Kapitel 29 - Zurück in Winterfels
Jan hatte nicht ahnen können, welche Folgen der vergangene Abend mit sich bringen würde. Als er spät in der Nacht wieder heimgekehrt war, hatte er zu seiner großen Überraschung Herrn Hausmann im Wohnzimmer seiner Familie vorgefunden. Der kleine, untersetzte Mann hatte auf dem blauen Stoffsessel gesessen, mit einer medizinischen Maske über Mund und Nase, und sich mit Jans Eltern unterhalten. Ganz offensichtlich hatten sie schon eine ganze Weile miteinander geredet, denn als Herr Hausmann Jan begrüßte und ihm ›kurz zusammenfassen‹ wollte, was sie besprochen hatten‹, brauchte er eine ganze Weile.
»Pettigrew ist gefährlich und unberechenbar«, hatte er gesagt und dabei mit sorgenvollem Blick den Draht seiner Maske gefestigt. »Weder du, noch deine Eltern sind hier zum aktuellen Zeitpunkt sicher. Das Ministerium will warten bis feststeht, was es mit der Phiole auf sich hat, aber das will ich nicht. Pettigrew könnte jeden Moment wieder hier auftauchen.«
Und dann hatte Herr Hausmann den Plan vorgestellt, den er mit Christoph Marell und dem Oppositionsführer Günter Haas beschlossen hatte. Jans Familie musste auf unbestimmte Zeit umziehen. Den Umzug von Jans Eltern beschrieb Herr Hausmann als ein Kinderspiel. Er hatte eine verlassene Baracke am anderen Ende des Dorfes so hergerichtet, dass Jans Eltern problemlos dort wohnen konnten. Bei Jan gestaltete sich das ganze allerdings schwieriger.
»Magie ist eine wundervolle Sache«, hatte Herr Hausmann erklärt. »Aber sie birgt Gefahren. Sie hinterlässt Spuren. Und begabte Zauberer wie Pettigrew können diese Spuren verfolgen.«
Deswegen hatten sie entschieden, dass Jan nach Winterfels ziehen würde. Jan hatte seinen Ohren zuerst nicht getraut – Winterfels, da war er schließlich seit einem Vierteljahr nicht länger als eine Viertelstunde gewesen. Doch Herr Hausmann hatte seinen fragenden Blick mit einem freundlichen Lächeln quittiert.
»Frau Braun und Herr Lurcus bleiben in jeden Ferien in Winterfels, um sich um die Tiere und Pflanzen zu kümmern. Herr Marell und ich glauben, dass es die beste Lösung ist, wenn wir dich zu ihnen schicken, bis ihr alle wieder nach Nurmengard dürft – oder Pettigrew geschnappt ist. Winterfels ist immer noch von seinem Bann umgeben, sodass dir dort keine Gefahr droht.«
Jan hatte hilfesuchend zu seinen Eltern gesehen. Und als die ihm aufmunternd zugenickt hatten, waren seine Zweifel verschwunden. Wenn selbst seine Eltern keine Zweifel an Herrn Hausmanns Plan hatten, dann wollte auch er sich keine Sorgen machen.
Weil es allerdings schon weit nach Mitternacht war, entschieden Herr Hausmann und Christoph Marell, dass es keine gute Idee war, jetzt noch umzuziehen. Daher blieb der Leiter der Aurorenzentrale über Nacht hier und hielt Wache, während Jan nach dem zurückliegenden Abend lange vergeblich versuchte, Schlaf zu finden. Erst am nächsten Tag packten er und seine Eltern alles, was sie für ihre Zeit weg von Zuhause brauchen würden. Nach einem langen Gespräch trennten sie sich schließlich gegen Mittag. Während Christoph Marell Jans Eltern zu ihrem Übergangsquartier führte, nahm Herr Hausmann Jan mit nach Winterfels.
Und so kam es, dass Jan am nächsten Morgen tatsächlich zum ersten Mal seit langem wieder in Winterfels aufwachte. Langsam richtete er sich in seinem Bett auf und ließ seinen Blick über die steinernen Wände seines Schlafzimmers wandern. Ein wenig fühlte es sich so an, als wäre er zum ersten Mal hier – so sehr hatte er diesen Ort vermisst. Seine Stimmung trübte sich, als er sein Blick bei den leeren Betten ankam. Auch wenn es schön war, wieder in Winterfels zu sein, war es alles andere als normal. Auch beim Zähneputzen im Bad fiel ihm auf, wie ungewohnt und fremd das Zimmer für ihn wirkte, wenn es nicht von oben bis unten mit allen möglichen ›lebenswichtigen‹ Gegenständen von Filio dekoriert war.
Und auch der Weg in den Innenhof kam Jan vor, als wäre er in einer Geisterstadt. Kein Gelächter, kein Geschrei, keine mit Schülermengen verstopften Gänge. Das Einzige, was er hörte, war das Echo seiner eigenen Schritte, das von den Steinwänden widerhallte. Doch bereits als er in den Flur trat, der in den Innenhof führte, hörte er Stimmen. Es waren unverkennbar Herr Lurcus und Frau Braun und sie schienen sich über irgendetwas sehr zu amüsieren. Neugierig lief Jan auf die großen, offenstehenden Tore des Innenhofs zu. Dort erwartete ihn ein ungewohntes Bild – Leere.
Die Haustische, die sonst immer bereits morgens um halb sieben mit einigen Schülern gefüllt waren, standen verwaist in dem großen Hof, der auf einmal viel zu überdimensioniert für diese Menschenlosigkeit wirkte. Die einzigen Personen im Raum waren Herr Lurcus und Frau Braun. Sie standen am Lehrertisch und zauberten mit ihren Zauberstäben das Essen auf den Tisch. Als Jan zu ihnen trat setzten sie sich gerade hin.
»Guten Morgen, Jan«, begrüßte Herr Lurcus ihn, sobald er seinen Schüler bemerkte. »Ich sehe, du hast den Weg durch die menschenleere Burg gefunden.«
»Ja, habe ich. Aber es war total ungewohnt. Überall war es so still.«
»Stille ist ungewohnt für Winterfels, das stimmt wohl«, bestätigte Frau Braun. »Normalerweise hört man sein eigenes Wort in den Gängen nicht mehr vor lauter lärmender Schüler.«
»Und es ist auch immer ungewohnt, sich das Essen selbst kochen zu müssen, wenn man nicht da ist«, ergänzte Herr Lurcus. Ich habe heute Morgen ein wenig Rührei gemacht, da kannst du dir genauso etwas von nehmen wie von den Brötchen und dem Müsli.«
Mit einer einladenden Geste deutete er auf den Tisch.
»Ich empfehle dir eher Brötchen und Müsli«, witzelte Frau Braun. »Gestern war Jamie... Herrn Lurcus' Rührei ziemlich versalzen.«
Jan lächelte etwas unsicher und brachte ein »Danke« hervor. Es war ihm unangenehm, mit zwei seiner Lehrer zu frühstücken, vor allem mit Herrn Lurcus und Frau Braun. Unter den Schülern kursierte schon länger das Gerücht, dass ihr Verhältnis das gewöhnliche zweier Kollegen überschritten hatte und auch wenn sie sehr freundlich zu ihm waren, wurde Jan das Gefühl nicht los, die beiden zu stören.
Er nahm sich ein Brötchen auf seinen Teller und sah zum Himmel, wo Herrn Lurcus' Halsbandeule gerade mit einer Zeitung in den Krallen auf sie zugesegelt kam.
»Jetzt bin ich aber mal gespannt, ob wenigstens heute etwas über Pettigrews Einbruch bei dir und die Phiole drinsteht«, meinte Herr Lurcus und faltete die Zeitung auseinander.
Er und Frau Braun beugten sich über die Zeitung und überflogen die Schlagzeilen. Kopfschüttelnd hielten sie Jan das Titelblatt hin.
Tatsächlich war Pettigrew nirgends erwähnt. Erst recht nicht die Phiole der Horkruxe.
»Vielleicht darf es nicht veröffentlicht werden, um den Gerichtsprozess nicht zu beeinflussen«, überlegte Jan. »Die Phiole wird da schließlich eine ganz entscheidende Rolle spielen.«
Herr Lurcus und Frau Braun tauschten zweifelnde Blicke aus.
»Unter dem Gesichtspunkt würde ich noch verstehen, wieso sie nichts von der Phiole schreiben«, sagte Herr Lurcus schließlich. »Aber von dem Einbruch müssen sie schreiben. Letztes Jahr hat es jedes Mal eine Schlagzeile auf der Titelseite gegeben, wenn einer der Askaban-Ausbrecher vielleicht irgendwo gesehen wurde. Und jetzt ist Titus Pettigrew bei dir eingebrochen. Die Leser müssen davon Bescheid wissen.«
Ratlos strich Jan Marmelade auf sein Brötchen. Er war der gleichen Meinung wie Herr Lurcus. Dieser Einbruch war definitiv berichtenswert. Hatten Svea oder Frau Hof denn einfach vergessen, der täglichen Eule von dem Fall zu erzählen? Aber das konnte er sich bei Svea beim besten Willen nicht vorstellen. Sie war so gewissenhaft bei ihrer Arbeit gewesen. Es musste irgendeinen anderen Grund geben.
»Die andere Schlagzeile hier könnte aber auch interessant für dich sein«, erzählte Herr Lurcus und zeigte Jan einen Artikel mit der Überschrift MuggelMag verkündet Durchbruch – Echtzeit-Test besteht Zulassungskriterien. »Hast du schon von den Echtzeit-Tests gehört?«
Jan schüttelte den Kopf.
»Was ist das?«
»MuggelMag hat erfolgreich Corona-Tests entwickelt, deren Status sich sofort ändert, wenn man erkrankt«, erklärte Frau Braun. »Man muss sie nur einmal die Woche erneuern. Angenommen du machst montags deinen Test und wirst freitags krank, dann schlägt der Test sofort an, obwohl du ihn an dem Tag gar nicht gemacht hast.«
Jan lag schon ein ›das hört sich ja an wie Zauberei‹ auf den Lippen, erinnerte sich aber noch rechtzeitig daran, dass es Zauberei war, die diese Tests funktionieren ließ.
»Wir haben es gestern schon erfahren, deswegen ist unsere Überraschung nicht ganz so groß«, ergänzte Herr Lurcus. »Aber eigentlich hättest du unsere Jubelschreie bis in dein Zimmer hören müssen. Die Tests bedeuten nämlich, dass der Präsenz-Unterricht wieder aufgenommen werden kann. Herr Tuplantis hat beschlossen, dass ihr am Dienstag alle wieder nach Winterfels kommen könnt.«
»Nurmengard«, korrigierte Frau Braun ihn augenzwinkernd. »Bis wir wieder nach Winterfels zurückkehren können, muss MuggelMag etwas mehr erfinden als Corona-Tests.«
»Aber Dienstag ist ja schon morgen«, stellte Jan überrascht fest. Er hatte fest damit gerechnet, dass die Home-Schooling-Zeit länger als nur eine einzige Wochen dauern würde – in der Muggelwelt war schließlich auch noch keine Wiederöffnung der Schulen absehbar,
»Herr Tuplantis meint, die Gefahr sei nun kontrollierbar«, antwortete Herr Lurcus. »Er sorgt noch dafür, dass die Tests laut Alarm schlagen, wenn einer positiv ist. Der entsprechende Schüler wird dann in Zimmerquarantäne geschickt. Damit hält er es für ausgeschlossen, dass sich die Krankheit durch die ganze Schule ausbreitet. Obwohl er sich natürlich nicht hundertprozentig sicher sein kann. Wir haben immer noch keine Ahnung, wie das Virus damals überhaupt auf unsere Schule gekommen ist.«
»Könnte es denn nicht sein, dass die Tests falsch gewesen sind?«, überlegte Jan in Erinnerung an die Dokumentarsendung, die er in der letzten Woche abends mit seinen Eltern geschaut hatte. Ein Reporter-Team hatte da die Zuverlässigkeit von Corona-Tests untersucht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass eine kleine, aber nicht unmögliche Chance bestand, dass fälschlicherweise ein positives Ergebnis angezeigt wurde.
»Ich habe die betroffenen Schülerinnen an dem Tag noch gesehen«, meinte Frau Braun und schüttelte den Kopf. »Eine von ihnen war bleich wie der Tod. Und eine andere konnte vor Hustern kaum noch sprechen. Kann natürlich auch eine andere Krankheit gewesen sein, aber der Zufall ist mir deutlich zu groß.«
Jan nahm sich nachdenklich einen Bissen seines Brötchens. Es war wirklich merkwürdig. Wie war dieses Virus, das sich doch angeblich über engen Kontakt verbreitete, an eine isolierte Schule gekommen?
»Hast du eigentlich schon alle deine Aufgaben für diese Woche gemacht?«, riss Herrn Lurcus' Frage ihn aus den Gedanken.
»Alles erledigt«, bestätigte Jan. »Auch wenn Englisch wirklich viel gewesen ist.«
»Herr Egger möchte schließlich, dass ihr gut vorbereitet seid auf das Leben in unserer globalisierten Welt«, erwiderte Herr Lurcus, auch wenn Jan glaubte, einen leichten Hauch von Ironie in seiner Stimme zu hören. »Aber wenn du fertig mit deinen Aufgaben bist; denkst du, du kannst mir ein wenig mit den Tieren helfen? Ich hatte mir für heute eine Untersuchung der Diricawls vorgenommen. Das ist allerdings alleine etwas schwierig, angesichts der Tatsache, dass sie einfach verschwinden und an einer völlig anderen Stelle wieder auftauchen können. Und Frau Braun wollte heute Morgen in den Kellerräumen nach einem besonderen Dünger suchen.«
»Klar, kann ich gerne machen«, antwortete Jan, auch wenn er nicht wirklich wusste, was er Herrn Lurcus – dem Experten für magische Tierwesen schlechthin – denn überhaupt helfen konnte. Trotzdem machte er sich nach dem Essen mit ihm auf den Weg zu den Stallungen.
»Man sollte einmal im Jahr das Gefieder der Vögel näher untersuchen«, erklärte Herr Lurcus, während sie zwischen den Ställen entlangliefen. »Und wenn man gerade schon dabei ist, kann man auch direkt Krallen, Schnabel und Augen überprüfen. Spätestens wenn man an die Krallen geht, besteht allerdings die Gefahr, dass sie aus Angst verschwinden und irgendwo anders im Stall wieder auftauchen. Das macht die Untersuchung nicht gerade einfach.«
»Aber was kann ich denn da helfen?«
»Habt ihr im Unterricht schon den Anhebezauber behandelt?«
»Meinen Sie Wingardium Leviosa?«
»Der bringt einem in Bezug auf Diricawls leider reichlich wenig«, antwortete Herr Lurcus. »Nicht einmal Uwalon wusste, warum. Aber auch unter der Wirkung von Wingardium Leviosa können die Vögel noch verschwinden. Der Anhebezauber Levioso macht ihnen das hingegen unmöglich. Wir hatten den damals als Vorübung zum Schwebezauber gelernt. Hat Frau Schmidt das nicht gemacht?«
Jan versuchte sich daran zu erinnern, welche Zauber sie im letzten Schuljahr behandelt hatten. All das kam ihm irgendwie schon so lange her. Doch wo Herr Lurcus es sagte, glaubte er, sich an einen solchen Zauber erinnern zu können.
»War das der mit der Bewegung, die wie eine umgedrehte Fünf aussah?«
»Ja genau der war das«, antwortete Herr Lurcus schmunzelnd und bog mit Jan in eine enge Seitengasse ein. »Versuch es mal mit dem Stein da vorne.«
Etwas zögerlich zückte Jan seinen Zauberstab. Der Anhebezauber hatte er nicht mehr genutzt, seitdem Frau Schmidt ihnen auch den deutlich wirkungsvolleren Schwebezauber gezeigt hatte. Dennoch versuchte er sich bestmöglich an Betonung und Zauberstabbewegung. Und nachdem Herr Lurcus seine anfänglichen Versuche noch etwas korrigieren musste, hatte Jan schon nach wenigen Minuten wieder den Dreh raus und brachte alle die Steine, die auf dem Boden verteilt lagen problemlos auf einen halben Meter Höhe.
»Die meisten Zaubersprüche sind wie Besenfliegen«, meinte Herr Lurcus. »Einmal gelernt, vergisst du sie nicht mehr. Und nachdem du deine Kenntnisse nochmal aufgefrischt hast, können wir jetzt nach den Diricawls sehen.«
Er öffnete die Tür des nächsten Stalls und machte eine einladende Handbewegung. Neugierig trat Jan ein. Schon nach dem ersten Schritt spürte er, wie ihm eine Welle sommerlicher Hitze entgegenwehte. Während er den Reißverschluss seiner Winterjacke öffnete, betrachtete er den Stall. Er erinnerte Jan an eine afrikanische Steppenlandlasch. Gelbbraunes Gras bedeckte eine von Termitenhügeln und Akazienbäumen gezierte Landschaft. Doch Jan kam diese Gegend nicht nur bekannt vor, weil sie so aus einem Tansania-Reiseführer entnommen worden sein könnte. Er war sich sicher, hier schon einmal gewesen zu sein.
»Das hier ist der Stall, durch den Sie uns geführt haben, als wir vor den Erklingen geflohen sind, oder?«
»Genau der war das«, bestätigte Herr Lurcus. »Das hat die armen Tiere ziemlich erschreckt. Wochenlang sind sie bestimmt doppelt so oft verschwunden wie sonst. Aber mittlerweile haben sie sich wieder beruhigt und wir sollten gleich eigentlich keine Probleme bekommen.«
Er zog einen mitgenommen aussehenden Beutel aus seinem Wanderrucksack und holte ein paar getrocknete Apfelringe heraus. Aufmunternd hielt er sie Jan hin.
»Möchtest du versuchen, den ersten anzulocken?«, fragte er.
»Anlocken?«, wiederholte Jan überrascht. »Sollte ich nicht eigentlich den Anhebezauber übernehmen?«
»Das ist unsere Option für den Notfall«, erklärte Herr Lurcus. »Eigentlich möchte ich die Tiere gerne untersuchen, ohne sie zu verzaubern.«
»Weil Sie Ihnen nicht wehtun wollen?«, fragte Jan.
Doch Herr Lurcus schüttelte den Kopf.
»Ein Anhebezauber tut nicht weh«, erklärte er.
»Es ist vielmehr so, dass ich Vertrauen für wichtiger halte als Zwang. Es ist wie mit Grindelwald und Voldemort. Ich persönlich glaube, dass Grindelwald der weitaus mächtigere Schwarzmagier war. Er hat die Leute so manipuliert, dass sie glaubten, er würde das richtige tun. Seine Anhänger haben sich ihm angeschlossen, weil sie zu ihm gehören wollten. Voldemorts Anhänger haben sich ihm angeschlossen, weil sie nicht zu seinen Feinden gehören wollten. Das ist natürlich jetzt ein sehr extremer Vergleich, aber im Grunde genommen, ist der Umgang mit scheuen Tierwesen sehr ähnlich wie das Sammeln von Anhängern. Wenn du einen Diricawl untersuchen willst, musst du ihn erst davon überzeugen, etwas zu tun, was er eigentlich nicht will.«
»Das ergibt Sinn«, antwortete Jan und nahm das trockene Obst von Herrn Lurcus in die Hände. Er betrachtete die plumpen, blauen Vögel, die in einiger Entfernung über einen umgestürzten Akazienstamm balancierten. »Soll ich ein bisschen näher zu ihnen gehen?«
Doch Herr Lurcus schüttelte den Kopf.
»Lass sie zu dir kommen. Das kann zwar dauern, aber auch das schafft Vertrauen. Und wir haben genug Zeit heute.«
Also hockte Jan sich auf den Boden und streckte seine Hände mit den getrockneten Apfelringen vor sich aus. Und dann hieß es warten. Denn die Diricawls zeigten keinerlei Interesse an Jans Annäherungsversuch. Sie warfen ihm zwar hin und wieder ein paar aufmerksame Blicke zu, entschieden sich letztendlich aber immer wieder für eine zusätzliche Runde über ihren Baumstamm.
»Was denken Sie, ist Pettigrew für ein Typ?«, fragte Jan schließlich, als er die Stille nicht mehr ertragen konnte. »Wie versucht er seine Anhänger zu überzeugen?«
Herr Lurcus sah Jan nachdenklich an und auf seiner Stirn bildeten sich einige Falten, die ihn ungewohnt alt aussehen ließen.
»Wenn wir das so einfach sagen könnten, hätten unsere Politiker und Auroren es natürlich deutlich einfacher«, antwortete er schließlich. »Aber ich glaube, Pettigrew verfolgt einen ganz anderen Ansatz als Grindelwald oder Voldemort. Er ist nicht rhetorisch fähig genug, um solch manipulativen Reden schwingen zu können wie Grindelwald. Aber er ist auch zu unbekannt, um jemanden wirklich einschüchtern zu können so wie Voldemort es bei Scharen von Menschen gemacht hat. Aber Pettigrew ist raffiniert. Man hat ein wenig das Gefühl man spiele Zaubererschach gegen ein besitzerlos wirkendes Figurenset. Aber insgeheim werden die Figuren von Pettigrew gesteuert und sind jeder Zeit bereit einen zerstörerischen Überraschungsangriff zu starten.«
Herr Lurcus fuhr sich mit seiner Hand durch sein gelocktes Haar und schüttelte über seine eigenen Worte den Kopf.
»Jetzt bin ich aber philosophisch geworden«, stellte er mit einem gewissen Entsetzen in seiner Stimme fest. »So etwas fällt definitiv in Herrn Goldenbergs Aufgabenbereich. Kümmern wir uns lieber wieder um die Diricawls. Schau mal, der da vorne kommt gleich zu dir.«
Etwas verwundert blickte Jan zu den Vögeln. Noch immer turnten sie über den Akazienstamm. Aber genau in diesem Moment – als hätte er Herrn Lurcus' Worte gehört – blieb der Vogel, der ihnen am nächsten war, stehen und blickte Jan noch interessierter an, als seine Artgenossen zuvor. Dann sprang er mit einer ulkigen Bewegung vom Akazienstamm herunter und tapste auf Jan zu. Der sah Herrn Lurcus erstaunt an.
»Woher wussten Sie...?«, begann er.
»Ich kenne die Tiere hier«, antwortete der Lehrer schmunzelnd. »Übrigens – um nochmal auf unser Thema von vorhin zurückzukommen – glaube ich, dass das Pettigrews Problem ist. Er kennt uns nicht. Er kann sich nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, die sein krudes Weltbild nicht teilen. Aber jetzt wirklich Schluss mit der Philosophie. Kümmern wir uns um Dinge, von denen ich wirklich etwas verstehe.«
Jan sah im Augenwinkel wie er eine Lupe aus der Spitze seines Zauberstabs wachsen ließ. Der Diricawl bewegte sich unterdessen munter auf ihn zu und Jan bemühte sich, möglichst still zu bleiben. Interessiert musterte er den kurios aussehenden Vogel, den nun vielleicht noch zwei Meter von Jan trennten. Was würden die Wissenschaftler der Muggel nur geben, um zu sehen, dass die Dodos alles andere als ausgestorben waren? Mit seinen kurzen Beinchen tappte der Vogel auf Jan zu und musterte den Apfel in seiner Hand. Doch dann, als Jan gerade glaubte, das Tier würde zubeißen, klopfte es kräftig an der Tür.
Noch im selben Augenblick löste sich der Diricawl vor Jan in Luft auf. Niedergeschlagen schnalzte Jan mit der Zunge und sah zum anderen Ende des Stalles, wo der Vogel nun wieder auftauchte und seinen Blick starr auf die Tür gerichtet hatte. Auch Jan schaute dorthin. Wer hatte gerade eben da nur geklopft? Frau Braun müsste doch eigentlich wissen, dass man nicht so ruckartig an die Ställe klopfte, in denen magische Tierwesen hausten. Und die Art, in der Herr Lurcus ›Herein‹ rief, klang so, als rechnete auch er jemand anderen als Frau Braun.
Wer wirklich vor der Tür stand, das erkannte Jan schon direkt, nachdem ihr Besucher die Türe geöffnet hatte. Einen solchen himmelblauen Umhang trug niemand anderes als Herr Goldenberg. Er machte eine schnelle Handbewegung zum Gruß und schloss gleichzeitig mit der anderen Hand die Tür.
»Guten Morgen, Jamie!«, grüßte er den Lehrer für magische Tierwesen. »Und guten Morgen, Jan! Es ist schön, euch beide in diesem Labyrinth gefunden zu haben.«
»Guten Morgen, Arnold«, erwiderte Herr Lurcus die Begrüßung und musterte ihren Gast interessiert. »Ich hoffe, du hast auf deiner Suche nach uns nicht gegen alle Stalltüren geklopft.«
Auch wenn es eigentlich lustig klingen sollte, hörte Jan einen vorwurfsvollen Unterton in der Stimme des Magizoologen.
»Jamie, ich bitte dich! Ich weiß genau, dass du mir die Hände in Ketten legen würdest, wenn ich deinen Geschöpfen so auf die Nerven gehen würde. Glücklicherweise habe ich Ann-Kristin im Eingangsflur getroffen, die mir sagen konnte, wo ihr seid.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass sie dir so genau beschreiben kann, wo wir sind«, scherzte Herr Lurcus anerkennend, wurde dann aber schnell wieder ernst. »Aber erzähl schon, Arnold! Was bringt dich am frühen Morgen schon zu uns?«
»Grauenvolle Neuigkeiten«, antwortete Herr Goldenberg unverblümt und sein Blick wanderte zu Jan. »Können wir sie vielleicht kurz unter vier Augen besprechen?«
Herr Lurcus runzelte bei der letzten Frage die Stirn.
»Jan hat in den letzten Tagen ziemlich viel Gefährliches mitbekommen. Bist du sicher, dass deine Informationen für ihn nicht auch von Interesse sein könnten?«
Herr Goldenberg betrachtete Jan noch einmal, als wäre er ein zu untersuchender Diricawl, dann bildete sich ein schwaches Lächeln auf den Lippen und er nickte.
»Du hast mal wieder recht, Jamie. Er würde es spätestens morgen sowieso mitbekommen.«
»Morgen?«, fragte Herr Lurcus besorgt. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass unser Plan, den Schulbetrieb wieder aufzunehmen, gescheitert ist.«
»Nein, Jamie, keine Sorge. Morgen kehren alle Schüler zurück in die Schule. Gestern Morgen hat Georg den Alarm für die Tests fertig gestellt. Übrigens mit Hilfe der Zauber, die Filio in seiner Maschine genutzt hat«, fügte er an Jan gewandt hinzu. »Wenn du ihn das nächste Mal siehst, kannst du ihm erzählen, dass seine Buche bald größer ist als er selbst. Georg hat mir sofort von seinem Durchbruch erzählt und wir waren guter Dinge, dass der Neustart das Schulbetriebs ein voller Erfolg wird. Gestern Abend haben sich die Ereignisse dann aber überschlagen. Zuerst wurde Svea Dreyer in Untersuchungshaft geschickt.«
»Svea Dreyer ist in Untersuchungshaft?«, wiederholte Jan fassungslos. »Aber wieso das denn?«
»Ihr wird Fälschung von Beweismitteln und Falschaussage vorgeworfen. Die Phiole, die dem Ministerum zur Verfügung gestellt hat, hat sich als Fälschung erwiesen.«
»Aber das kann nicht sein«, behauptete Jan entrüstet. »Pettigrew wollte mir die Phiole stehlen, weil es die Phiole der Horkruxe war. Und Svea hat sie sich vorher angesehen.«
»Jan, es erscheint auch mir völlig schleierhaft, wieso Pettigrew bei dir einbrechen sollte, um eine Fälschung zu stehlen«, antwortete Herr Goldenberg. »Aber die Phiole ist zur Prüfung zu Karling & Berkway gegangen. Mein Schwager arbeitet dort als Authentizitätsprüfer. Laut ihm gibt es keine Zweifel daran, dass es sich um eine Fälschung handelt. Und seiner Meinung nach ist sie sogar höchst stümperhaft erstellt worden. Innerhalb eines halben Tages konnten sie jeden Glauben an eine Echtheit der Phiole beseitigen.«
Jan schüttelte den Kopf. Er verstand die Welt nicht mehr. Svea hätte doch bemerken müssen, wenn es sich um eine schlechte Fälschung gehandelt hätte. Und warum hatte Pettigrew nicht gewusst, dass es eine Fälschung war, die Jan bei sich gehabt hatte? Woher hatte er eigentlich überhaupt gewusst, dass Jan eine Phiole bei sich hatte, die für ihn interessant war?
»Doch damit enden die Hiobsbotschaften nicht«, fuhr Herr Goldenberg fort. »Gestern Abend hat Assman Georg einen Besuch bei sich zu Hause abgestattet. Und nachdem er sich geweigert hat, die Schüler wieder nach Winterfels zu schicken, hat sie ihn in seinem eigenen Haus eingesperrt.«
Jans Kinnlade klappte noch ein weiteres Stück nach unten. Niemals hätte er geglaubt, dass man Herrn Tuplantis einsperren konnte. Er war so ein fähiger Zauberer – vor allem in seinem eigenen Haus musste er sich doch zu wehren wissen.
»Dann sollten wir ihn befreien, nicht?«, schlug Herr Lurcus vor.
Doch Herr Goldenberg schüttelte entschieden den Kopf.
»Es wäre ihm ein Leichtes, sich selbst zu befreien. Ich habe mich mit ihm durch sein Kellerfenster unterhalten. Der Bann ist keine Herausforderung für ihn. Und er meinte, dass die Wachen dringend Nachhilfe bei einem Klabbert nehmen müssten. Aber er möchte sich nicht befreien. Er ist der Meinung, dass wir Assmann glauben lassen sollen, wir würden nachgeben. Wir sollen so tun, als würden wir jetzt, wo Georg nicht mehr da ist, wirklich nach Winterfels gehen. Und sobald wir hier sind, nutzen wir wie geplant den Geheimgang im Eulentunnel.«
»Und das soll sie uns abkaufen?«, fragte Herr Lurcus skeptisch. »Assmann mag zwar politisch hoch fragwürdige Positionen vertreten, aber sie ist nicht blöd. Sie wusste genau, wie sie Pettigrews Verhalten ausnutzen muss, um Haas in schlechtes Licht zu stellen. Sie wird uns genau im Auge behalten, jetzt wo sie so kurz vor ihrem Erfolg ist.«
»Deswegen müssen wir sie glauben lassen, sie hätte ihren Erfolg bereits erzielt«, entgegnete Herr Goldenberg und sah Herrn Lurcus tief in die Augen. »Assmann hat mich, als stellvertretenden Schulleiter, heute Mittag zu einem Gespräch eingeladen. Ich werde mich als reuevollen Nachfolger präsentieren, der entsetzt ist über den rücksichtslosen Kurs des verantwortungslosen Tuplantis und ihr genau zustimmt, dass die Schüler wieder nach Winterfels müssen.«
»Vermutlich ist das die beste Lösung«, stimmte Herr Lurcus zu, während er seine Finger nachdenklich über die Riemen seines Rucksacks wandern ließ.
»Es ist allerdings auch eine überaus riskante Lösung«, ergänzte Herr Goldenberg. »Seitdem sie Georg eingesperrt hat, traue ich ihr alles zu. Ich muss mich jetzt auch schon direkt auf dem Weg zu dem Gespräch mit ihr machen, aber ich wollte dich wenigstens noch über alles informiert haben. Bei Stefanie und Martin bin ich heute Morgen auch schon gewesen. Und ihnen habe ich die gleiche Bitte gesagt wie ich sie dir jetzt sage werde: Sollte ich, aus welchen Gründen auch immer, am Dienstag nicht da sein, bitte ich dich, dass du dafür sorgst, dass alle Schüler nach Nurmengard kommen.
Wir können es nicht verantworten, sie in Winterfels zu lassen. Assmann ist Berufspolitikerin, die nur an ihre Umfragewerte denkt. Und dafür nutzt sie Pettigrews Verhalten so aus, wie es ihr am besten in die Statistiken passt. Das Wohl unserer Schüler interessiert sie nicht im Geringsten. Sie sind zu einem Klatscher in ihrer politischen Quidditch-Partie geworden.«
»Ich stehe vollkommen hinter deiner Meinung, Herr Schulleiter«, sagte er, wobei er sich einen scherzhaften Unterton bei den letzten Worten nicht verkneifen konnte. »Ich wünsche dir alles Gute heute Abend. Erzähl Assmann, wie sehr du dich darauf freust, die Schüler endlich wieder aus der Gefangenschaft des bösen Herrn Tuplantis zu führen.«
Vermutlich sollte auch das lustig klingen, aber Jan konnte sich nicht einmal zu einem Schmunzeln hinreißen. Zu sehr beschäftigte ihn noch das, was Herr Goldenberg gerade erzählt hatte. Und es kam ihm immer mehr so vor, als wäre Pettigrew nicht der Einzige, der heimlich die gegnerischen Schachfiguren steuerte.
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