Kapitel 25 - Hans-Herbert Grindelwald
Selbstverständlich machte sich Filio direkt nach dem Ende der Stunde auf den Weg in die Bibliothek. Aber nicht in den kleinen Raum im Erdgeschoss, der übergangsweise mit einigen Büchern aus Winterfels ausgestattet worden war.
»Da gehen doch alle hin«, hatte er gemeint. »Wenn wir etwas wirklich Besonderes herausfinden wollen, müssen wir in Bibliothek im Turm.«
Also standen Jan und Filio nur kurze Zeit später in der geräumigen Turmbibliothek und durchstöberten die verschiedenen Regale.
»Hier sind Bücher über Zaubersprüche«, entdeckte Jan nach einigem Stöbern und begann die Titel zu überfliegen.
Mit Erschrecken entdeckte er zwischen Circes Kunst – Sprüche aus der Antike und der Ezyklopädie der Versiegelungsflüche auch eine Broschüre mit der Aufschrift Protego horribilis – Grindelwalds vernichtendes Feuer.
Als er aufsah, um sie Filio zu zeigen, fiel ihm auf, dass der immer noch auf der gegenüberliegenden Raumseite suchte. Hatte er ihn etwa nicht gehört?
»Filio!«, wiederholte Jan. Doch als Antwort erhielt Jan bloß ein »Einen Moment!«
Da er wusste, wie lange Momente bei Filio dauern konnte, wandte er sich von den Regalen über Zaubersprüche ab und ging zu seinem Mitschüler, um zu sehen, was der gefunden hatte.
Schnell erkannte Jan, dass Filio sich über ein Buch gebeugt hatte und konzentriert dadurch blätterte. Jan erhaschte einen Blick auf ein Familienfoto, einen Stammbaum und das Bild einer Urkunde. Was auch immer Filio da in den Händen hielt – ein Buch über Zaubersprüche für Maschinenbau war es nicht.
»Was ist das?«, fragte Jan verwundert.
Zur Antwort schlug Filio das Buch zu und zeigte Jan den Einband.
»Hans-Herbert Grindelwald – Mitbegründer der modernen Arithmantik und Rätselmeister«, las Jan vor. »Das ist der Kerl von dem Portrait, oder?«
»Der von dem Portrait neben dem Geheimgang«, bestätigte Filio. »Und ein Portrait von ihm hing auch in dem Gang, in dem der Einbrecher verschwunden ist. Wo es einen Geheimgang geben muss. Ich habe Herrn Grindelwald einmal gefragt, was es über Hans-Herbert zu erzählen gibt. Er meinte, dass dieser Kerl als einer der wenigen Mitglieder der ehrwürdigen Familie Grindelwald nichts Wichtiges vollbracht hat und er eher ein schwarzes Schaf gewesen ist. Aber daran kommen mir gerade gewaltige Zweifel. Lies mal den Klappentext!«
Jan überflog die Worte auf der Rückseite des Buches, die Filio ihm förmlich unter die Nase hielt.
Arithmetik und Mantik galten lange als grundverschieden. Hans-Herbert Grindelwald hat maßgeblich dazu beigetragen, die Gemeinsamkeiten der beiden Wissenschaften herauszufinden und zu definieren. Doch nicht nur die Wissenschaft hat diesem Mann viel zu verdanken. Dr HH, wie er von seinen Freunden scherzhaft genannt wurde, war einer der ersten, die es verstanden haben, Magie prächtig zu Unterhaltungszwecken zu nutzen. Er entwickelte magische Rätsel und war vor allem mit seinen Labyrinth-Heften erfolgreich. Und für seine Späße war ihm keine Dimension zu groß – auch mit Geheimgängen in Lebensgröße hat er mit Erfolg experimentiert – Hogwarts und Nurmengard zeugen von seinen Entwicklungen.
Lernen Sie in dieser Biografie eine Persönlichkeit kennen, die trotz ihres hohen akademischen Ansehens nie aufgehört hat für Spaß und Scherze zu leben!
»Von wegen schwarzes Schaf«, stieß Jan hervor. »Der ist ja richtig erfolgreich gewesen.«
»Und er hat etwas mit Geheimgängen zu tun«, ergänzte Filio. »Weißt du, mir ist da so eine Theorie gekommen.«
»Du hörst dich ja fast schon so an wie ich«, bemerkte Jan mit hochgezogenen Augen.
»Es kommt kein Herr Jorski in ihr vor«, verteidigte sich Filio. »Und sie lässt sich ganz simpel und ungefährlich beweisen.«
»Willst du sie mir denn wenigstens erzählen? Oder muss ich darauf auch so lange warten, wie auf deine Idee mit dem Briefverteiler?«
»Jetzt sei doch nicht so nachtragend«, beschwerte sich Filio und zog einen Schmollmund. »Das war eine Ausnahme. Natürlich erzähle ich dir meine Theorie. Pass auf: Ich glaube, dass die Bilder von Hans-Herbert irgendetwas mit dem Geheimgang zu tun haben. Und dass Herr Grindelwald das weiß. Und weil er nicht wollte, dass wir das herausfinden, hat er behauptet, es gäbe nichts Interessantes über Hans-Herbert. Jetzt kann man zwar noch überlegen, ob er Frau Castor dazu angestiftet hat, den Geheimgang zu versiegeln, dann sind wir aber wieder auf dem Niveau von den Herr-Jorski-Theorien angekommen.«
»Und wenn wir diesen Zusatz weglassen, klingt das auch überaus schlüssig«, überlegte Jan. Insgeheim hielt er auch den Zusatz mit Frau Castor für gar nicht so unwahrscheinlich, aber das behielt er lieber für sich. Er wollte aus letztem Jahr lernen. »Ich verstehe nur nicht, wie du deine Theorie überprüfen willst.«
»Ich hoffe, dass ich in diesem Buch einen Hinweis finde«, erklärte Filio.
»Glaubst du das denn wirklich? Es wäre schon ein ziemlich schlechter Geheimgang, wenn alle wichtigen Informationen über ihn in einer Biographie zu finden wäre.«
Doch zu Jans Überraschung schüttelte Filio den Kopf.
»So darfst du das nicht sehen«, antwortete er. »Das Buch hier ist 1954 erschienen. Da ist das alte Schloss Nurmengard, in das Hans-Herbert seine Geheimgänge eingebaut hat, bereits stark umgewandelt gewesen. Seine versteckten Wege waren wahrscheinlich gar nicht mehr vorhanden oder zugänglich. Dementsprechend konnten sie problemlos als historische Anekdoten in die Biografie geschrieben werden. Erst 2001 hat es Manuel Grindelwald das Schloss wieder ganz originell rekonstruiert und dabei bestimmt auch die Geheimgänge wieder eingebaut. Aus der historischen Biografie könnte also ein Stück weit ein Schlüssel für die Geheimgänge geworden sein – wenn über sie denn überhaupt etwas hier drinsteht.«
Jans Mund klappte bei Filios Ausführungen immer weiter auf.
»Das hast du richtig gut kombiniert!«
Filio grinste schief.
»Danke! Eigentlich bin ich gar nicht so blöd wie Herr Egger meint. Ich beschäftige mich eben nur mit Sachen, die mich wirklich interessieren. Und habe ich halt einfach gar nichts für Englisch übrig.«
»Die Geheimgänge sind aber auch wirklich interessanter«, stimmte Jan zu. »Nehmen wir das Buch mit und durchforsten es heute Abend zusammen mit den anderen nach einem versteckten Hinweis?«
Filio sah Jan an, als hätte er vorgeschlagen, das Buch zu verbrennen.
»Das geht doch nicht«, sagte er in einer Tonlage, als sei das selbstverständlich. »Du erinnerst dich doch daran, was Herr Grindelwald erzählt hat.«
Jan legte verwundert den Kopf schief. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was Filio meinte.
»Ach, da bist du gar nicht dabei gewesen«, erinnerte sich der allerdings in diesem Moment. »Da war ich mit Anna hier oben. Dann ist Herr Grindelwald plötzlich aufgetaucht und hat mit uns geredet. Du kennst Anna ja, sie ist zwar eigentlich schweigsam, aber über Bücher kann sie stundenlang reden. Zwischendurch hat sie ihn auch gefragt, ob er denn keine Sorge hätte, dass die wertvollen Bücher von irgendwelchen Schülern geklaut werden. Darauf hat er geantwortet, dass er die Bücher mit einem speziellen Zauber geschützt hat. Sie schlagen Alarm, wenn sie aus der Bibliothek gebracht werden.«
»Schade«, meinte Jan zerknirscht. »Dann müssen wir es wohl einfach hier lesen.«
»Ich glaube, so einfach ist das gar nicht«, entgegnete Filio. »Lass uns das gleich mit den anderen besprechen. Wir sind jetzt eine Ewigkeit nicht in den Geheimgängen gewesen. Da kommt es auf einen Tag länger warten auch nicht an.«
Jan sah Filio überrascht an. Ein solch vernünftiges Zurückhalten seines Erfindergeistes hätte er ihm gar nicht zugetraut.
»So machen wir es«, stimmte er zu.
Also legten sie das Buch zurück in das Regal und gingen zum Gemeinschaftsraum, wo Levi, Marina, Lina und Anna bereits saßen und mit resignierten Blicken ihre Englischaufgaben bearbeiteten.
»Dich gibt es ja auch noch«, stellte Filio mit Blick auf Lina fest. »Ich hatte schon überlegt, ob du zwei Klassen übersprungen hast.«
»Wenn man unsere Englischkenntnisse vergleicht, gar keine abwegige Idee«, entgegnete die, ohne von ihrem Blatt aufzusehen.
»Jan! Filio!«, begrüßte Levi die beiden, bevor Filio etwas erwidern konnte. »Wo seid ihr gewesen?«
»Wir haben jetzt schon mal ohne euch angefangen, weil wir nicht wussten, wo ihr bleibt«, ergänze Marina. »Aber wirklich weit sind wir noch nicht gekommen.«
»Wir waren noch in der Bibliothek«, antwortete Jan. »Wir haben nach Sprüchen für den Werkel-WP gesucht.«
»Und wir haben etwas herausgefunden«, fügte Filio hinzu. »Und einen Plan gemacht. Und jetzt wollten wir euch fragen, ob ihr uns unterstützen wollt.«
Lina hob gleichzeitig ihren Kopf und eine Augenbraue.
»Und da wunderst du dich noch, warum ich in letzter Zeit öfters bei den Viertklässlern bin? Bei ihnen habe ich es auf jeden Fall nicht mit irgendwelchen kindischen Plänen zu tun.«
»Du kennst ihn noch nicht mal«, protestierte Filio entrüstet.
»Wollen wir nicht erst unsere Englischaufgaben machen?«, fragte Anna und sah auf ihr ungefähr zu einem Drittel ausgefüllten Arbeitsblatt über das Passiv. »Sonst kommen wir doch total aus dem Thema raus.«
»Ich weiß nicht«, antwortete Marina nachdenklich und strich sich durch ihre blonden Haare. »Ich glaube echt nicht, dass ich mich jetzt noch auf Englisch konzentrieren kann. Du hast mich neugierig gemacht, Filio.«
»Erzähl schon«, meinte Levi und nickte Filio aufmunternd zu. »Aber fass dich ein bisschen kurz. Wir müssen Englisch heute noch fertigbekommen und ich wollte auch irgendwann noch schlafen gehen.«
»Kurzfassen ist doch meine Spezialität«, scherzte Filio, während er und Jan sich zu ihren Freunden an den Tisch setzten. »Passt auf: Ihr erinnert euch doch noch an den Geheimgang, oder? Und jetzt habe ich einen großen Hinweis gefunden, wie wir einen weiteren Eingang finden könnten. Wir haben in der Bibliothek eine Biografie über den Entwickler dieser Gänge gefunden. Ich würde damit gerne noch einen letzten Versuch wagen, nach den Geheimgängen zu suchen.«
Er machte eine theatralische Pause und sah die anderen erwartungsvoll an.
»Das hört sich gut an«, sagte Marina nach einer Zeit des Schweigens. »Aber was genau sollen wir jetzt machen?«
»Das sollte ich vielleicht auch erwähnen, stimmt. Ich brauche jemanden, um ein Auge auf Grindelwald zu werfen. Wisst ihr, ich habe das Gefühl, dass er nicht will, dass wir die Geheimgänge finden. Und dass es vielleicht besser wäre, wenn er nicht gerade in die Bibliothek kommt, wenn ich gerade Hans-Herbert Grindelwalds Biografie lese. Da seine Wohnräume allerdings über der Bibliothek sind, ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass er bei mir vorbeikommt, wenn er gerade zwischen Schloss und seinen Räumen hin- und herläuft.«
»Das heißt, wir müssen einfach nur ein Auge auf Herrn Grindelwald haben, während du am lesen bist?«, fasste Levi zusammen.
»Ganz so einfach ist das nicht. Ihr müsst mir ja auch irgendwie unauffällig Bescheid geben, wenn er sich auf den Weg in den Turm macht. Das wiederum muss ich bemerken, er darf es aber nicht sehen.«
»Das stimmt«, sagte Marina nachdenklich. »Ein Periculum wäre da zu auffällig.«
»Viel zu auffällig«, bestätigte Anna mit großen Augen. »Ich habe mal einen Roman gelesen, da konnten die beiden Hauptpersonen gegenseitig Gedanken austauschen, wenn sie sich ganz stark konzentrieren. Das wäre jetzt praktisch.«
»Wir könnten versuchen, dass einer von uns Herrn Grindelwald aufhält, während er auf dem Weg die Treppen nach oben ist«, schlug Jan vor. »Und währenddessen läuft ein anderer nach oben und warnt dich, Filio.«
Er sah seine Freunde erwartungsvoll an. Doch wirklich überzeugt wirkte niemand von ihnen. Vor allem Levi hatte seine Stirn in Falten gelegt.
»Das ist zwar eine gute Idee, aber ich finde sie zu umständlich. Warum nehmen wir nicht einfach unsere Zwillingsbücher?«
Jan schlug sich gegen die Stirn. Wie hatte er nicht selbst auf diese Idee kommen können? Die Zwillingsbücher waren die perfekte Lösung. Somit konnten sie Filio nahezu in Echtzeit informieren.
»Ihr würdet mir eines eurer Zwillingsbücher geben?«, fragte Filio. »Das wäre mir aber eine große Ehre.«
»Wir haben nichts vor dir zu verheimlich«, antwortete Levi. »Du kannst gerne lesen, wie wir über dich lästern.«
Er zwinkerte Filio scherzhaft zu. Der wiederum grinste von einem Ohr zum anderen.
»Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.«
Dass sehr wohl noch etwas schiefgehen konnte, das merkten sie in den nächsten Tagen. Denn um Herrn Grindelwald im Auge zu behalten, musste man ihn erst einmal finden. Damit waren sie allerdings überaus unerfolgreich. Der Schlossbesitzer saß zwar jeden Morgen am Frühstückstisch der Lehrer, nach Unterrichtsende konnten Jan und seine Freunde ihn allerdings nirgendwo entdecken.
Als sie ihn am Donnerstagabend immer noch nicht gefunden haben, war es Filio endgültig genug.
»Jetzt reichts«, sagte er beim Abendessen entschieden. »Wir haben jetzt zwei Nachmittage lang nach ihm gesucht. Morgen werden andere Maßnahmen ergriffen. Ich opfere mein Frühstück.«
Und so ging Filio am nächsten Morgen nur in den Festsaal, um seinen Corona-Test zu machen, zu schauen, ob Herr Grindelwald am Tisch saß und sich ein Croissant für den Weg in die Bibliothek mitzunehmen. Mit dem in der einen Hand und Levis Zwillingsbuch in der anderen Hand verließ er den Festsaal wieder.
Die anderen Haistras aus seinem Jahrgang sahen unterdessen immer wieder zu Herrn Grindelwald. Doch der war glücklicherweise in ein Gespräch mit Herrn Goldenberg vertieft und machte keine Anstalten zu gehen. Als Jan um kurz vor acht in sein Zwillingsbuch schrieb, dass sie sich jetzt auf den Weg zum Unterricht machten und Filio jetzt auch besser kommen sollte, war der Schlossbesitzer immer noch nicht aufgestanden.
Während sie in Richtung des Fachraums für Zaubertränke liefen, erhielten sie von Filio ein okay als Antwort. Als Herr Moos ihnen kurz darauf allerdings die Türe aufschloss, war ihr Freund noch nicht unter den versammelten Schülern. Und auch als Herr Moos anfing, etwas über die Auswirkungen von Temperaturänderungen auf verschiedene Pflanzenextrakte an die Tafel zu schreiben, war der Platz zwischen Anna und Hannes noch leer.
»Sollen wir mal nach ihm sehen?«, flüsterte Marina Jan besorgt zu.
»Wir schreiben ihm erstmal«, wisperte Jan zurück. »Wenn er in fünf Minuten noch nicht geantwortet hat, gehe ich mal nachschauen.«
Ist alles gut bei dir? Wo bist du? schrieb er in das Zwillingsbuch.
Er und Marina tauschten noch einmal ratlose Blicke aus. Dann machten sie sich daran, Herrn Moos' Tafelbild in ihre Hefte zu übernehmen. Während Jan gerade versuchte, die Tabellenlinien auch ohne Lineal zu zeichnen, stieß Levi ihm gegen den Ellenbogen und verursachte somit eine krakelige Linie quer über die bisher gezeichneten Felder. Überrascht sah Jan zu seinem Sitznachbar.
»Filio hat geantwortet«, flüsterte der und zeigte auf das Zwillingsbuch. Sofort zog Jan es ein Stück näher zu sich, sodass er, Levi und Marina sehen konnten, was Filio geschrieben hatte.
Natürlich ist alles gut. Bin gleich da. Während sie noch lasen, erschienen die Worte hat der Unterricht schon angefangen? in Filios unsauberer Handschrift auf der Seite des Zwillingsbuchs.
»Ach Filio«, seufzte Marina schmunzelnd. »Ich will echt nicht wissen, was er in der Zeit jetzt noch angestellt hat.«
Jan schüttelte den Kopf. Auch er war gespannt, wo Filio so lange geblieben war. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Tafel zu, wo Herr Moos gerade eine kurvenförmige Linie in ein Koordinatensystem zeichnete.
»Nach dem Prinzip funktioniert das für alle thermophilen Extrakte. Auf dem Arbeitsblatt, das ich euch jetzt austeile, gibt es da auch ein paar Aufgaben zu. Bitte nur nicht vergessen, den Fleamont-Faktor mit einzuberechnen, wenn einer angegeben ist, das ist ein ärgerlicher und leider oft gemachter Fehler.«
Er ging zu seinem Schreibtisch und wühlte einen Stapel Blätter aus dem dort verteilten Chaos hervor. In diesem Moment betrat Filio den Raum. Auf leisen Sohlen schlich er sich zu seinem Platz, in der Hoffnung, Herr Moos würde ihn nicht bemerken. Doch als Filios Stuhl beim Zurückschieben laut quietschte, war dieser Plan spätestens hinüber.
»Guten Morgen, Filio«, begrüßte Herr Moos den verspäteten Schüler freundlich. »Was ist los? Hat dein Specht-Wecker heute Morgen nicht funktioniert?«
»Dass Sie meiner Erfindung eine solche Unzuverlässigkeit unterstellen«, beschwerte sich Filio entrüstet, während der Lehrer ihre Reihe entlangging und jedem ein Arbeitsblatt aushändigte. »Natürlich funktioniert mein Wecker.«
»Leider«, grummelte Hannes.
»Dann nehme ich mal an, dass du einen wichtigen Grund gehabt hast, der dich vom pünktlichen Erscheinen abgehalten hat«, sagte Herr Moos, während er zu den Kestens in der hinteren Reihe ging. »Die Aufgaben solltest du auch so eigentlich hinbekommen. Es ist eigentlich ziemlich ähnlich wie das, was wir letzte Woche mit den thermophoben Extrakten gemacht haben, nur umgekehrt. Aber zur Not kann dir Anna das bestimmt nochmal erklären. Sie war glaube ich die Einzige, die richtig aufgepasst hat.«
Er warf Jan und Levi einen vorwurfsvollen Blick zu. Und auch wenn Jan liebend gerne das Bild seines Lehrers von ihm wieder etwas aufgebessert hätte, interessierte es ihn doch jetzt mehr, was Filio bis gerade eben gemacht hatte. Sobald Herr Moos die Blätter ausgeteilt hatte und sich daran machte, die Tafel zu wischen, drehte er sich erwartungsvoll zu Filio um.
»Und?«, flüsterte er nahezu synchron mit Levi.
Filio sah sie mit einem zufriedenen Grinsen an.
»Ich habe die Lösung gefunden«, erzählte er stolz. »Man muss bei jedem Portrait von Hans-Herbert Grindelwald schauen, in welche Richtung seine rechte Hand zeigt und dann fünfzig Zentimeter in dieser Richtung suchen. Da ist der geheime Eingang.«
»Du bist wirklich ein Entdecker, Filio«, stellte Levi fest.
»Aber warum bist du so spät?«, fragte Jan. »Hat Herr Grindelwald dich doch noch getroffen?«
»Und wenn schon«, entgegnete Filio. »Jetzt wo wir des Rätsels Lösung kennen, kann er das Buch gerne konfiszieren. Aber das ist gar nicht passiert. Ich wollte einfach nur mal nachschauen, ob das Ganze denn wirklich stimmt.«
»Du bist in dem Gang gewesen?«
»Das mache ich mit euch gemeinsam«, widersprach Filio. »Ich habe einfach mal geschaut, ob da wirklich ein Zugang ist.«
»Und?«
»Wenn keiner da gewesen wäre, würde ich jetzt nicht strahlend hier sitzen.«
Jan wollte gerade begeistert etwas antworten, als er plötzlich Herrn Moos vor ihrem Tisch bemerkte.
»Wolltest du dir lieber von Jan und Levi erklären lassen, was es mit thermophoben Extrakten auf sich hat?«, fragte er skeptisch.
»Natürlich«, antwortete Filio hastig. »Anna hätte es wahrscheinlich besser gekonnt, aber ich wollte sie einfach nicht vom Arbeiten abhalten.«
Herr Moos verschränkte die Arme.
»Na dann lass mal hören, was passiert, wenn du einen kaukohlhaltigen Trank erhitzt.«
Jan sah mit zusammengebissenen Zähnen zu Filio. Vielleicht hätten sie doch zuerst ihre Aufgaben machen sollen. Doch Filio ließ sich nicht verunsichern.
»Der Kauhohl ist ganz klar thermophob. Jetzt kommt es natürlich darauf an, was noch so in dem Trank drin ist. Kaukohl hat schließlich einen sehr schwachen Fleamont-Faktor, deswegen könnten andere Zutaten seine Wirkung überschatten.«
Jan tauschte kurze Blicke mit seinen Sitznachbarn. Sowohl aus Levis als auch von Marinas Gesichtsausdruck wurde deutlich, dass beiden bewusst war, was Filio versuchte. Er stellte sein Halbwissen möglichst professionell dar und versuchte Herrn Moos davon zu überzeugen, dass er wirklich eine Ahnung von der Wirkung des Kaukohls hatte. Doch der Lehrer hatte seine Mundwinkel bereits leicht angehoben. Auch er hatte Filio durchschaut. In genau diesem Moment klopfte es an die Tür des Fachraums. Herr Moos zwinkerte Filio zu.
»Glück gehabt«, flüsterte er. Dann bat er den Gast herein. Daraufhin trat niemand anderes als Schulleiter Tupplantis persönlich in den Raum. Ihm fehlte heute sein smaragdgrüner Anzug, durch den er sich sonst immer auszeichnete. Heute war die Farbe seines Jacketts ein blasses Grau und lediglich das leuchtend grüne Einstecktuch in dessen Brusttasche erinnerte noch an Herrn Tuplantis' gewöhnlichen Kleidungsstil. Seine sonst ordentlich zurechtgemachte Lockenfrisur wirkte mitgenommen – einige Strähnen fielen ihm tief ins Gesicht.
»Bitte entschuldigt die Störung«, sagte er, während er vor die Tafel trat. »Aber es ist der schlimmste Fall eingetreten, den wir uns nur ausmalen konnten. Einige Schüler aus Winterfels sind Corona-positiv.«
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