Georg Tuplantis zog den Koffer, mit den wenigen Habseligkeiten, die er damals mit nach Hause genommen hatte, über die Türschwelle seines Büros. Staubkörner tanzten im Licht, das durch die Fenster in das runde Turmzimmer schien und legten sich auf das Chaos, das er hier zurückgelassen hatte. Bücher, Briefe und Kugelschreiber lagen noch auf seinem Schreibtisch herum. Als er vor gut zwei Wochen Winterfels verlassen hatte, um ein paar Tage in seinem Haus im Schwarzwald zu verbringen, hatte er nicht damit gerechnet, dass es länger dauern würde, als die geplanten paar Tage, bis er wieder zurück nach Winterfels kommen würde.
Sein beschauliches Holzhaus im Schwarzwald war für ihn mehr wie ein Ferienhaus – wirklich zu Hause war er in Winterfels. Seitdem seine Beziehung vor über zwanzig Jahren in die Brüche gegangen war, gab es nichts, das ihn noch dazu bewegte, in der schulfreien Zeit Winterfels zu verlassen – außer die Ruhe und die wunderschöne Natur des Schwarzwalds. Aber ein paar Tage waren genug, um sich zu erholen und sich dann wieder seiner Schule zuzuwenden. So hatte er es gedacht. Doch Assmann war anderer Meinung gewesen. Sie hatte ihn höchstpersönlich – in Begleitung von zwei breitschultrigen Hohlköpfen – bei sich zu Hause besucht und ihn unter Hausarrest gestellt.
Sie hatte sich wie einen Albus Dumbledore darstellen wollen, der Grindelwald in seinem eigenen Schloss eingesperrt hatte. Und Herr Tuplantis hatte mitgespielt. Sie hatte denken sollen, dass sie gegen ihn gewonnen hatte. Sie hatte hochmütig werden sollen. Genauso hatte er es Herrn Goldenberg gesagt, der ihn eines Abends in seinem Schwarzwaldhaus besucht hatte. Ihm hatte er die Schulleitung und die Schulevakuierung bedenkenlos zugetraut. Er hatte nicht ahnen können, dass Herr Moos Assmanns Gesandter alles über den Evakuierungsplan erzählen würde und Herrn Goldenbergs Arbeit somit merklich erschwert hatte.
Rückblickend ergab es natürlich Sinn. Der junge Mann, der bei X-Potion eine steile Karriere hingelegt hatte, aber die Firma, bei der er angeblich seinen Traumberuf gefunden hatte, trotzdem für ein Jahr verlassen wollte. Und der beim Einstellungsgespräch erstaunlich selbstbewusst bei der Gehaltsfrage gewesen war. Dieser junge Mann hatte für jeden Preis an Geld kommen wollen und nachdem sein Verkauf von selbstgebrauten X-Potion-Tränken ihm immer noch nicht genug Geld eingebracht hatte, war er offen für Pettigrews Bestechung gewesen.
Aber Herr Moos hatte sich so geschickt angestellt, dass Herr Tuplantis während des Schuljahres nie einen Verdacht entwickelt hatte. Und Flavia Widmer, die Herr Tuplantis genau für solche Fälle eingestellt hatte, war er gekonnt aus dem Weg gegangen. Seinen Einbruch in Jans Schlafzimmer, um die Phiole der Horkruxe zu stehlen, hatte er genau auf den Tag gelegt, an dem die Geheimaurorin bei einer Besprechung mit der Schweizer Zaubereiminsiterin gewesen war. Nachdem Jan und seine Freunde ihn allerdings beinahe auf frischer Tat ertappt hatten, war er von seinem Plan abgerückt, die Phiole aus dem Schlafzimmer zu stehen und hatte stattdessen dafür gesorgt, dass die Phiole in weniger geschütztes Gebiet kam – zu Jan nach Hause.
Er hatte in einer Stunde Zaubertränke, in der er mit den Viertklässlern Aromenverstärker gebraut hatte, einige Coronaviren heimlich den Trankzutaten zweier Schülerinnen zugeführt und somit dafür gesorgt, dass die gesamte Schule geschlossen werden musste. Das alles hatte er mittlerweile vor Gericht zugegeben – in der Hoffnung, seine Strafe dadurch mindern zu können. Vielleicht hatte er sich diesen Buchhalter Dennert zum Vorbild genommen. Der hatte ausführlich über Pettigrews Strukturen und Machenschaften ausgesagt und hatte gute Aussichten auf einen Freispruch.
Der gravierende Unterschied war allerdings, dass Dennerts Strafmaß deutlich geringer war. Nicht nur Herr Tuplantis, sondern auch führende Rechtswissenschaftler hielten es für utopisch, dass Herr Moos auf einen ähnlichen Prozessausgang hoffen konnte wie Robert Dennert. Dennoch würde es ihm vermutlich besser ergehen als Celia Ivyng. Titus' Pettigrews Partnerin hatte sich als Viertel-Veela herausgestellt und war vor den Internationalen Veela-Rat bestellt worden. Der wiederum war nicht dafür bekannt, Veelablutträgern, die ihre Fähigkeiten für unmenschliche Zwecke einsetzten, Gnade zu zeigen.
Doch all das waren keine Probleme, der Herrn Tuplantis direkt betrafen. Er musste sich erst einmal darum kümmern, bei der Lehrerwahl für nächstes Jahr bessere Entscheidungen zu treffen als in diesem. Drei Stellen hatte er neu zu besetzen. Zaubertränke (aus offensichtlichen Gründen), Verteidigung gegen die dunklen Künste (da Flavia Widmer wieder als Aurorin in die Schweiz ziehen würde) und Englisch (Herr Egger hatte sich mit Burnout für ein ganzes Jahr krankschreiben lassen).
Mit der Neubesetzung für zweitgenanntes Fach war er hochzufrieden. Nachdem mit Titus Pettigrew der letzte große Schwarzmagier seiner Zeit die Weltbühne verlassen hatte, war Witold Jorski bereit dazu gewesen, sich einer neuen beruflichen Erfahrung zu stellen, die er ein Jahr zuvor bereits hatte ausprobieren können. Nun würde er allerdings für sein wahres Spezialgebiet antreten.
Um nicht von seiner Familie getrennt zu sein, hatte er gebeten, dass seine Frau ebenfalls nach Winterfalls ziehen durfte. Sie war gebürtige Britin und hatte Witold während dessen Auslandspraktikum kennengelernt. Nach einem kurzen Gespräch war Herr Tuplantis überzeugt davon gewesen, dass sie die Richtige für das Fach Englisch war.
Für Zaubertränke hingegen plante er, den alten Meister Ullrich Jürgens wieder einzustellen. Nach dessen Freispruch stand diesem Vorhaben aus juristischer Sicht zumindest nichts mehr im Weg. Herr Jürgens selbst hatte Herrn Tuplantis versichert, liebend gerne in seinen alten Beruf zurückzukehren. Der Schulleiter wartete allerdings noch auf ein Schreiben der Fachärzte. Sollte das positiv ausfallen, hätte er alle vakanten Positionen zufriedenstellend wieder besetzt.
Doch ein Blick auf seinen Schreibtisch verriet ihm, dass damit noch längst nicht alles getan war. Briefe stapelten sich auf einem Turm, der bereits so aussah, als würde er allein von Magie zusammengehalten. Mit einem Seufzen stellte Herr Tuplantis seinen Koffer ab und ging auf die Papiere zu. Er hatte keinesfalls vor, sie augenblicklich zu beantworten. Aber er wollte wenigstens wissen, was ihn in den nächsten Tagen erwartete.
Der oberste Brief ließ ihn schmunzeln. Amtliche Wahlbenachrichtigung
Natürlich hatte er in den letzten Wochen schon genug darüber gehört, aber dennoch freute er sich jedes Mal aufs Neue, wenn er hörte, dass in vier Wochen das Zaubereiministerium neu gewählt werden würde. Nachdem der Verdacht, dass Assmann mit Pettigrew zusammengearbeitet hatte, von ersten, handfesten Beweisen untermauert worden war, hatte Vogel hatte die letzte Möglichkeit ergriffen, um das wieder aufzubauen, was er irreversibel zerstört hatte - sein Bild als integrer Politik.
Seine PDZ hatte Assmann das Vertrauen entzogen und somit Neuwahlen verursacht. In den Umfragen lag seine Partei dabei allerdings mittlerweile nur noch bei knapp zwölf Prozent. Es war ein steiler Karrieresturz für die Partei deutscher Zauberer gewesen, aber Tuplantis hatte kein Mitleid für Partei, die seine Eltern einst gewählt hatten. Vogel war ein Narr gewesen, eine Koalition mit der Neuen Zukunft einzugehen. Nun erntete er die Früchte seiner Torheit.
Doch Herr Tuplantis war guter Dinge, dass sich die Politik nun wieder zum Guten wandeln würde. Günther Haas und Lindjon wurden je nach Umfrage über 65 % der Stimmen zugetraut. Ganz offensichtlich hatte ein Großteil der Bevölkerung unter Assmanns Regierung verstanden, wie glücklich sie sich mit Haas hatten schätzen können. Aktuell sah es stark danach aus, als könnte Lindjon nach der Wahl ohne Unterstützung einer anderen Parte regieren.
Herr Tuplantis sah das als ein gutes Zeichen. Es schien fast so, als würden die nächsten Jahre doch tatsächlich friedlich werden. So lange, bis wieder ein neuer Mensch versuchte, in die Fußstapfen von Voldemort treten zu müssen. Oder bis dieses Corona-Virus endgültig außer Kontrolle geriet. Oder bis die Muggel einen neuen Krieg anfangen sollten. Herr Tuplantis seufzte. Ewigen Frieden würde es auf dieser Welt wohl niemals geben. Es zählte also, dass die, die für das Gute kämpften, immer stärker bleiben würden als das Böse.
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