Kapitel 16 - In der Bibliothek
Erneuter Angriff auf Schule Winterfels
Nach Evakuierung ist nicht bekannt, wo die Schüler nun sind – Kritik an Haas und Tupplantis wächst
Am vergangenen Donnerstag wurde die nationale Zaubererschule Winterfels Opfer eines beispiellosen Verbrechens. Wie Schulleiter Georg Tuplantis mitteilte, wurde gegen 12:15 ein Drache erfasst, der sich zielstrebig auf das Schulgebäude zubewegt hat. Für den Magizioologen Jamie Lurcus war dieses Tier ein klarer Fall eines Imperius-Fluchs.
»Dank Beedle dem Barden stellen wir uns Drachen immer als angriffslustige Bestien vor, die ihren Spaß daran haben, Muggeldörfer niederzubrennen«, so Lurcus. »Doch bereits Leutwin Uwalon wusste, dass Drachen von Natur aus zurückhaltend sind und Konfrontationen mit Menschen tunlichst vermeiden. Da wir in keinen Schlafzimmer ein gestohlenes goldenes Ei finden konnten, können wir ein natürliches Verhalten des Tieres mittlerweile ausschließen.«
Doch für die Schüler von Winterfels kam es noch schlimmer. Nachdem sie vor dem Drachen auf das Außengelände der Burg geflohen waren, wo sie sich eigentlich in Sicherheit gehofft hatten, wurden sie von einer Horde Acromantulas und später sogar von Quintapeds überrascht.
»Es war ein schrecklicher Moment«, fasst Tuplantis die Situation zusammen. »Man verteidigt eine Menge Schüler gegen ein unberechenbares Meer aus Tierwesen und fragt sich die ganze Zeit: Was kommt als nächstes?«
Doch die Quintapeds waren die letzte Angriffslinie. Und gegen die haben die Lehrer eine Verteidigung geleistet wie aus dem Bilderbuch. Als zwei Stunden später die ersten per Zwillingsbuch alarmierten Auroren eintrafen, waren alle Schüler bereits evakuiert worden.
»Der Drache lag gefesselt im ziemlich mitgenommen aussehenden Burghof und die Acromantulas waren in einer magisch ausgedehnten Hütte verschwunden. Selbst ein paar Quintapeds waren schon eingefangen«, erzählt Auror Christoph Marell und fügt mit einem Schmunzeln hinzu: »Wir wussten gar nicht wirklich, ob wir überhaupt gebraucht werden.«
Gegen Nachmittag trafen dann auch Vertreter der Politik ein. Zaubereiminister Günther Haas (Lindjon) konnte aufgrund seiner Südamerika-Reise nicht anwesend sein. Er drückte allerdings per Eil-Brief seine Bestürzung aus und versicherte, dass nun das mit Schulleiter Tuplantis entwickelte Sicherheitskonzept in Kraft treten würde.
Zu dem Sicherheitskonzept machte er allerdings keine näheren Angaben und auch Tuplantis wollte nichts dazu sagen.
»Alles, was die Welt über unsere Schüler weiß, kann gefährlich für sie werden«, begründet der Schulleiter dies. »Das Einzige, was ihr wissen müsst, ist, dass sie jetzt endlich in Sicherheit sind.«
In der Politik stößt dies vor allem auf Unverständnis. Der stellvertretende Zaubereiminister Mark Vogel (PDZ) erklärte in einem Interview mit der Zweiten Züricher Zauberer-Zeitung, der Plan wäre von Tuplantis und Haas alleine umgesetzt worden, er selbst wisse nicht einmal, wo sich die Schüler zurzeit befinden. Oppositionsführerin Valeria Assmann (Neue Zukunft), die am Donnerstagnachmittag ebenfalls in Winterfels war, um sich ein Bild von der Lage zu machen, zeigte sich bestürzt über die Zustände in Schule und Politik.
»Mit fehlen die Worte«, war das Erste, was sie sagte. »Nachdem Tuplantis und Haas sich sowohl im letzten, als auch in diesem Schuljahr als unfähig erwiesen haben unsere Kinder zu beschützen, wollen sie die Sache nun wieder selbst in die Hand nehmen – ganz alleine. Zwei Mal haben sie den Schülern Sicherheit versprochen – und zwei Mal sind sie kläglich gescheitert. Jetzt erwarten sie wieder unser Vertrauen. Ich sage Ihnen, wie es ist: Wer ihnen dieses Vertrauen immer noch entgegenbringt, der ist auch so naiv und füttert das Kelpie, das ihm schon beide Arme abgebissen hat, nun mit den Füßen, weil er denkt, es sei doch ganz friedlich. Eine zweite Chance gibt man aus Vertrauen. Eine dritte aus Dummheit. Und Haas täte gut daran, zu begreifen, dass unser Volk nicht dumm ist. Er sollte seinen Hut nehmen und das Amt jemand Kompetenterem überlassen. Andernfalls wird die Stimme der Wähler das im nächsten Jahr übernehmen.«
Doch die Meinungen sind zwiegespalten. Während Assmanns Meinung zunehmend Unterstützung findet, zollt auch ein großer Teil der Bevölkerung Tuplantis und Haas Respekt dafür, eine gesamte Schule innerhalb einer Stunde zu evakuieren und dafür zu sorgen, dass nicht einmal ein Schüler verletzt wurde.
Es ist also davon auszugehen, dass die Kontroversen rund um die Schule Winterfels noch eine Weile andauern werden und auch zwischen den Regierungsparteien noch einiges an Klärungsbedarf besteht.
Dieser Zeitungsartikel begrüßte die Schüler am Samstagmorgen, zwei Tage nach der Evakuierung von Winterfels. Er hing an der Wand des Korridors, der zum Treppenhaus führte und eine gute Aussicht auf den Innenhof gewährte. Hier hatten Nora und Leander einen Raum für ihr Kiosk bekommen, in dem sie seit neustem auch X-Potion-Tränke verkauften. Die vielen Phiolen mit den verschiedensten Flüssigkeiten fanden unfassbar guten Absatz und sorgten für lange Schlangen vor dem kleinen Lädchen. Obwohl Nora und Leander in ihrer freien Zeit daher eigentlich alle Hände mit dem Verkauf dieser Phiolen zu tun haben müssten, fanden sie noch Zeit, den Korridor um ihr Kiosk herum, mit der täglichen Eule zu tapezieren. Somit vermittelte der Gang eine Atmosphäre wie in Winterfels und ein gewisses Gefühl von Normalität.
Das galt zwar besonders für den Korridor von Nora und Leander, aber auch allgemein fanden sich die Schüler immer mehr mit der neuen Situation zurecht. Nachdem die Lehrer gemeinsam mit Spezialkräften des Ministeriums noch am späten Donnerstag alle Quintapeds eingefangen hatten, waren die Schüler am Freitag mit der Porttür zurück nach Winterfels gekehrt und hatten dort alle wichtigen Habseligkeiten in kleine Koffer gepackt, in denen dank eines beeindruckenden Zaubers nahezu unendlich viel verstaut werden konnte. Nur Filio hatte für seinen ganzen Krimskrams einen zweiten Koffer benötigt.
Nachdem sie dann wieder in Nurmengard angekommen waren, hatten sie ihre Zimmer bezogen. Jan, Levi, Filio und Hannes hatten ein kleines Zimmer mit zwei Stockbetten im untersten Geschoss bekommen, das an der Talseite gelegen war und somit eine herausragende Aussicht über das Tal gewährte. Während Levi und Hannes sich schon ans Ausräumen gemacht hatten, war Jan nach dem Benutzen der Porttür trotz Herrn Moos' Zaubertrank so übel zumute gewesen, dass er sich erst einmal in seinem Bett erholt hatte. Auch Filio hatte sich nicht danach gefühlt, sich direkt ans Ausräumen der Koffer zu machen.
Herr Moos hatte gesagt, dass der Trank an Wirkung verlor, je öfter man ihn einnahm. Und seitdem hoffte Jan, dass er in naher Zukunft nicht mehr die Porttür benutzen musste.
Diese Hoffnung bestätigte Herr Tuplantis am nächsten Morgen, als er den Schülern beim Frühstück erzählte, wie ihr Schuljahr weitergehen sollte. Sie würden so lange in Nurmengard bleiben, bis Pettigrew gefasst oder das Schuljahr zu Ende war. In den Winterferien würden sie trotzdem nach Hause reisen können. Briefe sollten von nun an nicht mehr den Eulen gegeben werden, sondern in einen Briefkasten geworfen werden, der einmal die Woche geleert wurde und die Post über ein kompliziertes System an die Adressaten verteilte.
Und so standen die ersten Tage der Herbstferien völlig im Zeichen der vielen Neuerungen. Jan und seine Freunde verbrachten viel Zeit damit, das Schloss zu erkunden. Leider waren die meisten Räume verschlossen, aber allein die vielen Gänge waren faszinierend genug, um die ersten Tage damit zu verbringen, sie zu erkunden. Nachdem sie am Wochenende bereits den gesamten Palas nach interessanten Orten durchforstet hatten, gingen sie am Montag in den Bergfried. Außer Lina, die laut Marina noch tief und fest schlief, waren alle Haistras aus dem zweiten Jahrgang dabei. Aufgeregt liefen sie die Wendeltreppe ein Stockwerk nach oben und gelangten in einen kleinen Flur, der zu mehreren Türen führte. Filio ging ohne zu zögern auf eine zu und versuchte, sie zu öffnen. Sie war verschlossen. Auch ein kräftiges Schütteln und zwei ›Alohomora‹ konnten nichts daran ändern.
»Was in den ganzen Räumen wohl sein wird?«, überlegte Levi.
»Probieren wir es weiter aus«, entgegnete Filio und wandte sich der nächsten Tür zu. Doch noch ehe er die Klinke berührte, öffnete sie sich bereits. Kurz darauf kam Herr Moos aus ihr heraus. Er trat in den Flur und schloss die Tür hinter sich wieder, ohne dass man einen Blick in das Zimmer hinter ihm erhaschen konnte. Filio wich verlegen einen Schritt zurück.
»Herr Moos!«, sagte er überrascht. »Ich wusste nicht, ich wollte nicht...«
Doch der Lehrer lachte bloß.
»Alles gut, Filio. Ist doch nichts passiert. So wie ihr ausseht gehe ich davon aus, ihr seid auf Entdeckungstour und wollt den Turm hier erkunden.«
Filio nickte verlegen.
»Nun, gerade habt ihr mein Schlafzimmer gefunden«, sagte Herr Moos. Und die Tür, an der ihr eben so gerüttelt habt, ist die von Frau Castor.«
»Die von Frau Castor?«, wiederholte Marina mit großen Augen und sah besorgt zu der Tür.
»Keine Sorge, sie ist die ganzen Ferien über nicht da«, beruhigte Herr Moos sie schmunzelnd. »Das gilt allerdings nur für sie. Die anderen Lehrer sind da und mit Sicherheit nicht begeistert, wenn eine Horde Schüler versucht, ihre Tür auszureißen.«
»Das verstehen wir«, antwortete Levi schnell. »Machen wir nicht mehr.«
Sie wollten sich gerade schon auf den Weg in das nächste Stockwerk machen, als Jan unwillentlich etwas herausplatzte.
»Wo ist Frau Castor denn?«
Herr Moos sah ihn verwundert an.
»Das kann ich dir auch nicht sagen, Jan. Ich habe nicht sonderlich viel mit ihr zu tun. Warum fragst du?«
»Nur so«, antwortete Jan schnell. »Es hätte ja sein können, dass sie sich bei dem Angriff der Drachen verletzt hätte.«
Herr Moos schüttelte den Kopf.
»Nein, keine Sorge. Keiner der Lehrer hat sich verletzt. Die Evakuierung ist ein voller Erfolg gewesen.«
»Das ist wirklich beeindruckend«, sagte Jan anerkennend. »Jetzt wollen wir Sie auch gar nicht weiter stören. Einen schönen Tag noch.«
Herr Moos lächelte ihnen freundlich zu.
»Danke. Den wünsche ich euch auch. Und lasst alle Türen ganz.«
Er zwinkerte einmal zum Abschied und verschwand dann wieder in seinem Schlafzimmer.
Sobald die sechs Freunde sich ein wenig von der Tür fortbewegt hatten, sah Levi Jan erwartungsvoll an.
»Was ist?«, fragte Jan.
»Ich dachte, du wolltest dieses Jahr niemandem etwas unterstellen.«
»Tue ich auch nicht«, antwortete Jan mit Unschuldsmiene. Aber natürlich wusste er genau, was Levi meinte. Seine Frage nach Frau Castor war ihm schneller herausgerutscht, als sie zurückhalten konnte
»Ist ja gut«, meinte er, als er Levis hochgezogene Augenbrauen sah. »Ich weiß schon, dass ich mich gerade ähnlich benommen habe, wie letztes Jahr. Frau Castor macht es mir aber auch echt nicht leicht. Trotzdem: Ich höre jetzt auf damit. Keine Unterstellungen mehr. Auch nicht, wenn Frau Castor nach den Ferien immer noch nicht da ist.«
»Hört sich toll an«, meinte Filio. »Können wir jetzt weiter? Da oben gibt es noch mindestens zehn weitere Stockwerke zu erkunden.«
Jan beobachtete grinsend, wie Filio bereits aufgeregt von einem Bein auf das andere hüpfte. Noch bevor er nickte, hatte sich der Junge mit der Igelfrisur bereits umgedreht und lief in das nächste Geschoss.
Doch auch hier fanden sie zu ihrem großen Bedauern ausschließlich verschlossene Türen. Nach ihrer Erfahrung im ersten Stock wollten sie lieber nicht ausprobieren, sie zu öffnen. Keiner von ihnen wollte sich auch nur vorstellen, wie es war, Herrn Egger hier zu begegnen.
»Wir hätten eben fragen sollen, ob es in diesem Turm überhaupt noch etwas anderes gibt, als Lehrerzimmer«, beschwerte sich Filio, nachdem sie im vierten Stock auf ein ähnliches Bild gestoßen waren. »Da war es gestern deutlich interessanter.«
»Eigentlich kann es hier nicht nur Lehrerzimmer geben«, überlegte Anna nachdenklich. »Zählt doch mal, wie wenig Lehrer wir haben. Und wie viele Zimmer es hier gibt.«
Wie so oft sollte sie mit ihrem logischen Kombinieren recht behalten. Im siebten Stock bot sich ihnen ein ganz anderes Bild.
»Anna, das musst du sehen!«, rief Filio begeistert, als er als erstes die Etage betreten hatte. Statt eines kleinen Flurs, bot dieses Stockwerk einen großen Raum, der an der Talseite ein kunstvoll gestaltetes Panoramafenster hatte, das einen Ausblick über die wunderschöne Berglandschaf bot. Im Raum davor waren unzählige, historische Regale aufgestellt worden, in denen es von – nicht weniger historischen – Büchern nur so wimmelte. Annas Augen weiteten sich begeistert.
Statt etwas zu sagen, ging sie direkt auf eines der Regale zu. Interessiert betrachtete sie die Rücken der dort aufgestellten Bücher.
»Es sieht so aus, als wären das größtenteils Sachbücher«, stellte sie dann mit leichter Enttäuschung in ihrer Stimme fest. »Aber allein wegen des Ambientes werde ich heute nicht das letzte Mal hier gewesen sein.«
Jan nickte zustimmend. Ihn, Hannes und Marina trieb es wie magnetisch zu dem großen Fenster, vor das sie sich setzten und die herrliche Aussicht genossen.
»Das ist echt schön hier«, sagte Marina begeistert. »Wenn ich irgendwann mal keine Lust habe zu lernen, dann komme ich hier her und versuche es an dem Schreibtisch da.«
Sie deutete auf einen altmodischen Tisch, der zwischen den Regalen stand und Platz für unzählige Bücher, aber auch jede Menge außergewöhnliche Artefakte bot.
»Lernen, stimmt, das gibt es ja auch noch«, murrte Hannes. »Direkt am ersten Dienstag nach den Ferien haben wir Praxisprüfung bei Frau Schmidt.«
»Dafür üben wir aber besser nicht hier oben«, merkte Levi an, der mit interessiertem Blick die Regale durchstreifte. »Es wäre ein Kulturverbrechen zwischen diesen historischen Büchern einen Depulso auszuführen.«
Während von Jan und den anderen vor der Fensterscheibe ein Lachen ertönte, hörte man zwischen den Regelböden Filios Nörgeln.
»Warum denkt ihr denn jetzt schon an eine Prüfung, die wir erst in zwei Wochen haben? Wenn wir jetzt schon dafür üben, haben wir bis dahin doch wieder alles vergessen.«
»Und wenn du gar nicht dafür lernst, verwechselt du wieder Grindelwald und Grindeloh«, gab Hannes zu bedenken.
»Ich weiß gar nicht, was du meinst«, entgegnete Filio mit Unschuldsstimme. »Schaut mal, hier ist sogar ein Buch über Joachim Grindeloh. Aber das Cover ist nicht so schön. Sein gewaltiger Schnauzer kommt gar nicht richtig zur Geltung.«
Jetzt wurde Jan neugierig. Er stand von seinem Platz vor dem Panoramafenster auf und ging zu FIlio. War dieser Joachim Grindelwald wirklich so bedeutend gewesen wie sein Nachfahre Manuel es gesagt hatte?
Er warf einen Blick über Filios Schulter auf den Umschlag.
Joachim Grindelwald – Koboldfeind und Muggelgegner – Die Geschichte des umstrittenen Vorsitzenden
»Das hat Herr Grindelwald aber anders dargestellt«, bemerkte Jan. »Bei ihm hörte es sich so an, als wäre Joachim ein großer Held gewesen.«
»Held ist immer eine subjektive Sache«, gab Hannes zu bedenken. Auch er und Marina hatten mittlerweile ihre Plätze am Fenster verlassen und waren zu ihren Freunden gegangen. »Es gibt auch einige Menschen, für die Gellert Grindelwald ein Held ist. Wenn Joachim für unseren Hausverwalter ein Held ist, dann sagt das mehr über ihn, als über Joachim aus.«
»Ihr müsst das Buch erstmal lesen, bevor ihr schon über seinen Inhalt und seinen Besitzer urteilt«, meinte Anna, deren Augen nach wie vor auf ein Regal voller besonders alter Bücher gerichtet war. »Wenn ein Titel alles aussagen würde, dann bräuchte man ja gar keinen Inhalt drucken. Ich habe auch schon...«
Sie verstummte.
»Anna?«, fragte Filio besorgt. »Alles gut?«
»Ja. Ich war nur gerade etwas sprachlos. Hier steht einfach eine der fünf handgeschriebenen Originalausgaben der Märchen von Beedle dem Barden. Das glaube ich einfach nicht.«
»Und ich glaube das hier nicht«, sagte Hannes und zog ein dickes, schwarzes Buch aus dem Regal. In altmodischer Schrift stand darauf groß und grün Für das größere Wohl.
Levi entwich ein erschrockenes Seufzen. Marina sah das Buch kopfschüttelnd an.
»Das kann doch nicht wahr sein.«
»Man soll nicht vom Titel auf das Buch schließen«, zitierte Filio Annas Worte. »Vielleicht ist es ja auch einfach nur ein Kochbuch. Für das größere Wohl. Versteht ihr?«
Doch niemand lachte.
»Ich glaube, bei diesem Werk kann ich auch urteilen, ohne das Buch je gelesen zu haben«, antwortete Levi schließlich. »Für das größere Wohl ist die Propaganda-Schrift von Grindelwald gewesen. Darin sind seine gesamten Überzeugungen gesammelt. Sie ist weltweit verboten, auch in Österreich.«
Jan sah seinen Freund überrascht an. Warum besaß Manuel Grindelwald so etwas? Und warum hatte er es nicht versteckt? Jan fand schnell eine Antwort auf diese Frage. Bevor sie nach Nurmengard gekommen waren, war dies ein Versteck gewesen. Schließlich hatte damals außer Herrn Grindwald niemand hier gewohnt. Der Schlossverwalter musste vergessen haben, das Buch rechtzeitig zu verstecken.
Jan schreckte aus seinen Gedanken auf, als Hannes in einer ruckartigen Bewegung das Buch wieder ins Regal steckte.
»Was ist?«, fragte er verwundert.
Hannes nickte mit dem Kopf in Richtung zur Tür.
»Ich dachte...«, meinte er. »Ich dachte, ich hätte Schritte gehört.«
Sie lauschten eine Weile in die Stille hinein.
»Passt nur auf, Grindelwalds Geist spukt in diesem Turm herum«, witzelte Filio. »Ich spüre schon, wie er näherkommt.«
Levi boxte ihm scherzhaft in die Seite. Doch in diesem Moment ertönte tatsächlich eine Stimme aus dem Treppenhaus.
»Geister gibt es hier keine. Wir sind schließlich nicht in Hogwarts. Aber ein Grindelwald spukt hier schon gelegentlich umher.«
Mit diesen Worten betrat Manuel Grindelwald die Bibliothek.
»Guten Tag zusammen«, begrüßte er die sechs Haistras und lächelte ihnen höflich zu. »Ich sehe, ihr habt die Bibliothek entdeckt. Gefällt sie euch?«
Von den Schülern kam ein kollektives Kopfnicken zur Antwort.
»Es ist beeindruckend«, antwortete Anna.
»Dürfen... dürfen wir denn hier sein?«, fragte Levi vorsichtig.
Herr Grindelwald nickte.
»Alles, was nicht abgeschlossen ist, dürft ihr betreten. Und ich werde euch wohl kaum den Zutritt zu Büchern verweigern.«
Jan lag schon die Frage auf den Lippen, ob es nicht durchaus sinnvoll wäre, Schülern den Zugang zu Für das größere Wohl zu verweigern, im letzten Moment entschied er sich aber dagegen. Er war eben bei Herrn Moos schon zu vorlaut gewesen. Jetzt würde er sich an seinen Vorsatz halten, niemanden zu verdächtigen.
»Wie kommt man eigentlich an solche wertvollen Bücher?«, fragte nun stattdessen Anna mit ihrer ruhigen Stimme. »Die Märchen von Beedle dem Barden. Das ist eine der fünf handgeschriebenen Originalausgaben, oder?«
Herr Grindelwald schmunzelte.
»Ich sehe, hier habe ich es mit einer Expertin zu tun. Du liegst mit deiner Vermutung vollkommen richtig. Und du hast eine gute Frage gestellt, die ich gar nicht so leicht beantworten kann. Bei Flourish & Blotts bekommst du so ein Buch in jedem Fall nicht. Ich denke, es braucht vor allem drei Dinge: Kontakte, Geduld und die nötigen Finanzmittel.«
»Das klingt schlüssig, danke«, antwortete Anna.
»Kein Problem«, erwiderte Herr Grindelwald. »Nun muss ich aber auch euch etwas fragen. Wie kommt es, dass ihr euch um diese Uhrzeit hier befindet? Es war doch gerade Mittagessenszeit.«
Jan warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schlug sich gegen die Stirn. Das Erkunden von Nurmendgard war so spannend gewesen, dass sie doch tatsächlich das Mittagessen verpasst hatten.
»Deshalb sage ich immer, man soll frühstücken wie ein Kaiser«, sagte Filio. »Für mich ist es jetzt nicht ganz so schlimm, dass das Mittagessen heute ausfällt.«
»Es tut mir leid für euch, dass ihr jetzt das Essen verpasst habt«, meinte Herr Grindelwald. »Aber es scheint mir so, als wäre mein Schloss hier so spannend, dass man hier jegliches Zeitgefühl vergisst. Das wiederum freut mich zu hören.«
»Ja, es ist echt toll hier«, bestätigte Marina. »Vor allem diese Aussicht – ein Traum.«
Herr Grindelwald nickte zufrieden.
»Das Essen ist zwar mittlerweile abgeräumt, aber ich kann euch wenigstens noch weitergeben, was euer Schulleiter beim Essen verkündet hat. Und zwar hat er vor, mit euch Schülern, ein tragbares Quidditchstadion zu bauen. Nachdem ihr wohl bereits die letzte Quidditchsaison abbrechen musstet, möchte er in diesem Schuljahr nicht wieder auf seinen Lieblingssport verzichten und er glaubt, dass es euch Schülern ähnlich geht. Alle, die beim Bau mithelfen wollen, sollen nach dem Essen, also jetzt, in den Schlosshof kommen.«
Jan und die anderen Haistras sahen sich begeistert an. Sie mussten nichts sagen, um zu verstehen, dass sie alle dabei sein wollten.
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