestern Nachmittag wurde sie vorsorglich festgenommen.
Ministerin Assmann bezeichnete Hof – Mitkonstrukteurin von Assmanns politischem Erfolg – als ›Desaster für die Neue Zukunft‹, sollte sich der Verdacht bewahrheiten. Gleichzeitig forderte sie aber auch umfassende Aufklärung und zweifelte die Darstellung von Christoph Marell öffentlich an. Sie hält nach wie vor eine Schuld von Ullrich Jürgens für wahrscheinlich und hat angekündigt, weitere Mittel zur Untersuchung der Phiolen-Affäre bereitzustellen.
Diese Ankündigung geschah allerdings noch vor dem wohl spektakulärsten Ereignis des gestrigen Tages. In der Nacht wurde die Aurorenzentrale – mittlerweile wieder unter Leitung von Svea Dreyer und Christoph Marell – auf einen Einbruchsverdacht im Hochsicherheitstrakt des Deutschen Zaubereigerichts (DZG) aufmerksam gemacht. Mit einer Spezialeinheit an Auroren ausgestattet brach Dreyer unverzüglich auf. Wenige Stunden später gab eine Sprecherin Dreyers eine kurze, aber aussagekräftige Pressekonferenz zu den Geschehnissen des Abends.
Dreyer und ihr Team hätten vor dem Raum, in dem alle wichtigen Beweismittel zum Fall Ullrich Jürgens bewahrt werden, eine maskierte Gestalt vorgefunden, die versucht habe, die Tür zu öffnen. Nach einem kurzen Duell sei es ihr gelungen, die Person zu entwaffnen. Dabei habe es sich zweifelsohne um Alexander Pettigrew gehandelt. Sämtliche Tests auf Vielsafttrank oder vergleichbare Zauber fielen negativ aus. Um Risiken beim Apparieren zu verhindern, habe Dreyer einen geheimen Transport von Alexander Pettigrew ins Nationale Zauberergefängnis angeordnet, wo Pettigrew wegen des Verdachts auf Verdunkelungsgefahr vorrübergehend festgehalten werden soll.
Doch noch kurz vor Bielefeld soll die Thestral-Kutsche von Unbekannten angegriffen worden sein, die zwei Auroren schwer verletzten und Alexander Pettigrew entführten. Jegliche Anstrengungen, ihn aufzuspüren seien bislang ohne Erfolg geblieben.
»Der wichtigste Grund, warum Frau Dreyer diese Konferenz angeordnet hat, ist die Bevölkerung zu warnen«, sagte die Sprecherin. »Alexander Pettigrew ist auf freiem Fuß und er steht offensichtlich nicht auf der Seite des Rechts. Wir appellieren an Sie alle, höchst vorsichtig zu agieren. Auch wenn wir bislang nur spekulieren können, ob Verbindungen zwischen Titus und Alexander Pettigrew bestehen, muss Alexander Pettigrew über ein gutes Netz an fähigen Magiern verfügen – andernfalls wäre eine solche Befreiungsaktion nie möglich gewesen.«
Während für die Bevölkerung nun also höchste Vorsicht das Gebot der Stunde ist, sind die Folgen für die Politik schwer abzusehen. Dass es einfach so weiter geht wie zuvor, ist allerdings unwahrscheinlich. Assmann hat mit Hof und Alexander Pettigrew zwei Wegbereiter ihres politischen Erfolgs verloren und würde Gefahr laufen, auch das Vertrauen der Bevölkerung zu verlieren, wenn sie nun nicht zu Konsequenzen und Untersuchungen greift.
Ebenso gravierend könnten allerdings die Folgen für den Gerichtsprozess gegen Ullrich Jürgens sein. Alexander Pettigrew – Ankläger und Zeuge in diesem Mammutprozess – hatte bereits mit dem Auftauchen der echten Phiole der Horkruxe stark an Glaubwürdigkeit verloren, doch nach seiner Festnahme wird seine Zeugenaussage wohl kaum noch zur Beurteilung des Falls herangezogen werden. Vielmehr dürfte sich der Fall nun ganz in die Richtung zu Gunsten von Ullrich Jürgens bewegen.
In den nächsten Tagen allerdings steht allerdings erst einmal die Sicherheit der Bevölkerung im Vordergrund. Alexander Pettigrew soll bei seiner Festnahme gesagt haben: »Mich könnt ihr vielleicht noch aufhalten. Aber uns nicht. Auch nicht mit einem noch so guten Hochsicherheitstrakt!« Dreyer hat daher bereits angekündigt mit einem Großaufgebot an Auroren in den nächsten Tagen für Sicherheit zu sorgen.
Assmann hingegen verkündete, die Phiole der Horkruxe zerstören zu wollen. Während die Phiole selbst als Beweismittel erhalten bleiben solle, will sie den Inhalt vernichten, damit »niemand auf der Welt jemals wieder auf solch widerliche Art und Weise seine Seele spalten und somit zur Gefahr für die ganze Zauberergemeinschaft werden kann.« Nach Absprache mit ihren internationalen Kollegen soll die Zerstörung bevorzugt schon morgen stattfinden.
Erwin wiederholte kopfschüttelnd die letzten Absätze. Daneben waren zwei Kommentare von einem Redakteur aufgeführt, die Möglichkeiten aufzeigten, was es mit Alexander Pettigrew auf sich haben könnte und was notwendige Schritte von Assmann in dieser Situation waren. Er schrieb davon, dass Alexander möglicherweise genervt davon gewesen war, wie lange sich der anfangs sicher geglaubte Prozess gezogen hatte und ein wenig nachhelfen wollte. Allerdings schloss er auch nicht aus, dass der ganze Prozess von Anfang an nur ein von Alexander Pettigrew inszeniertes Schauspiel gewesen war – doch die Ziele davon konnte der Redakteur nicht verstehen.
Erwin hingegen verzog sein Gesicht beim Lesen immer mehr zu einem Grinsen mit Zornesfalten auf der Stirn. Er kannte Titus gut genug, um zu verstehen, was Sache war. Alexander hatte mit Titus zusammengearbeitet. Die ganze Zeit über war er sein heimlicher Informant in den hohen Ministeriumskreisen gewesen. Nun, da er versagt hatte, wurde er fallen gelassen – so wie bereits Marcos Gaunt, Brandon Keerliff, Stella Hof und die ganzen anderen, die Pettigrew einfach in die Hände der Auroren laufen lassen hatte, nachdem sie es nicht geschafft hatten, seine Aufträge auszuführen. Doch Alexander war nicht Marcos, Keerliff oder Hof. Er war Titus' Bruder. Und ganz offensichtlich hatte Titus da eine Ausnahme von seinen Prinzipien gemacht und Alexander nicht im Stich gelassen.
Doch für Erwin zeigte das nur noch mehr, was er vorhin schon festgestellt hatte. Titus hatte ihn betrogen. Wenn Titus mit Alexander zusammenarbeitete – mit dem Mann, der sein Schlangenauge hatte schließen lassen – musste Titus selbst ihn verraten haben. Nichts geschah in seinem Lager, ohne dass er selbst es absegnete. Er musste sich dazu entschieden haben, dass Erwin Orth und das Schlangenauge ein hinnehmbarer Verlust waren, um das Vertrauen der Politik in Alexander Pettigrew herzustellen. Er hatte das Schlangenauge, das ihm so oft schon Essen und Unterschlupf geboten hatte, einfach für sein größeres Wohl geopfert.
Erwin ballte die Fäuste, während er über diesen Verrat nachdachte. Titus hatte ihn sich zum Feind gemacht. Er hätte bedenken sollen, dass Erwin Informationen besaß, die besser niemand sonst erfuhr. Und so griff der Wirt des Schlangenauges in sein Bücherregal, zog ein dickes Adressbuch hervor und suchte nach der Aurorenzentrale – einen Ort, zu dem er noch nie freiwillig gegangen war. Aber nun war es an der Zeit, seine Prinzipien zu ändern. Er würde das Schlangenauge rächen!
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