Kapitel 20 - Florfliegen und Malvenblätter
Jans Winterferien waren ganz anders als seine Sommerferien. Es herrschte eine durchweg fröhliche Stimmung und es kam kein einziges Mal auch nur eine Andeutung dafür auf, ob Jan nach den Ferien noch weiter nach Winterfels gehen würde. Jan und seine Eltern backten gemeinsam Plätzchen (und Kartoffelpuffer, Kartoffelgratin und eine Kartoffeltortilla), feierten die Weihnachtstage mit der Großfamilie und fuhren in der letzten Woche in die Schweiz zum Ski-Urlaub. Jan war zwischenzeitlich selbst überrascht, wie unbeschwert er diese Zeit genießen konnte. Es gab keine aktuelle Bedrohung durch Titus Pettigrew. Und es gab keinen Grund zur Annahme, dass seine Schulzeit in Winterfels bald ein Ende nehmen sollte. Daher konnte er sich befreit und wagemutig die roten Pisten rund um den Gemsstock hinunterstürzen.
Viel zu schnell ging die Zeit vorbei und Jan staunte nicht schlecht, als schon bald der letzte Freitag der Ferien war und er immer noch nicht sein Referat für Verteidigung gegen die dunklen Künste fertiggestellt hatte. Ebenfalls zum Staunen brachte ihn die Tatsache, dass sie am nächsten Tag pünktlich an der Villa Hohenthal ankamen und er früh genug da war, um sich gemeinsam mit Levi, Anna, Filio und Hannes einen Carl auszusuchen. Während der Fahrt tauschten sie sich gut gelaunt über ihre Ferien aus und ließen Jan somit ganz vergessen, dass ihm noch eine Porttür bevorstand.
Nachdem er einmal durch sie hindurchgegangen war, fühlte er sich allerdings den restlichen Nachmittag so elend, dass er sie von da an nicht mehr vergessen konnte. Und Herr Moos, der Schüler wie ihn für gewöhnlich nach dieser Reise mit seinen Tränken versorgte, war nirgendwo aufzufinden. Umso größer war Jans Freunde daher, als der Lehrer für Zaubertränke ihnen anderthalb Wochen später mit einer guten Nachricht über den Weg lief. Jan, Anna und Filio kamen gerade aus dem Englischunterricht und letztgenannter beschwerte sich so laut über Herrn Egger, dass der Lehrer es vermutlich noch bis in den Klassenraum hören musste.
»Als wäre das Present Progressive nicht schon dämlich genug, gibt es das jetzt auch noch im Passiv«, zeterte er. »Wie soll das denn jemand aussprechen können, ohne fünf Knoten in die Zunge bekommen?«
Er warf einen Blick zu Anna, die gerade den Mund öffnete, um etwas zu sagen.
»Ja, ich weiß, du kannst das«, sagte er. »Und ich bewundere dich dafür. Echt.«
Erschrocken zuckte Filio zusammen, als Herr Moos plötzlich neben ihnen auftauchte.
»Es geht um Englisch?«, fragte er mit einem vielsagenden Blick.
Filio nickte.
»Das konnte ich auch nie leiden«, meinte der Lehrer für Zaubertränke lachend. »Deswegen habe ich einen Beruf gelernt, der so wenig mit Englisch zu tun hat wie möglich. Ich wollte nie wieder dieses dämliche th aussprechen müssen.«
Er lachte herzlich.
»Aber vielleiht kann ich ja eure Stimmung aufbessern, indem ich euch verrate, was wir übermorgen im Unterricht machen.«
»Ein Experiment?«, fragte Filio mit großen Augen.
Herr Moos nickte.
»Und nicht nur irgendeins. Nachdem ihr letzte Woche die Eigenschaften und Zubereitung von Florfliegenflügeln gelernt habt, seid ihr bereit den Trank zur Minderung der Porttür-Folgen zu lernen.«
Filio, Jan und Anna sahen sich begeistert an.
»Ich hätte nicht gedacht, dass das geht, aber Sie haben meine Stimmung gerade erheblich gebessert«, sagte Filio grinsend. »Vielen Dank!«
»Das freut mich«, erwiderte Herr Moos. »Dann bis Freitag!«
Mit diesen Worten beschleunigte er sein Schritttempo und verschwand in der Schülermenge. Kaum war er verschwunden, verdüsterte sich Filios Blick auch schon wieder.
»Nur meine Englischnote, die bessert auch das nicht auf. Und nachdem Herr Egger mit meiner Leistung heute wieder nicht zufrieden gewesen ist, schaffe ich es wohl kaum, von der 5 im Halbjahreszeugnis wegzukommen.«
»Ich glaube auch, dass es bei mir eine 4 wird«, meinte Jan und zog gequält einen Mundwinkel hoch, bei dem Gedanken daran, was seine Eltern dazu sagen würden. »Dann gleichen wir das eben durch gute Noten in anderen Fächern aus. Als nächstes haben wir MaPoWi. Da geben wir gleich alles.«
»Da geht es wieder um die Wahl, oder?«
Filios Stimme klang auch davon nicht begeistert. Jans Nicken quittierte er mit einem Seufzen.
»Mittlerweile bereue ich es, dass ich an diesem einen Tag nicht da gewesen bin. Da, wo ihr die Parteien durchgegangen seid. Herr Wolff fragt so oft Sachen, die auf diese Stunde anspielen.«
»In der Zeitung ist heute ein großer Artikel über die Wahlprogramme der Parteien«, erzählte Anna. »Die Wahl ist ja schließlich in genau einem Monat. Wir haben noch eine Viertelstunde Pause, da können wir doch nochmal nachschauen.«
»Anna, ich bewundere dich für deine ruhige und pragmatische Art«, meinte Filio. »Das hört sich nach einer großartigen Idee an.«
Als sie jedoch im Kiosk-Korridor, wo auch die Zeitungen aufgehangen waren, ankamen und Filio die Werbeplakate für die Angebote des Tages im Kiosk sahen, schwand seine Begeisterung fürs Zeitung lesen.
»Neu im Sortiment: Magische-Seifenblasen-Phiolen«, las er vor. »Deswegen waren wir hierhergekommen, oder?«
Anna schüttelte beherzt den Kopf und zog Filio zum Politik-Teil der Zeitung.
»Sicher geglaubte Wahl wird für Haas zur Zitterpartie«, las er vor und verzog das Gesicht. »Ach Mensch! Ich würde Haas einen Sieg so wünschen. So wie ich das verstanden habe, verdanken wir es einzig ihm und Tuplantis, dass wir geheim in Nurmengard leben.«
Jan nickte traurig und ließ seinen Blick ebenfalls über die Zeitung schweifen. In den aktuellen Umfragen lag die Neue Zukunft nur noch wenige Prozentpunkte hinter Lindjon. Die PDZ wirkte bereits vollkommen abgeschlagen. Doch dann weckte auf einmal eine kleine Schlagzeile am Rande der Zeitung Jans Aufmerksamkeit.
Neuartiges Corona-Virus breitet sich in China rasant aus.
Besorgt kniff Jan die Augen zusammen und las weiter:
Wenige Wochen nachdem in der Muggelwelt die ersten Fälle eines neuartigen Corona-Virus aufgetreten sind, droht die Lage in China außer Kontrolle zu geraten. Laut Muggelbehörden haben sich mittlerweile mehr als 200 Menschen damit infiziert. Seit gestern ist auch in der Zaubererwelt die Alarmbereitschaft gestiegen. Mehrere Dutzend Zauberer beklagten sich nach Besuchen in der Phönix-Pagode in Wuhan, dem größten Einkaufszentrum in ganz China, über Atembeschwerden und Grippesymptome. Bislang wurden 35 Hexen und Zauberer positiv auf das wohl hochinfektiöse Virus getestet. Zaubereiminister Wong hat daraufhin scharfe Einlasskontrollen für das...
Weiter konnte Jan nicht lesen, denn Filios nachdenkliche Stimme lenkte ihn vom Artikel ab.
»Also diese PDZ verstehe ich nicht. Die haben doch gar keine Pläne für die Zukunft. Die betonen nur, was sie vor 25 Jahren geschafft haben und sagen, dass sie Deutschland auch in Zukunft so dienen wollen. Wer wählt die denn?«
»Laut Herrn Wolff sind es vornehmlich ältere Menschen«, antwortete Anna. »Leute, die schon ihr ganzes Leben lang PDZ gewählt haben und einfach das weitermachen, was sie schon immer tun.«
»Verstehe ich nicht«, murrte Filio. »Und ich verstehe nicht, warum es ausgerechnet jetzt schon wieder einen Erkling-Angriff gegeben hat. Das ist doch total verdächtig. Jahrelang waren diese Viecher ausgestorben. Und jetzt tauchen sie andauernd auf, wenn man sie nicht gebrauchen kann. Letztes Schuljahr haben sie dafür gesorgt, dass die Auroren keine Zeit hatten, nach unserer Schule zu schauen. In diesem hier haben sie unsere Schule angegriffen. Und jetzt tauchen sie mitten im Wahlkampf aus und geben dieser Assmann noch mehr Gründe, Haas als überfordert darzustellen.«
»Wenn Lina das hören würde«, scherzte Jan. »Das klingt ja fast schon wie der Beginn einer Verschwörungstheorie.«
»Die kann doch in letzter Zeit sowieso an nichts anderes denken, als an ihren Max Weller«, entgegnete Filio. »Es soll ja auch gar keine Herr-Jorski-Theorie werden. Aber mir kommt das komisch vor. Und ich fände es gar nicht so abwegig, dass Pettigrew die Erklinge aussetzt, um Haas in schlechtes Licht zu stellen. Ihm sollte es ja gelegen kommen, wenn jemand an die Macht kommt, der nicht so viel Wert auf die Geheimhaltung unserer Schule legt.«
»Jetzt sind wir aber ziemlich vom Thema abgekommen«, stellte Anna fest und warf einen Blick auf die Uhr. »Und wenn wir noch pünktlich erscheinen wollen, dann müssen wir jetzt aufbrechen.«
Filio nickte.
»Ich habe trotzdem genug gelernt«, war er überzeugt. »Die Neue Zukunft ist mit Lindjon ungefähr gleichauf, weil Assmann Haas wegen immer mehr Problemen als verantwortungslos bezeichnet. Für die PDZ soll es offenbar immer noch zehn Prozent alte Leute geben, die sie wählen wollen. Und diese andere Partei hat jetzt beschlossen, dass sie kostenlose Kwik-Zauber-Kurse in ganz Deutschland anbieten wollen, wenn sie gewinnen.«
Umso größer war die Enttäuschung bei Filio, dass Herr Wolff gar nicht auf die aktuelle Entwicklung einging, sondern einfach im Thema weitermachte. Nachdem sie vor den Ferien bereits die verschiedenen Aufgaben des Ministeriums durchgegangen waren, fing Herr Wolff nun damit an, die unterschiedlichen Abteilungen durchzugehen. Es war ein recht theoretisches Thema und umso mehr freute sich Jan daher auf die Praxisstunde in Zaubertränke am Freitagmorgen.
Als sie in den Klassenraum traten, hatte Herr Moos bereits alles Wichtige vorbereitet. Die Zutaten lagen bereits vorne am Pult aus, die normalerweise verschlossenen Schranktüren waren geöffnet. Aufgeregt nahmen Jan und Levi an ihrem Doppeltisch Platz.
»Guten Morgen, liebe Schüler«, begrüßte Herr Moos den Kurs. Er hatte bereits seinen weißen Kittel angezogen, den auch er immer trug, wenn es im Unterricht ans Experimentieren ging. »Wie ihr unschwer erkennen könnt, erwartet euch heute eine Experimentierstunde. Und diesmal machen wir keinen Kaukohl-Versuch, den ihr in eurem Leben höchstwahrscheinlich nie wieder ausführen werdet. Heute brauen wir etwas äußerst Lebenspraktisches: Einen Trank gegen die Nachwirkungen von Porttürreisen. Weil das so ein sperriger Name ist, hat die Marketing-Abteilung bei X-Potion ihn AntiPort genannt. Um Zeit zu sparen, mache ich das jetzt einfach auch mal so. Dieser AntiPort ist eigentlich nichts anderes als der Trank gegen Übelkeit, den ihr zu Beginn des Schuljahres kennengelernt habt, aber er unterscheidet sich in zwei Punkten.«
Jan hörte Herrn Moos aufmerksam dabei zu, wie der erzählte, welche genetischen Komponenten Florfliegenflügel so geeignet die Nachwirkungen von Porttüren bekämpfen ließen und schrieb alles sorgfältig mit. Diesen Trank wollte er unbedingt in Perfektion beherrschen. Und er nahm sich vor, auch das Protokoll, das er normalerweise während des Experimentierens gerne vernachlässigte, sorgfältig auszuführen.
Als Herr Moos seine Erklärungen geendet hatte, teilten er und Levi sich ihre Arbeiten wie gewöhnlich auf. Jan holte die Zutaten und Levi die nötigen Hilfsmittel. Wie so üblich vergaßen sie dabei ihre Schutzbrillen und als sie an den entsprechenden Ständer kamen, waren nur noch Exemplare übrig, die so aussahen, als wären sie zu Zeiten der Schulgründung schon genutzt werden.
»Du siehst lustig aus«, stellte Levi fest, als Jan seine hellbraune Brille mit ihren ulkigen Seitenklappen aufgezogen hatte.
»Du solltest dich erstmal sehen! Bei der InWEx gab es Quidditchbrillen, die sahen so ähnlich aus. So eine solltest du dir mal zulegen. Dann würdest du die Leute nicht nur mit deinen Glanzparaden beeindrucken, sondern auch mit deinem umwerfenden Aussehen.«
Levi boxte Jan scherzhaft gegen die Schulter.
»Mein Bruder hat wirklich so eine«, erzählte er dann. »Bei schlechten Wetterbedingungen ist die für ihn echt praktisch. Aber ich brauche sowas nicht. Als Hüter habe ich jetzt nicht so große Probleme mit peitschendem Flugwind.«
Er warf einen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster.
»Wären wir in Winterfels, dann wären jetzt bald die Quidditchwochen«, sagte er mit matter Stimme. »Ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Wir wären wieder ein klasse Team gewesen.«
»Mit unserem Hausteam hast du ein deutlich besseres Team«, wandte Jan ein, während er den Kessel schon einmal in die richtige Position rückte. »Und Tobias Wiel muss sich bestimmt auch bald mal auf sein Magitur vorbereiten und dann bekommst du schon deinen Einsatz.«
»Für Tobias ist Quidditch definitiv wichtiger als das Magitur. Aber Fiete hat gesagt, dass er mich trotzdem im nächsten Spiel einsetzen will. Nachdem wir das Hinrundenspiel gegen Furho so souverän gewonnen hat, meint er, dass wir in der Rückrunde ein wenig experimentieren können.«
Jan sah Levi begeistert an.
»Das heißt du hast... nächste Woche dein erstes Spiel.«
Levi nickte. Doch ehe er etwas antworten konnte, tauchte Herr Moos plötzlich neben ihm auf und sah streng auf ihren Arbeitsplatz, wo sich, seitdem sie alle Materialien geholt hatten, nichts mehr getan hatte.
»Wenn ihr weiterhin schwätzt, anstelle zu brauen, hast du nächste Woche Nachsitzen und kein Qudiditchspiel«, knurrte er und über seine Rahmenbrille bildeten sich tiefe Falten. Dann nahm sein Gesicht allerdings wieder entspannte Züge an. »Kleiner Scherz. Dafür ist mir meine Zeit viel zu kostbar. Aber ich würde euch trotzdem bitten, endlich mit dem ersten Schritt anzufangen. Eigentlich seid ihr zwei Kandidaten für eine 1 in mündlich, aber die kann ich euch nun wirklich nicht geben, wenn ihr am Ende der Stunde noch immer einen leeren Kessel habt.«
»Tut uns leid, Herr Moos«, antwortete Levi schnell und nahm demonstrativ den Mörser in die Hand.
Der Lehrer zwinkerte ihnen zu und ging weiter zum nächsten Tisch. Dort wurde er ganz offensichtlich dringend gebraucht, denn Filio hatte es bereits geschafft, dicke Rauchwolken heraufzubeschwören.
»Ich dachte, angeschmort würde das Pulver seine Wirkung besser entfalten«, versuchte er sich zu verteidigen.
»Filio«, seufzte Herr Moos und zog bereits seinen Zauberstab aus der Tasche. »Wenn du irgendwann mal eine entsprechende Ausbildung abgeschlossen hast, kannst du gerne überlegen, wie du Tränke verbessern kannst. Hier in der Schule musst du erst einmal nur lernen, welche Wirkungen die verschiedenen Zutaten haben, damit du sie später sinnvoll nutzen kannst.«
Jan und Levi unterdrückten ein Schmunzeln und wandten sich dann endlich ihrem eigenen Trank zu. Der erste Schritt bestand daran, Florfliegenflügel und Schalen von Diricawleiern zu zermahlen. Die gaben einen so widerlichen Geruch von sich, dass Jan sich fragte, ob dieser Trank wirklich half oder die Übelkeit nicht eher verstärkte. Während sie das Wasser im Kessel zum Kochen brachten und vorsichtig die zerriebenen Flügel hinzugaben, stieg allerdings ein noch unangenehmerer Geruch in Jans Nase, der definitiv nicht von ihrem Kessel kam.
Als er sich nach hinten umdrehte, sah er Leonard Zahn, der wild rührend versuchte, das überkochende Gebräu aus seinem Kessel zu besänftigen. Während er mit der einen Hand den Rührlöffel durch den Kessel zog, hielt er sich mit der anderen die Nase zu. Eilig lief Herr Moos auf den Kessel zu, warf einen Blick hinein und sagte mit einer ausschweifenden Bewegung des Zauberstabs: »Infrigido!«
Da augenscheinlich nichts geschah, versuchte er es noch einmal, diesmal mit einer noch kräftigeren Bewegung. Bei diesem Versuch passierte sehr wohl etwas. Herr Moos schlug mit seinem Zauberstab versehentlich gegen die Tischkante. Das hielt sein offenbar wenig flexibler Zauberstab nicht aus. Er zerbrach in der Mitte und gab als letztes Lebenszeichen einen Schauer Funken von sich, die zischend zu Boden rieselten.
Augenblicklich griff Herr Moos in eine Tasche seines Kittels, zog etwas für Jan nicht Erkennbares heraus und ließ es in Leonards Kessel fallen. Sofort hörte der Trank darin auf zu brodeln. Die zuvor noch schäumende und dampfende Flüssigkeit fiel wie kaltes Wasser in sich zusammen.
»Das war wild!«, stellte Leonard fest.
Jan hätte nur zu gerne nun den Gesichtsausdruck des Lehrers gesehen. Was erlaubte sich Leonard manchmal nur?
»Gefährlich«, korrigierte Herr Moos und zog eine halbe Florfliege aus dem Trank. »Verstehst du so etwas unter ›zermahlen‹?«
Leonard legte den Kopf schief.
»Naja, wenigstens ein bisschen«, gab er trotzig zur Antwort.
»Hättest du letzte Woche auch nur ein bisschen zugehört, wüsstest du, dass Florfliegen nur im vollkommen zermahlenen Zustand in heißes Wasser gegeben werden dürfen«, erwiderte Herr Moos schnippisch und sammelte die Bruchstücke seines Zauberstabs auf. »Um die gefährliche Reaktion zu stoppen, die du in Gange gesetzt hast, wollte ich den Kessel abkühlen. Aber der Infrigido war noch nie mein Fall.«
Er seufzte. »Weißt du, wenn du mir auch einfach mal zuhören würdest, dann wäre mein Zauberstab jetzt noch ganz. Wenn du das nächste Mal nach deiner Kastanie siehst, ist sie auf jeden Fall zehn Zentimeter kürzer.«
»Aber Filio hat auch...«
»Soll dein Baum noch kleiner werden?«
Leonard schnalzte verärgert.
»Ist ja gut«, brummte er. »Ich mach's ab jetzt besser.«
»Mit dem Trank brauchst du jetzt gar nichts mehr machen«, sagte Herr Moos und zog noch einmal etwas aus seiner Kitteltasche. Jetzt konnte Jan erkennen, dass es eine kleine, weiße Tablette war. »Hättest du am Anfang des Schuljahres bei meiner Einführungsstunde besser aufgepasst, wüsstest du, dass das eine X-Potion AntiReaktions-Tablette ist. Sie beendet jeden noch so schiefgehenden Brauvorgang, macht den Trank allerdings ungenießbar, beziehungsweise giftig. Für den Rest der Stunde kannst du die Schweinerei hier beseitigen. Und wenn du damit fertig bist, kannst du Mila und Enrico zuschauen, wie man einen vernünftigen Trank braut.«
Bei diesen Worten wandten sich auch Jan und Levi von dem Geschehen ab, denn ihr Trank hinter ihnen gab bereits bedrohliche Geräusche von sich. Mit einem etwas kräftigeren Rühren bekamen sie aber auch das schnell wieder in den Griff und konnten bald damit fortfahren die Malvenblätter unterzurühren.
Schnell stellten sie fest, dass der Teil mit den Florfliegen der Schwierigste gewesen war. Abgesehen von einem überkochenden Kessel bei Lina und Marina verlief der Rest der Stunde ohne unerwünschte Zwischenfälle und nachdem Levi im letzten Schritt noch den Nektar einer Flitterblume in ihren Trank kippte, begann er tatsächlich auch, einen süßlichen Geruch von sich zu geben.
Herr Moos beugte sich mit prüfendem Blick über ihren Kessel und nickte anerkennend.
»Ich sehe, bei euch muss ich mir doch keine Sorgen, um die 1 in mündlich machen«, sagte er, ehe er weiter zu Filio und Anna ging.
Jan und Levi sahen sich grinsend an. Umso erstaunter waren sie allerdings, als Herr Moos nach der Stunde mit einem ernsten Gesichtsausdruck auf sie zukam.
»Habt ihr zwei noch kurz Zeit, mir zu helfen?«, fragte er.
Jan und Levi tauschten kurz bestätigende Blicke aus und sagten dann zu.
Der Blick von Herrn Moos entspannte sich deutlich.
»Vielen Dank! Es ist auch nichts Schlimmes. Ich wollte einfach nur den fertigen Trank in mein Büro bringen. Aber da mein Zauberstab gebrochen ist, wird das gar nicht so einfach. Entweder müsste ich meinen anderen Zauberstab aus meinem Zimmer holen oder die Gefäße per Hand tragen und dreimal laufen. Ich dachte, es geht am einfachsten, wenn ich zwei zuverlässige Schüler um Hilfe frage.«
»Wir helfen Ihnen, kein Problem«, antwortete Levi und zückte seinen Zauberstab. »Unsere Stäbe sind ja noch heil.«
Herr Moos lächelte dankbar.
»Großartig! Dann kommt einmal mit.«
Er führte sie zu seinem Pult und füllte die geglückten Inhalte der Kessel in drei schuhkartongroße Glaskanister. Er schob jedem von ihnen einen zu.
»Wingardium Leviosa!«, sagte Levi sofort und ließ den ihm zugewiesenen in die Luft schweben.
Jan tat es seinem besten Freund gleich und beobachtete glücklich, mit wie geringer Anstregung er den Schwebezauber mittlerweile beherrschte.
Herr Moos nahm den letzten Kanister in die Hände und bedeutete Jan und Levi ihm zu folgen.
»Das mit Ihrem Zauberstab tut mir leid«, meinte Levi, während sie den Klassenraum für Zaubertränke verließen. »Ist Ihr zweiter Zauberstab denn aus den gleichen Bestandteilen?«
Herr Moos schüttelte den Kopf.
»Seit ich als Kind nach Winterfels gegangen bin, habe ich einen Stab aus Ahorn und Kelpiehaar. Es soll eine spezielle und ungewöhnliche Kombination sein, aber von den Dutzenden, die ich ausprobiert habe, hat er am besten gepasst. Allerdings neige ich von Berufs wegen zum Experimentieren. Deswegen bin ich in den Winterferien mit meiner Freundin ins Nord-Kaufhaus gefahren und mir da einen neuen Stab gekauft. Etwas ganz Gewöhnliches. Erle und Einhornhaar. Ich war aber vom ersten Tag an nicht ganz zufrieden damit und freue mich gewissermaßen, jetzt ausschließlich wieder meinen alten Stab nutzen zu können.«
Er öffnete mit dem Ellenbogen eine Tür zu seiner rechten und ließ die beiden Haistras eintreten. Jan staunte nicht schlecht. Der Raum sah ganz anders aus, als er sich ein Büro vorgestellt hatte. Die Bezeichnung ›Labor‹ wäre vielleicht treffender gewesen. Der Raum war vollgestellt mir stählernen Schwerlastregalen, die wiederum mit unzähligen X-Potion-Phiolen gefüllt waren.
Inzwischen all dieser Regale standen drei große, selbstumrührende Kessel, in denen merkwürdige Flüssigkeiten waberten. Einzig ein kleiner Schreibtisch in einer Ecke des Raums passte zur Bezeichnung ›Büro‹. Auf genau diesem legte Herr Moos schnaufend seinen Kanister ab.
»Willkommen in meinem Arbeitszimmer«, sagte er schwer atmend, während Jan und Levi ihre Kanister neben seinem platzierten.
»Es ist beeindruckend!«, sagte Jan fasziniert. »Wofür ist das hier alles.«
»Die ganzen Phiolen sind Lieferungen von X-Potion«, antwortete Herr Moos. »Ich bekomme noch Mitarbeiterrabatt und so können die beiden netten Schüler die Phiolen billig verkaufen. Und das auf dem Boden ist ein Forschungsauftrag, den ich für X-Potion erledige.«
»Das sieht so aus, als hätten Sie ziemlich viel zu tun«, stellte Levi fest.
Herr Moos lachte.
»Das kann man so sagen. Aber das sind ja alles Sachen, die ich gerne mache.«
Er zog seinen Kittel aus und hängte das verrußte Kleidungsstück über seinen Schreibtischstuhl. Darunter kam sein gestreifter Pullover zum Vorschein, sowie seine silberne Kette. Jan war sie zum ersten Mal aufgefallen, als er Herr Moos am Montag nach den Winterferien wieder gesehen hatte. Seitdem rätselte er, was der kleine Anhänger darstellen könnte, aber er konnte es einfach nicht genau erkennen. Jetzt bot sich eine gute Gelegenheit zum Fragen.
»Was ist das eigentlich an Ihrer Kette?«
Herr Moos zog die Kette ab und hielt ihn Jan hin.
»Erkennst du es?«, fragte er freundlich.
Zum ersten Mal konnte Jan die Figur von Namen betrachten. Es war ein Tierwesen mit einer Statur die einem Dachs ähnelte, aber einen Kopf gleich dem eines Schnabeltiers besaß. Jan kannte es nur zu gut von Herrn Lurcus.
»Ein Niffler!«
»Ganz genau«, bestätigte Herr Moos. »Es ist das Lieblingstier meiner Freundin. Es hört sich vielleicht kitschig an, aber ich habe es mir im Nord-Kaufhauf als Erinnerung an sie gekauft. Auch wenn uns eigentlich viele hundert Kilometer trennen, ist sie so doch ganz nah bei mir.«
»Ich finde das nicht kitschig«, erwiderte Levi und beugte sich interessiert über Jans Schulter, um ebenfalls einen Blick auf den silbernen Niffler erhaschen zu können. »Ich habe auch immer noch den Calinus, den mein Bruder mir geschenkt hat, als er nach Winterfels gegangen ist, in meinem Nachttischschrank.«
»Ich glaube auch, dass es wichtig ist, gewisse Erinnerungsstücke zu haben«, überlegte Jan. »Ich habe letztes Jahr nach einem gefährlichen Kampf eine Phiole gefunden. Ich habe sie mitgenommen, damit sie mich daran erinnert, aus meinen Fehlern des letzten Jahres zu lernen.«
»Sehr weise«, antwortete Herr Moos. Dann wurde sein Blick allerdings schlagartig nachdenklicher. »Ein schwerer Kampf... Warst du etwa einer der Schüler, die in den Wald aufgebrochen sind, um gegen Pettigrew, Ivyng und ihre Handlanger zu kämpfen?«
»Levi und ich haben alles miterlebt«, bestätigte Jan. »Wir haben unfassbares Glück gehabt, dass die Lehrer rechtzeitig aufgetaucht sind. Ansonsten wären wir jetzt nicht hier.«
Herr Moos hatte einen mitfühlenden Gesichtsausdruck aufgesetzt.
»Herr Tuplantis hat mir bei meinem Einstellungsgespräch erzählt, was letztes Jahr passiert ist. Ich wusste nur nicht, dass ihr es wart, die... in so hoher Lebensgefahr geschwebt haben. Ihr wolltet jemanden aus dem Wald retten, oder wie war das?«
»Mein Bruder ist verletzt dort gewesen«, erinnerte sich Levi und Jan hörte, dass bei der Erinnerung ein leichtes Zittern in seiner Stimme lag. »Ich musste ihn einfach retten.«
»Der Bruder, der dir den Calinus geschenkt hat?«, fragte Herr Moos.
»Genau der«, antwortete Levi mit brüchiger Stimme.
Herr Moos lächelte schwach und Jan glaubte sogar, in seinen Augen ein Glitzern zu sehen.
»Jaja«, murmelte der Lehrer und zog sich die Kette mit dem Niffler wieder um den Hals. »Was würden wir nicht alles für unsere Liebsten tun...«
Sein Blick fiel auf die historisch anmutende Wanduhr über der Tür und er schüttelte sich, als würde er aus einer Trance erwachen.
»Ach du rotes Erinnermich, ist die Zeit vergangen!«, stellte er fest. »Ihr müsst zu eurem nächsten Unterricht. Ich danke euch noch einmal für eure Hilfe beim Tragen. Das, was Leonards Baum heute verloren hat, bekommen eure Buchen dazu.«
Mit einem freundlichen Lächeln öffnete er ihnen die Tür.
»Danke!«, sagten Levi und Jan beinahe gleichzeitig. Dann machten sie sich auf den Weg zum Schlosshof, wo der Unterricht in magische Tierwesen stattfinden würde. Die erste Hälfte des Korridors bis zu den Treppen rannten sie noch, dann blieb Jan jedoch schnaufend stehen.
»Wenn wir sagen, dass Herr Moos noch Hilfe brauchte, versteht Herr Lurcus bestimmt, wenn wir ein bisschen zu spät sind«, sagte er zu Levi und überzeugte ihn damit, ebenfalls langsamer zu laufen.
»Du bist schuld, wenn wir irgendetwas Spannendes verpassen«, entgegnete der.
»Ich fand den Trank heute Morgen schon spannend genug«, meinte Jan. »Wegen mir kann Herr Lurcus sich die nächste spannende Stunde auf nächste Woche aufheben.«
Levi sah nicht ganz überzeugt aus.
»Wegen mir kann es den ganzen Tag spannend bleiben. Aber du hast schon recht, das Brauen hat echt Spaß gemacht. Ich fand Herrn Jorski ja schon nicht schlecht, aber Herr Moos ist um einiges besser. Ich hoffe, dass wir den für unsere gesamte Schulzeit behalten.«
»Das wäre klasse! Dann bräuchten wir nur noch Herrn König wieder zurück und die Option Englisch abzuwählen, schon wäre unser Stundenplan perfekt.«
»Ich möchte dir ja nicht die Hoffnung nehmen, aber das halte selbst ich für unwahrscheinlich«, meinte Levi. Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, bis Levi auf einmal stehenblieb und Jan nachdenklich ansah.
»Ist etwas?«, fragte der verwundert.
»Eben im Gespräch mit Herrn Moos«, erinnerte sich Levi, »da hast du von dieser Phiole erzählst. Hast du die wirklich immer noch?«
Zur Bestätigung griff Jan in seine Jackentasche und holte seine Phiole heraus.
»Natürlich habe ich die noch bei mir. Du weißt doch, ich brauche eine Erinnerung an letztes...«
Jan verstummte und ließ die Phiole schnell wieder in seiner Jackentasche verschwinden. Er war so in sein Gespräch mit Levi vertieft gewesen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie Herr Grindelwald im Korridor aufgetaucht war und in ihre Richtung lief.
»Guten Morgen, ihr beiden«, grüßte der Schlossbesitzer, als er an ihnen vorbeikam. »Ist das Schloss meiner Familie denn wirklich so interessant, dass ihr mittlerweile den Unterricht dafür ausfallen lasst?«
»Manchmal würden wir schon lieber in der Bibliothek sitzen, als im Unterricht«, antwortete Levi lachend. »Aber heute ist das Schloss tatsächlich unschuldig. Wir mussten noch einem Lehrer helfen.«
Auch Jan wagte nun einen vorsichtigen Blick zu dem blondhaarigen Mann. Doch dessen Blick war nicht auf sein Gesicht, sondern auf die Jackentasche gerichtet, in der sich die Phiole befand. Jans Herz begann, schneller zu klopfen.
»Deswegen sollten wir uns jetzt aber wirklich beeilen«, sagte er eilig und ging weiter, ohne Herrn Grindelwald noch eines Blickes zu würdigen. »Einen schönen Tag noch!«
Er hörte anhand dessen Schritten, wie Levi ihm folgte.
»Was war das denn?«, flüsterte sein bester Freund, sobald sie sich von Herrn Grindelwald entfernt hatten.
Jan schaute noch einmal zurück, um sich zu vergewissern, dass der Schlossbesitzer ihnen nicht folgte.
»Herr Grindelwald verhält sich ja wirklich nett und gastfreundlich. Aber manchmal habe ich so ein ungutes Gefühl in seiner Anwesenheit.«
»War nicht genau dafür diese gruselige Phiole da?«, fragte Levi mit hochgezogenen Brauen. »Damit du auch Leuten wie ihm nichts unterstellst?«
Jan zog eine zerknirschte Grimasse. Levi hatte ja recht. Aber bei Herrn Grindelwald war es wirklich nicht leicht.
»Ich unterstelle ihm ja gar nichts«, versuchte er sich zu verteidigen. »Aber meine Phiole sehen, muss er auch nicht.«
Er erinnerte sich noch gut daran, dass Levi seiner Phiole schwarzmagische Eigenschaften unterstellt hatte. Auch wenn Jan das für Unfug hielt, musste ein Verwandter des berüchtigten Schwarzmagiers Gellert Grindelwald nichts über die Phiole wissen. Aber anhand des Blicks, den der Mann auf Jans Jackentasche geworfen hatte, konnte der junge Haistra bereits erahnen, dass dieser Plan nicht geglückt war.
Sie bogen schweigend in das Treppenhaus und wären fast über Leif und Marina gestolpert, die auf der obersten Treppenstufe saßen. Marinas Arm lag liebevoll auf Leifs Schulter und zwischen den Köpfen der beiden hätte vermutlich nicht mal ein Schreibheft hindurchgepasst. Sie waren so sehr in ein Gespräch vertieft, dass sie die Schritte hinter sich gar nicht wahrnahmen. Jan spürte, wie sich seine Gesichtsmuskeln verspannten und beschleunigte seine Schritte. Er ging an ihnen vorbei, als hätte er sie nicht erkannt. Levi folgte ihm, wenn auch nicht ganz so zügig.
»Vielleicht hätten wir sie mitnehmen sollen«, wisperte er Jan zu, als sie im Erdgeschoss angekommen waren und den Kiosk-Korridor betraten. »Sie müssen doch auch zum Unterricht kommen.«
»Sie besitzen beide einen Stundenplan«, erwiderte Jan kurz angebunden. »Wenn sie lieber kuschelnd auf der Treppe sitzen wollen, dann ist das ihre Sache.«
Levi sagte daraufhin nichts. Doch als sie in den Raum traten, wo Joachim Grindelwald mit seinem Wegweiser in den Händen aufgestellt war, blieb Levi stehen und sah Jan tief in die Augen.
»Du wärst jetzt gerne an Leifs Stelle, oder?«
Jan errötete leicht und wandte den Blick ab. Für einen Moment tat er so, als würde er auf dem Wegweiser das Schild Richtung Ausgang suchen. Dann riss er sich zusammen, wandte den Blick Levi wieder zu und nickte kaum merklich.
Er erwartete schon einen Schwung aufmunternder Worte, wie es für Levi so üblich war, doch der blieb diesmal aus. Stattdessen formte er seinen Mund zu einem mitfühlenden Lächeln und klopfte Jan sanft auf die Schulter. Und das war vermutlich das Beste, was er in dieser Situation tun konnte.
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