Kapitel 10 - Angriff auf die Stallungen
Auf dem Dach saß eines der hässlichsten Geschöpfe, die Jan je gesehen hatte. Es hatte faltige, braune Haut, ein spitzes Gesicht und unheimlich gelb leuchtende Augen. In seiner Hand hielt es ein Blasrohr. In genau dieses legte er nun ein spitzes Geschoss und hielt es sich vor den Mund.
»Stupor!«, rief Levi ohne zu zögern. Das Tierwesen wurde nach hinten geworfen und der Schuss seines Blasrohres ging ziellos in die Luft.
»Julius!«, rief Leif bestürzt und kniete sich zu seinem Freund. »Julius, was ist mit dir?«
»Ich... Ich fühle mein Bein nicht mehr«, krächzte er. »Es... Es ist ganz taub. Mein Fuß, ich fühle ihn auch nicht mehr. Was passiert mit mir?«
»Das ist ein Erkling«, erkannte Theo Eisenthal mit Blick auf das Dach. Er rückte sich seine schwarze Rahmenbrille zurecht und hielt sich die Hand über die Augen, um nicht vom Sonnenlicht geblendet zu werden.
»Was hat dieser Erkling mit mir gemacht?«, fragte Julius. »Mein anderes Bein. Ich spüre ... es auch nicht ... mehr.«
Seine Stimme wurde immer mehr zu einem Gurgeln.
»Erklinge fressen Menschen, am liebsten Kinder. Ich glaube, sie verschießen Betäubungspfeile, um ihre Opfer für einen Moment wehrlos zu machen.«
»Du glaubst?«
»Ich weiß es nicht genau«, gestand Theo. »Mein Vater hat mir mal davon erzählt, aber es ist schon eine Weile...«
»Stupor!«, unterbrach ihn Levi und stoppte damit den Erkling davon, ein weiteres Geschoss abzuschicken. Doch im nächsten Moment zuckte er zusammen. Dann sackte auch er zu Boden. Er wandte seinen Blick nach links und erkannte einen Erkling zwischen zwei Ställen, ein hämisches Kichern auf den Lippen und ein Blasrohr in der Hand.
»Es sind mehrere!«, erkannte Levi keuchend. »Sie müssen irgendwie aus ihrem Stall herausgekommen sein.«
»Wir hätten von Anfang an auf dich hören sollen, Klara!«, erkannte Filio. »Ich hole Herr Lurcus.«
»Ich komme mit«, bestätigte Jan mit einem Blick auf Levi. Sein bester Freund lag zitternd am Boden und brauchte Hilfe. Und Jan war der festen Überzeugung, dass Herr Lurcus die geben konnte.
Lina sah die beiden verwundert an und deutete auf ihren Zauberstab. »Schon vergessen, dass wir zaubern können?«, fragte sie. Dann versetzte sie mit einem »Periculum« den Himmel in ein Meer aus roten Funken. Direkt danach schleuderte sie den Erkling auf dem Dach mit einem kraftvollen »Flipendo« vom Stall herunter. Das Brechen von Knochen war zu hören, als der Körper des Untiers auf dem Boden ankam.
»Und was, wenn er in einem Stall ist?«, fragte Jan. »Dann sieht er unsere Funken gar nicht.«
»Guter Punkt«, gestand Lina, während Leif mit einem Abblockzauber verhinderte, dass der Pfeil eines anderen Erklings jemanden aus ihrer Gruppe treffen konnte. »Dann beeilt euch!«
»Gut, dass du es sagst, ich wäre jetzt zurücksparziert«, murmelte Filio augenverdrehend und winkte Jan zu sich. »Los geht's!«
Gemeinsam rannten sie in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Doch nach nur einer Wegbiegung entdeckten sie einen Erkling nur wenige Meter vor sich. Mit einem schrillen Gackern schoss er einen Pfeil auf Jan. Der konnte im letzten Moment noch ausweichen und versah das elfenhafte Geschöpf dann mit einer Ganzkörperklammer, die es bäuchlings auf den Boden fallen ließ.
»Was bin ich Herr Egger dankbar...«, murmelte er, doch er wurde von Filio unterbrochen.
»Pass auf!«, rief der und deutete auf das Dach eines Stalles zu ihrer rechten, auf dem gleich drei Erklinge saßen und ihre Blasrohre angelegt hatten.
»Protego!«, schrie Jan, dankbar dafür, den Abblockzauber aus dem Selbstverteidigungsunterricht auf seine Lern-Liste für die Ferien geschrieben zu haben. Die nadelspitzen Geschosse prallten an einem unsichtbaren Schild ab.
»Vielleicht hätte ich etwas sinnvollere Zauber in den Ferien lernen sollen«, überlegte Filio, während er sich duckte, um einem weiteren Geschoss auswich, das irgendwo von links kam.
»Was bitte hast du denn...«, wollte Jan fragen, doch er konnte nicht fertig reden, da er mit einem weiteren »Protego!« einen Erklingschuss verhindern musste.
»Wir müssen einen anderen Weg nehmen«, stellte Filio fest. »Hier sind zu viele.«
Jan nickte und bewegte sich langsam rückwärts, während er einen weiteren Erkling mit einer Beinklammer versah.
»Circumrota!«, rief unterdessen Filio und machte mit seinem Zauberstab eine wild kreisende Bewegung in Richtung der Erklinge auf dem Dach. Daraufhin begann einer der Erklinge sich wild auf der Stelle zu drehen. Er verlor sein Gleichgewicht und stürzte taumelnd vom Dach, einen seiner Artgenossen mitreißend. Das letzte Ungetüm auf dem Dach erledigte Jan mit einer Beinklammer. Dann verschwanden er und Filio um eine Ecke und versuchten, auf einem anderen Weg zurück in Richtung des Basislagers zu gelangen. Doch auch hier wurden sie von Erklingen empfangen und nur knapp konnte Jan einem lähmenden Erkling-Schuss entgehen.
Mit einer Beinklammer beförderte er auch das Geschöpf, das diesen Schuss verursacht hatte, vom Dach. Doch dann fiel sein Blick nach vorne.
Mindestens zehn Erklinge tauchten zwischen den Ställen vor ihnen auf und stießen dabei ihr schrilles Gekicher aus.
»Es sind zu viele«, stellte Jan fest, bevor er mit einem »Protego!« einige Geschosse abfing.
»Viel zu viele!«, bestätigte Filio und versuchte sich an einem Schockzauber. Doch außer leichten Rauchwolken verließ nichts seinen Zauberstab.
Mit einem zerknirschten Gesichtsausdruck probierte er es noch einmal, diesmal mit mehr Erfolg. Doch auch der gelungene Schockzauber konnte nicht verhindern, dass die Erklinge ihnen immer näherkamen.
Jan spürte wie seine Kräfte nachließen. Er hatte noch nie so viele Abblockzauber und Beinklammerflüche in so kurzer Zeit ausgeführt. Im Selbstverteidigungsunterricht hatten sie zwischen jedem Versuch einmal warten müssen, bis alle anderen den Zauber auch einmal vorgeführt hatten. Jetzt musste Jan fast schon im Sekundentakt einen neuen Spruch aufsagen. Und dennoch hatten sie keinen sichtbaren Erfolg. Die Erklinge kam näher und Jan und Filio konnten ihre Angriffe immer schlechter parieren.
Doch auf einmal hörte Jan etwas über das schrille Lachen der Ungetüme hinweg. Schritte. Im nächsten Moment tauchte die vertraute Gestalt von Herrn Lurcus am Ende des Gangs auf. Jan atmete erleichtert aus. Doch im nächsten Moment bemerkte er, welch ein Fehler das gewesen war. Nur da Filio ihn zur Seite geschubst hatte, war er dem Geschoss eines Erklings entkommen. Mit einem Abblockzauber schützte er sich vor einem weiteren. Doch plötzlich erschien ein gewaltiges Netz in der Luft hinter den Erklingen und schon im nächsten Moment begrub es die fiesen Geschöpfe unter sich. Nur einen Augenblick darauf schwebte es als zusammengeknotete Kugel neben die Wand eines Stalls. Die Erklinge darin zerrten wie verrückt an den Maschen, was dem Anblick fast schon etwas Komisches verlieh.
Herr Lurcus würdigte sie jedoch keines Augenblicks, sondern rannte eilig auf Jan und Levi zu. Unterwegs versah er einige Erklinge mit Schock- und Lähmzaubern und sah dabei so professionell aus, als würde er das täglich trainieren.
»Herr Lurcus«, rief Jan erleichtert. »Hier sind...«
»...jede Menge Erklinge«, bestätigte der Lehrer für magische Tierwesen. »Aber wo sind die anderen?«
Währenddessen beschwor er ein Schild um sie herum, das sie vor dem nach wie vor anhaltenden Erklingbeschuss von allen Seiten beschützte.
»Dort hinten«, antworte Jan und zeigte in die Richtung, von der er glaubte, dass sie aus ihr gekommen waren.
Herr Lurcus nickte.
»Folgt mir!«
Der Lehrer öffnete die Tür eines Stalles, und winkte Jan und Levi mit schnellen Handbewegungen hinter sich her. Unter normalen Bedingungen hätte Jan gezögert. Aber jetzt ging es um Levi. Und daher folgte er Herrn Lurcus in den Stall, was auch immer ihn dort erwarten mochte. Sobald er den Stall betrat, empfing ihn eine sommerliche Hitze. Es sah aus, wie in einer afrikanischen Steppe. Was für Geschöpfe hier nur leben mochten?
Doch Herr Lurcus machte deutlich, dass keine Zeit zum Stehenbleiben war. Er schloss die Tür hinter Filio mit einer raschen Bewegung seines Zauberstabs und führte die beiden dann über das trockene Steppengras. Unterwegs erhaschte Jan einen Blick auf plumpe, blaue Vögel. In einer ruhigen Minute hätte er sie sich gerne etwas länger angeschaut. Jetzt aber war Herr Lurcus bereits an einer anderen Tür angelangt und hielt diese Jan und Filio offen hin. Die beiden Schüler eilten hinaus, direkt gefolgt von ihrem Lehrer. Tatsächlich waren sie genau an der Stelle herausgekommen, wo sie ihre Freunde zurückgelassen hatten. Sie standen in einem Kreis um die Getroffenen herum, deren Anzahl mittlerweile auf drei gestiegen war. Auch Ronja lag nun regungslos neben Julius und Levi. Herr Lurcus nahm Jan und Filio mit in den Kreis der Schüler und errichtete um sie herum einen gewaltigen Schildzauber.
Schon nach kurzer Zeit waren sie von einer schützenden, weißen Wand umgeben, an der die gefährlichen Geschosse der Erklinge einfach abprallten.
Herr Lurcus sah ungläubig auf die umliegenden Dächer, wo überall mindestens zwei Erklinge Platz genommen und ihre Blasrohre auf den Schildzauber gerichtet hatten.
»So etwas habe ich auch noch nicht erlebt«, murmelte er ungläubig und schüttelte den Kopf. »Accio Rauchschweif X!«
Er hielt seine freie Hand in die Luft und fing damit kurz darauf geschickt den pechschwarzen Besen auf, der in seine Hand gesegelt kam.
»Traut sich irgendjemand von euch zu, die anderen Lehrer zu rufen?«, fragte er. »Das hier alleine zu lösen geht über mein Können hinaus.«
Jan sah unsicher zu seinen Freunden. Er wollte Levi helfen, keine Frage. Aber er war dennoch der Meinung, dass es besser war, wenn jemand anderes diese Aufgabe übernahm. Nach wie vor war er nicht der beste Flieger. Umso erleichterter war er, als sich Marina meldete.
»Ich übernehme das.«
Ehrfürchtig nahm sie den wertvollen Besen von Herrn Lurcus entgegen, setzte sich darauf und stieß sich dann vom Boden ab. Ein Schauer aus Blasrohrgeschossen verfolgte sie, als sie aus dem Schildzauber ausbrach. Doch aufgrund ihrer enormen Geschwindigkeit hatten die Erklinge nicht einmal ansatzweise eine Chance, sie zu treffen. Schon bald war sie so weit geflogen, dass ein Stall die Sicht auf sie verdeckte. Dafür aber fiel Jans Blick auf etwas anderes: Levi. Er lag regungslos auf dem Boden und lediglich von seinem Kopf gingen noch leichte Bewegungen aus.
»Levi!«, rief Jan. »Wie fühlst du dich?«
Levi zog mühevoll einen Mundwinkel nach oben und sah dabei so aus, als würde er sich in Zeitlupe bewegen.
»Ich spüre nicht mehr allzu viel von meinem Körper«, antwortete er schwach. »Und bewegen kann ich ihn auch nicht mehr.«
»Herr Lurcus?«, fragte Jan panisch. »Was machen diese Pfeile von den Erklingen? Lassen sie...«
Jan wagte es nicht, seinen Satz zu beenden. Das konnte nicht sein. Sie durften nicht tödlich sein. Theo musste einfach recht haben, mit der Aussage, dass es Betäubungspfeile waren.
»Sie haben eine ähnliche Wirkung wie ein Lähmzauber«, erklärte Herr Lurcus. »In einem Zeitraum von ungefähr zehn Minuten leidet das Opfer unter einer starken Bewegungsunfähigkeit. Danach lässt der Effekt aber nach. Ihr drei könnt also ganz unbesorgt sein. Spätestens in einer Stunde werdet ihr nichts mehr merken.«
Jan spürte wie ein Stein von seinem Herzen fiel. Theo hatte sich also richtig erinnert. Es war nur eine Art Betäubung.
»Wie seid ihr eigentlich hier hingekommen?«, fragte Herr Lurcus nachdenklich. »Ihr wart doch eigentlich auf dem Weg zurück zur Burg.«
»Wir haben ein Lied gehört«, erklärte Filio. »Es ging ungefähr so: Vergangen ist der Nebel am Morgen. Fehlt dir nun Freude vor lauter Sorgen. Ist...«
»Genau so«, unterbrach ihn Leif mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen. »Diesem Lied sind wir dann gefolgt. Wir wollten wissen, wo es herkam. Als wir dann herausgefunden haben, dass es Erklinge sind, die es verursachen, war es schon zu spät. Da war Julius schon von einem Pfeil getroffen.«
Wie auf Kommando begann sich der blonde Ehura am Boden in diesem Moment zu bewegen.
»Meine Beine!«, rief er aus. »Ich spüre sie wieder! Ich ... Ich kann mich wieder bewegen.«
Ganz langsam richtete er sich wieder auf, bis er schließlich taumelnd auf den Beinen stand. Schnell kamen Henry und Leif ihm zur Hilfe, um ihn zu stützen.
Und auch wenn sie nach wie vor von Erklingen umgeben und nur durch Herrn Lurcus Schild geschützt waren, füllte sich Jans Gesicht mit einem Lächeln.
Herr Lurcus war da. Und die Geschosse der Erklinge schienen tatsächlich nur eine kurzfristige Wirkung zu haben.
»Herr Lurcus?«, fragte in diesem Moment Klara Allen. »Können Sie sich eigentlich erklären, wie die Erklinge ausgebrochen sind? Und denken Sie, wenn Erklinge entkommen sind, können das auch andere Tierwesen schaffen? Zum Beispiel dieses widerliche Quintaped?«
»Ich weiß nicht, ob diese Antwort dich beruhigt oder besorgt, aber ich kann sehr sicher sagen, dass diese Erklinge überhaupt nicht ausgebrochen sind. In den Ställen hier beherbergen wir keine Erklinge.«
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