1. Rita
Die alten Dielen knarzten unter seinen schwarzen Stiefeln und der Wind pfiff durch die undichten Wände. Spinnenweben hingen in allen Ecken und die Holzmöbel waren von einer samtenen Staubschicht bedeckt.
Azazel duckte sich unter einem Türrahmen hindurch, blieb aber dennoch mit einem seiner schwarzen Hörner hängen. Ihm entwich ein zorniges Zischen, bevor er endlich den letzten Raum betrat.
Im Vorjahr hatten die anderen ihn hierher eingeladen, um gemeinsam die Nacht der Dämonen zu feiern, nachdem sie schon den ganzen Tag nichts anderes getan hatten, als ausgelassen zu trinken. Damals hatte er abgelehnt und die Nacht allein verbracht.
Ohne zu wissen, ob auch dieses Jahr jemand hier sein würde, hatte er sich am Morgen auf den Weg gemacht. Nun war er wieder allein, in einem alten, großen Haus, in der Hauptstadt der Menschen, die er nie wieder hatte sehen wollen.
Wenn Azazel ehrlich war, hatte er mehr erwartet, als er von der unheimlichen Geistervilla gehört hatte. Dass es Geister nicht gab, hatte er von Anfang an gewusst, aber an Magie und mysteriösen Geschichten hatte er schon immer Interesse gehabt. Aber in diesem Haus gab es weder das eine noch das andere. Alt war das Gebäude auch nur für menschliche Verhältnisse, aber nicht für ihn, einen gefallenen Engel, der schon vor tausenden Jahren auf dieser Welt gelebt hatte.
Genervt ließ Azazel seinen Blick durch den Raum schweifen. Warum war er überhaupt hierher gekommen? Er wollte sich bereits wieder abwenden und gehen, als er in einer Raumecke etwas aufblitzen sah.
Durch ein Fenster, welches mittlerweile weder Glas noch Rahmen besaß, schien Mondlicht hinein und wurde auf einer glänzenden Oberfläche reflektiert.
Skeptisch trat Azazel näher, wirbelte mit jedem Schritt den Staub vom Boden auf.
Der Spiegel war beeindruckend sauber in Anbetracht des Zustandes des restlichen Hauses. Der goldene Rahmen funkelte leicht, erweckte durch das kalte Licht eher den Schein von Silber. Ganz oben war ein kleines Symbol eingeprägt, aber Azazel schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich sollte es zeigen, welchem reichen, habgierigen Mann der Gegenstand gehörte.
Azazels Gestalt wirkte im kalten Licht nicht anders als sonst. Seine Haut und Haare waren schneeweiß und das kalte Violett seiner Augen zeigte auch im Sonnenlicht keinerlei Wärme. Seine Hörner glänzten, genau wie seine rabenschwarzen Flügel, deren Gefieder er endlich wieder pflegen konnte, seit er nicht mehr jede Nacht um sein Überleben kämpfen musste.
Dennoch erschien ihm irgendetwas unpassend. Etwas stimmte nicht. Sein Spiegelbild war zu hell und klar, es hob sich vom dunklen Raum ab, als würde er hinter ihm gar nicht existieren. Seine Schwingen sollten in der Dunkelheit des Raumes verschwimmen, das blasse Mondlicht nicht stark genug, um alles zu beleuchten.
Mit gerunzelte Stirn trat der Teufel näher an den Spiegel heran. Für einen Moment blendete ihn das Licht, das auf der glänzenden Oberfläche reflektiert wurde und ihm ins Gesicht strahlte. Nachdem er einen weiteren Schritt gemacht hatte und erneut in den Spiegel blickte, war seine Gestalt nicht mehr allein.
An seiner Seite stand ein kleiner Junge, etwa zehn Jahre alt. Seine schwarzen, kinnlangen Haare verdeckten sein linkes Auge, sein rechtes blickte in einem strahlenden Blau vertrauensvoll zu dem Teufel hoch. Auf seinen Lippen lag ein sanftes Lächeln.
Genau wie Azazel trug er einen schwarz-roten Mantel, der ihn noch zierlicher erscheinen ließ.
Dem Teufel stockte ein paar Augenblicke der Atem. Warum konnte er Mugaro in diesem Spiegel sehen?
In diesem Augenblick hörte er leise Schritte hinter sich und fuhr herum. Er wusste eigentlich, dass Mugaro nicht hier sein konnte, aber er spürte dennoch ein aufgeregtes Ziehen in seiner Brust.
„Ich bin's nur", ertönte eine weibliche, monotone Stimme.
„Zombie-Mädchen!", stellte Azazel leicht erstaunt fest, als er die kleine Gestalt erkannte.
Blassviolette Haut, schwarze Haare unter einem kleinen, dekorativen Hut, ein schwarzes Kleid, das die vielen Narben und Nähte auf ihren Gliedmaßen nicht verbarg und mintgrüne Augen, die ihn desinteressiert anstarrten.
In ihrer Hand hielt sie wie immer ihren dunklen Regenschirm mit einem kleinen Schädel als Griff.
„Was machst du hier, Rita?", erkundigte sich Azazel nun höflicher. Die Nekromantin gehörte zu den wenigen Lebewesen, denen er Respekt entgegenbrachte. Sie war eine der wenigen, die diesen verdienten.
„Ich wollte mir den Spiegel genauer ansehen", erklärte sie und deutete mit dem Griff ihres Schirms hinter Azazel.
Ihre Stimme war hoch, wie man es von einer Zwölfjährigen erwarten würde, doch ihr Tonfall sprach vom Gegenteil. Sie klang gelangweilt, nahezu apathisch. Die zweihundert Jahre, die sie als Nekromantin mit ihren toten Eltern verbracht hatte, die sie letztendlich ebenfalls zu einem Zombie gemacht hatten, waren an ihr nicht spurlos vorübergegangen.
Auf ihrer Schulter saß wie üblich Rocky, eine Hand, welche durch ihre Magie ein Eigenleben entwickelt hatte und ihr als Assisstent zur Seite stand. Er winkte Azazel zu und deutete eine Verbeugung an.
„Was ist das für ein Spiegel?", verlangte Azazel zu wissen und ließ Rita vorbei.
„Das versuche ich ja herauszufinden. Die anderen trauen sich nicht mehr her, weil sie damit nicht umgehen können, deswegen bin ich diesmal allein."
„Mit was nicht umgehen können?"
Rita fixierte den Teufel mit scharfem Blick. „Mit dem, was sie sehen."
Azazel schwieg, blickte aber nicht weg. Letztendlich seufzte Rita gelangweilt und wandte den Blick ab.
„Was siehst du im Spiegel? Gibt es irgendeine Regel oder ein Muster?", erkundigte sich Azazel nun neugierig und stellte sich neben sie.
Obwohl sie ebenfalls zu sehen sein müsste, konnte er nur sich selbst und Mugaro auf der spiegelnden Oberfläche erkennen.
„Das geht dich nichts an." Ritas Stimme war so desinteressiert wie immer, aber als Azazel auf sie hinabblickte, sah er, dass sie sich von ihm abgewandt hatte. „Aber jeder sieht jemand anderen, den er verloren hat. Einen Geliebten, einen Freund, seine Familie und so weiter. Wahrscheinlich hängt es mit Trauer oder Reue zusammen. Sicher kann ich es allerdings nicht sagen, bisher haben noch nicht viele hineingesehen."
Azazel starrte den kleinen Jungen mit dem blauen Auge an seiner Seite an. Auch jetzt lächelte er weiter und nickte ihm leicht zu.
„Wen siehst du denn?", fragte Rita und drehte sich wieder zu ihm um.
Der Teufel blickte sie an und seine Augen wurden dunkel. „Das geht dich ebenfalls nichts an."
Im nächsten Moment wurde Ritas Blick weicher und die Teilnahmslosigkeit verschwand. „Verstehe."
Azazel richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Spiegel und ließ sich nichts anmerken.
Rita wusste, wen er sah. Die Nekromantin war vor zwei Jahren dabei gewesen, als es passiert war. Als Mugaro gestorben war, in diesem verfluchten Krieg. Sie war die Ärztin gewesen, die alles versucht hatte, um den Jungen zu retten. Aber es war ihr nicht gelungen.
Azazel gab ihr keine Schuld, er wusste, dass sie alles getan hatte, was sie konnte. Sie hatte auch ihn selbst schon unzählige Male gerettet, damals, als er jede Nacht aufgebrochen war, um für sein Volk, die Dämonen, zu kämpfen. Jedes Mal war er voller Blut, manchmal eigenes, oft fremdes, zurückgekehrt und Rita hatte ihm geholfen.
Daher respektierte er das Zombie-Mädchen.
„Interessant ist, dass der Spiegel nur am Tag der Dämonen und der entsprechenden Nacht verflucht ist. Zu jedem anderen Zeitpunkt ist es ein normaler Spiegel", sprach Rita nun weiter und lief im Raum auf und ab. Ihre kleinen Stiefel hinterließen dabei ebenso kleine Fußspuren im Staub.
„Hat ihn jemand schon davor gefunden? Bevor es diesen verdammten Tag gab?"
Dass Azazel Mugaro im Spiegel sah, so wie er sich an ihn erinnerte, löste etwas in ihm aus. Dieser Spiegel konnte in ihn hineinblicken, wusste Dinge über ihn, die er niemandem erzählen würde. Schließlich war er Azazel, neben Lucifer der oberste Teufel und Herrscher der Dämonen.
Wenn jemand erfahren würde, dass er einen kleinen Jungen liebgewonnen und aufgezogen hatte ... Nichtmal seinem Bruder Lucifer hatte er davon erzählt.
„Nein, das ist das Problem", antwortete Rita und seufzte. „Ich hatte eigentich vor, ganz viele Leute hineinschauen zu lassen. Am besten auch Kinder, die noch keine großen Verluste erlitten haben. Zeigt der Spiegel immer Verluste oder einfach etwas Trauriges? Oder steht Reue im Vorderung? Muss es immer die Person sein, die einem am meisten bedeutet oder war es bisher nur der Fall, weil damit die stärksten Emotionen verknüpft sind?"
Rita zuckte mit den Schultern. „Aber letztes Jahr hat es die komplette Stimmung runtergezogen und alle weigern sich, nochmal reinzuschauen, oder genauer zu beschreiben, was sie sehen. Verstehen kann ich es ja. Aber so werde ich nichts herausfinden, vielleicht kann ich nächstes Jahr jemanden überzeugen."
So teilnahmslos wie Rita darüber sprach, was sie im Spiegel sahen, konnte sie nicht allzu emotional getroffen sein. Sonst würde sie nicht versuchen, andere zu überreden, das Gesehene zu teilen.
Azazel sah sich dadurch in seiner Vermutung bestätigt, dass sie Kaisar sah. Einen Mann, den sie liebte und den er versehentlich ermordet hatte. Es war mehr Selbstmord gewesen, als wirklich Azazels Schuld, da der Ritter freiwillig in sein Schwert gelaufen war, aber letztendlich machte es keinen Unterschied, da Rita ihn als Zombie wiedererweckt hatte, nachdem der erste Schrecken vorbei gewesen war. Sie trauerte also nicht, da sie ihn nun wieder an ihrer Seite hatte. Dazu noch genauso untot wie sie selbst.
Azazel wandte sich zum Ausgang. Warum die anderen allerdings solche Angst vor dem Spiegel hatten, verstand er nicht. Sie waren alle, bis auf ihn selbst, in der Lage, über ihre Verluste zu sprechen und hatten es auch schon oft getan. Sie alle machten kein Geheimnis aus ihren Gefühlen.
Der Teufel runzelte leicht die Stirn, tat den Gedanken dann aber ab. Es waren Menschen. Wenn es um Gefühle ging, verhielt sich niemand von ihnen logisch, also sollte er auch nicht nach einem Sinn suchen.
„Sollen wir etwas trinken?", schlug er vor. Die Erinnerungen an Mugaro hatten alles wieder zurückgeholt. Weitere Erinnerungen an die Zeit, als sie zusammen gegessen und gelebt hatten. Manchmal sogar gelacht.
„Warum nicht." Rita klang genauso gelangweilt wie immer, als sie ihm nach draußen und durch die dunklen Straßen folgte.
Sie machten einen Bogen um die Festzüge und großen Feuer, die überall in der Stadt errichtet wurden. Lediglich die Laternen und geschnitzten Kürbisse zierten die Straßenränder.
Die Stille der Nacht wurde nur von entfernten Stimmen und den lauten Geräuschen ihrer Absätze auf dem Kopfsteinpflaster durchbrochen.
Ohne sich abzusprechen, liefen sie ins Armenviertel, wo sie zwei Jahre zuvor noch gelebt hatten. Rita schien noch immer hier zu wohnen, denn ihr Haus war ordentlich gepflegt.
Während Rocky Tee kochte und Azazel die Hand fasziniert beobachtete, setzten sie sich an einen kleinen Holztisch. Die ebenfalls hölzernen Stühle knarzten gefährlich, als er sich auf einem niederließ, aber das hatten sie schon immer getan.
„Die anderen sind alle auf dem Fest?", fragte Azazel und Rita nickte.
„Kaisar ist mit Favaro trinken und Nina ist wie immer bei Chris. Sogar Bacchus ist diesmal mit Sofiel unterwegs." Sie überlegte einen Moment. „Nur von Jeanne weiß ich nichts. Wahrscheinlich nimmt sie wieder an einer der Paraden teil."
Azazel nickte. Obwohl er sich für keinen der Genannten sonderlich interessierte, war es doch gut zu hören, dass sie alle normal ihr Leben lebten.
„Warum drückst du dich eigentlich allein irgendwo herum? Keine Dämonen-Freunde, die mit dir das Fest verbringen wollen?" Rita grinste kurz und Azazel zischte genervt.
„Ich werde an diesem verdammten Fest niemals feiern."
Das Zombie-Mädchen seufzte. „Versteh ich ja."
Den Tag der Dämonen gab es erst seit zwei Jahren. Seit der Krieg zwischen Menschen, Engeln und Dämonen geendet hatte. Auf Drängen seiner Geliebten hatte der Menschenkönig Charioce XVII diesen Feiertag erlassen. Zu Ehren der Dämonen und in Gedenken an die Gefallenen.
Azazel verzog das Gesicht bei dem Gedanken. In Gedenken an alle Dämonen, die der König selbst hatte ermorden und versklaven lassen.
Der Tag, welchen der König auserkoren hatte, war genau der gewesen, an dem die Menschen unter seiner Führung Cocytus, die Stadt der Dämonen zerstört, unzählige Dämonen erschlagen und versklavt und den Rest vertrieben hatten.
Immerhin ersetzte der Tag der Dämonen nun die Parade, mit der zuvor der Sieg der Menschheit über die Dämonen gefeiert wurde. Eine ziemlich scharfe Wendung, die dennoch nicht genügte, damit Azazel all das Leid seines Volkes vergeben würde.
Rocky riss ihn aus seinen Gedanken, als er mit einem lauten Scheppern eine Porzellantasse vor ihm abstellte. Rita seufzte und stand schnell auf, um die Teekanne selbst zu holen, denn Rocky fehlte Verständnis für die Zerbrechlichkeit von Gegenständen.
Immerhin war der Tee ganz gut, stellte Azazel nach einem kleinen Schluck fest. Rita trank ebenfalls etwas, obwohl das Getränk noch viel zu heiß war. Einem Teufel, der tausende Jahre in einem Vulkan gelebt hatte, und einem Zombie ohne Schmerzempfinden machte das allerdings wenig aus.
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