Kapitel 31 - Die Gesandte
Nach dem spannenden Gespräch mit Herrn Marell war es Jan schwergefallen, auf andere Gedanken zu kommen. Noch lange hatte er darüber nachgedacht, wie alles zusammenhängen konnte. Herr Grindelwald, der Pettigrew verraten hatte, das Jan die Phiole hatte. Die Tatsache, dass Berkway & Karling die Phiole als Fälschung betrachtet hatte, obwohl Svea und Herr Marell eindeutig anderer Meinung gewesen waren. Der merkwürdige Gerichtsprozess mit Herrn Jürgens und der nicht zu öffnenden Phiole.
Immer wieder glaubte er, einen Zusammenhang erkannt zu haben, bis ihm darin ein neuer Widerspruch auffiel. Wirklich auf andere Gedanken kam er erst, als Herr Lurcus ihm am nächsten Morgen einen Echtzeit-Test anbot und ihm erzählte, dass er ihn jetzt schon machen sollte – die anderen Schüler testeten sich wohl schon vor der Fahrt mit dem Carl. Und als er dann nach dem Frühstück mit den beiden Lehrern vor die Burg ging, um die anderen Schüler zu begrüßen, rückten die Gedanken wegen der Phiole endgültig in den Hintergrund. Noch während sie durch das Tor gingen, konnten sie bereits sehen, wie die ersten Carls am Horizont erschienen.
»Ich glaube, Herr Tuplantis hat sich mit seiner Entscheidung, dass um acht Uhr bereits Abfahrt ist, nicht sonderlich beliebt gemacht«, merkte Frau Braun an und unterdrückte ein Gähnen. »Ich möchte mal die vorsichtige Prognose wagen, dass letzte Woche neunzig Prozent der Schüler um diese Uhrzeit noch geschlafen haben.«
»Trotzdem wären sie froh, ihn jetzt hier zu sehen«, entgegnete Herr Lurcus und sah betrübt auf die sich nähernden Flugapparate.
»Wissen sie denn schon, dass Herr Tuplantis nicht da ist?«, fragte Jan interessiert.
Die beiden Lehrer schüttelten fast schon im gleichen Takt den Kopf.
»Darüber müssen wir sie später noch informieren«, erklärte Herr Lurcus. »Und zwar möglichst unauffällig.«
»Unauffällig?«, wiederholte Jan. »Wieso das denn?«
»Herr Goldenberg ist bei seinem Gespräch mit Assmann leider nicht ganz so erfolgreich gewesen wie er es sich erhofft hat. Sie traut ihm nicht vollständig und hat eine Gesandte des Ministeriums nach Winterfels beordert. Wir stehen jetzt vor der kleinen Herausforderung, heimlich eine gesamte Schule zu evakuieren.«
»Haben Sie sich schon überlegt, wie Sie das machen wollen?«
»Wir hatten nicht sonderlich viel Zeit zum Planen«, erklärte Frau Braun. »Angesichts dessen finde ich unser Vorhaben ganz gut. Ihr Schüler müsst allerdings gut mitspielen. Wir Hauslehrer erklären euch gleich alles Wichtiges – solange Assmanns Lakai uns nicht auf Schritt und Tritt folgt.«
Danach herrschte eine Zeit lang Schweigen. Gespannt sah Jan auf die immer näher kommenden Carls. Er freute sich darauf, seine Freunde wiederzusehen. Auch wenn es nur eine Woche gewesen war, die er von ihnen getrennt gewesen war, kam es ihm so vor, als hätte er sie viel zu lange nicht gewesen.
Doch aus dem ersten Carl stieg weder einer seiner Freunde, noch waren es ältere Schüler oder Erstklässler. Die Frau, die das Fluggerät verließ, hatte Jan noch nie in Winterfels gesehen – trotzdem erkannte er sie sofort: Assmanns Gesandte war Frau Hof, die unfreundliche Dame, der Svea die Phiole gegeben hatte.
Jans Gesichtsmuskeln verspannten sich unwillentlich. Es käme ihm fast schon unwahrscheinlich vor, wenn diese Frau nicht in das hinterlistige Spiel um Sveas Verhaftung involviert wäre. Sein Blick heiterte sich ein wenig auf, als ihr Herr Goldenberg folgte, wie üblich in seinem himmelblauen Umhang.
Als nächstes stiegen Frau Relting und Herr Hausmann aus dem Carl. Beide redeten laut lachend miteinander. Nur zu gerne hätte Jan verstanden, was sie sagten, aber der nächste Carl landete bereits und verdeckte ihm die Sicht auf die beiden Lehrer. Und durch das Fenster dieses Carls konnte Jan eine ihm wohlbekannte Igelfrisur entdecken. Sobald das Fahrzeug zum Stillstand gekommen war, kletterte Filio die Treppe herunter und sprang theatralisch auf den Boden.
»Wir sind die ersten!«, rief er begeistert.
»Nicht ganz«, scherzte Jan und ging auf seinen Freund zu.
Etwas entrüstet sah Filio zu ihm.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich das noch erleben darf«, scherzte er. »Du bist vor uns da.«
Levi, der nach Filio aus dem Carl stieg, konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
»Es war wirklich etwas ungewohnt, nicht auf dich warten zu müssen. Aber ich freue mich, dass wir dich jetzt hier gesund und glücklich treffen können. Nach dem, was du so geschrieben hast, ist das ja alles andere als selbstverständlich.«
»Du musst uns unbedingt erzählen, was bei dir passiert ist«, meinte Marina, die als nächstes aus dem Carl stieg. »Levi und Filio wollten nichts verraten. Aber ihre Andeutungen klangen echt spannend. Und es war ja wohl so wichtig, dass du nicht mal auf meinen Brief geantwortet hast.«
Beim letzten Satz zwinkerte sie Jan schelmisch zu. Und auch wenn sie nicht mal einen vorwurfsvollen Unterton verwendete, spürte Jan, wie er errötete. Marinas Brief! Den hatte er in dem Chaos doch tatsächlich vollkommen vergessen. Und dabei hatte er sich so sehr darüber gefreut. Am nächsten Tag hatte er mit Filio telefoniert und Levi über sein Zwillingsbuch von den Ereignissen erzählt. Aber Marina – die hatte er einfach vergessen. Dachte sie jetzt, ihr Brief wäre ihm nicht wichtig gewesen?
Glücklicherweise kam er nicht in die Verlegenheit, antworten zu müssen, denn Filio war bereits zur Gepäckfläche gegangen und hatte dort offensichtlich Probleme.
»Ähh Leute... Könnt ihr mal kurz vorbeikommen?«
Jan und Levi warfen sich amüsierte Blicke zu, während sie Marina folgten, die sich bereits auf den Weg zu Filio gemacht hatte. In diesem Moment sah Jan auch Lina, die zu seiner großen Überraschung aus demselben Carl stieg wie seine anderen Freunde. Hatte sie denn nicht mit ihrem Max Weller fliegen wollen?
»Morgen Jan«, begrüßte sie ihn in einer für sie ungewohnt neutralen Tonlage.
»Morgen!«, erwiderte Jan und bemühte sich dabei, seine Überraschung bestmöglich zurückzuhalten.
Kurze Zeit später war das allerdings nicht mehr nötig, denn was ihn auf der Ladefläche erwartete, war wirklich ungewöhnlich. Sie war wie so oft so stark befüllt, dass sie die Zauber, die ein Herunterfallen der Ladung verhinderten, bitter nötig hatte. Aber zwischen den Koffern und Taschen der Schüler kullerte jede Menge loses Geröll herum. Filio stand inmitten des Chaos und hielt einen zerrissenen Seesack hoch. Sein Gesicht sah zerknirscht aus.
»Der ist wohl nicht dafür gedacht gewesen, eine Metallsäge zu transportieren«, stellte Filio fest und sein Blick wanderte über den verstreuten Krimskrams unter ihm.
Ohne zu zögern, kletterte Levi zu Filio auf die Gepäckfläche und hielt seinen Zauberstab an Filios Seesack. Mit einem geschickten »Reparo« flickte er den Riss darin in Sekundenschnelle.
»Wieder heile«, munterte er Filio auf und betrachtete nun ebenfalls das die herumliegenden Teile. »Dafür kenne ich zwar keinen Zauber, aber ich bin mir sicher, mit Teamwork bekommen wir das genauso gut hin.«
Er musste die anderen nicht bitten, ihm zu helfen. Selbstverständlich kletterten Jan und Marina zu ihnen auf die Gepäckfläche. Während sie Anna und Lina das Gepäck reichten, sammelten Levi und Filio eifrig die vielen – für Jan oft nicht klar identifizierbaren – Kleinteile auf dem Boden ein.
»Wo hast du diese Metallsäge denn sonst immer transportiert«, fragte Marina interessiert.
»Gar nicht«, erklärte Filio. »Ich wusste ja gar nicht, dass wir eine haben. Aber mein Vater ist aktuell in Kurzarbeit. Und er hat letzte Woche die Zeit genutzt, um unseren Keller aufzuräumen. Was er da alles gefunden hat! Und einiges davon wollte er sogar wegschmeißen.«
»Bitte sag mir nicht, dass du diesen ganzen Schrott jetzt mitgenommen hast«, sagte Marina, wobei man ihre Worte vor Lachen kaum verstehen konnte.
»Marina, ich bitte dich!«, erwiderte Filio entrüstet. »Das ist doch kein Schrott. Also aus Muggelsicht vielleicht. Aber was glaubst du, was Magie aus Filmkassetten und Blumentöpfen alles herstellen kann. Oder aus dieser coolen Kuckucksuhr.«
Gewohnheitshalber sah Jan zu Lina. Filio lieferte mal wieder eine Steilvorlage für einen klassischen Lina-Kommentar. Aber zu Jans großer Überraschung nahm sie stumm einen Koffer von Marina entgegen und stellte ihn auf dem Boden ab. Sie wirkte so, als hätte sie Filios Kommentar gar nicht gehört. Stattdessen war es Levi, der Filio mit hochgezogenen Augenbrauen ansah.
»Diese Kuckucksuhr hört sich so an, als wäre sie in großer Lebensgefahr, wenn Hannes sie zu Gesicht bekommt«, scherzte er.
»Hannes befindet sich in großer Lebensgefahr, wenn er meiner Kuckucksuhr etwas zu leide tut«, erwiderte Filio bestimmt, konnte daraufhin aber ein Prusten selbst nicht mehr zurückhalten.
Und so räumten sie lachend Filios Gerümpel in den Seesack zurück und konnten sich nach erstaunlich kurzer Zeit voll beladen mit Gepäck zu den anderen Schülern stellen.
»Herzlich willkommen zurück in Winterfels«, begrüßte Herr Goldenberg in diesem Moment auch schon die Schüler und Jan hörte, wie bereits bei diesen Worten ein leises Gemurmel entstand. Jan konnte es nur zu gut verstehen – wenn er es nicht schon wüsste, dann würde auch er sich jetzt Gedanken machen, warum der stellvertretende Schulleiter die Begrüßung übernahm.
»Erfreulicherweise haben sich die Umstände so verändert, dass wir unseren Unterricht sowohl zu diesem Zeitpunkt, als auch hier in Winterfels wieder aufnehmen können. Damit verbunden sind natürlich einige wichtige Ankündigungen, die ihr selbstverständlich noch erfahren werdet. Allerdings möchte ich euch nicht mit Informationen überladen, während ihr hier mit eurem Gepäck in der Kälte steht. Deswegen werden wir meinen mehr oder weniger kurzen Bericht auf die Zeit vor dem Mittagessen verschieben. Folgt jetzt einfach euren Hauslehrern in eure Gemeinschaftsräume und richtet eure Zimmer wieder ein. Genießt es, wieder hier in Winterfels zu sein!«
Ein Gemurmel erhob sich. Jan konnte Fragen nach Herrn Tuplantis oder nach dem Corona-Virus hören. Doch es war offensichtlich, dass die Hauslehrer dieses Gemurmel unterdrücken wollten. »Haistras bitte mit mir!«, rief Herr Lurcus über das Stimmgewirr hinweg. Eilig nahm Jan zwei von Filios Koffern – seine eigenen waren schließlich schon in seinem Zimmer – und folgte dann der Schar aus Haistras ins Innere der Burg. Sie liefen durch den Rundgang um den Innenhof, das Treppenhaus eine Etage nach oben und dann in den Turm, wo sich der Gemeinschaftsraum der Haistras befand. Die ersten Schüler wollten schon weiterlaufen, doch Herr Lurcus hielt sie zurück.
»Bleibt bitte noch kurz hier!«, rief er laut und wartete, bis der Gemeinschaftsraum mit allen Schülern des Hauses Haistra berstend voll war. »Ich habe einige Ankündigungen zu machen.«
Er ließ seinen Blick durch die Schülermenge gleiten.
»Frau Hof, sind Sie hier?«, fragte er dann, woraufhin die Schüler verwunderte Blicke untereinander austauschten. Die Gesandte des Ministeriums konnten sie allerdings nirgends entdecken.
»Sie ist unten geblieben, Jamie«, ertönte daraufhin die Stimme des Hausmeisters Herrn Jeffer, der hinter den Schülern in der Eingangstür zum Gemeinschaftsraum aufgetaucht war. »Ich passe im Flur auf, ob sie kommt.«
Herr Lurcus zeigte ihm dankbar einen Daumen nach oben.
»Liebe Haistras, es steht mir nicht zu, euch politisch zu beeinflussen«, begann er dann seine Rede und ließ seinen Blick dabei über die versammelten Schüler wandern. »Wir als Lehrer sind zur Neutralität verpflichtet. Wenn ihr in ein paar Jahren alt genug seid, um zu wählen, dann dürft ihr die Partei wählen, die ihr für richtig haltet. Aber angesichts der aktuellen Ereignisse haben wir als Kollegium entschieden, dass wir uns gegen die Meinung von Assmann und ihrer Neuen Zukunft stellen müssen. Und das nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass es zu eurem Besten ist.«
Er legte einen Finger auf die Lippen, um die aufkommenden Zwischenrufe zu unterbinden.
»Lasst mich bitte ausreden! Vermutlich habt ihr euch schon gewundert, warum Herr Tuplantis nicht da ist. Warum wir wieder in Winterfels unterrichten. Der Grund dafür ist Valeria Assmann. Ihr Top-Thema des Wahlkampfs war es, unsere Schüler zurück nach Winterfels zu bringen. Und um ihr Gesicht zu wahren, tut sie jetzt alles, um dieses Ziel zu erreichen.
Allerdings hat sie in dieser Debatte das Wohl von euch Schülern völlig vergessen. Pettigrew ist nach wie vor eine gravierende Gefahr für uns. Er hat in der Woche Homeschooling einen Schüler, der jetzt hier im Raum ist, zu Hause angegriffen. Und weder ich, noch irgendjemand anderes der Lehrer glauben, dass er uns in Winterfels verschonen wird. Assmanns Blick reicht aber leider nicht über ihre Umfragewerte hinaus. Um dafür zu sorgen, dass wir bloß nicht wieder untertauchen, hat sie Herrn Tuplantis in seinem eigenen Haus eingesperrt und Frau Hof nach Winterfels geschickt, um zu kontrollieren, dass wir auch wirklich hierbleiben.«
Während unter den Schülern wieder Gemurmel ausbrach, hob Herr Lurcus den Zeigefinger und nun wirkte er fast schon selbst wie ein Politiker, der im Ministeriumsrat eine Rede hielt.
»Aber wir lassen uns nicht von Assmann einsperren. Wir lassen nicht zu, dass sie euch Pettigrew auf dem Silbertablett serviert. Wir werden wieder nach Nurmengard gehen. Und dafür brauche ich jeden einzelnen von euch. Ihr müsst gleich beim Mittagessen, den Eindruck erwecken, dass ihr unfassbar froh seid, dass Herr Tuplantis weg ist und ihr wieder in Winterfels seid. Lasst diese Frau Hof glauben, dass sie bereits gesiegt hat! Lasst sie so siegessicher werden, dass sie unaufmerksam wird! Und dann verschwinden wir durch den Eulentunnel. Wenn alles gut läuft, dann passiert das schon heute in der Mittagspause. Deswegen braucht ihr eure Koffer nicht auszuräumen. Haltet alles griffbereit und lasst uns zeigen, dass unser Zusammenhalt stärker ist, als Assmanns Gier nach Prozentpunkten!«
Bei den letzten Worten hatte er angefangen, euphorisch in die Hände zu klatschen. Als er geendet hatte, herrschte einen Moment lang, beeindruckte Stille. Dann begannen auch sie zu applaudieren. Sie wussten, dass Herr Lurcus Taten Worten vorzog. Dass er eine Rede gehalten hatte, die so auch von Herrn Tuplantis hätte stammen können, zeigte, mit was für einem Willen er die Schüler beschützen wollte. Und diese Motivation sprang wie ein Funke auf die Schüler über. Auch Jan war sich auf einmal ganz sicher – gemeinsam würden sie das schaffen.
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