6 - Zauber der Mitternacht
Roane und die Hexen wichen zurück. Die Dunkelheit kroch aus dem Wald auf sie zu und drängte sie zusammen. Der Schnee knirschte laut. Die dunkle Hexe kam auf sie zu, leise Worte vor sich hin murmelnd, und mit einem Schlag wurde Roane klar, dass der Schatten kein Teil des Fluchs war - sondern dass die Hexe ihn erschaffen hatte.
In ihren Händen hielt sie die Quelle der Macht, die jeden Zauberwunsch erfüllte. Es war die Prüfung der Magie und Esmeray nahm den Kampf deutlich zu ernst.
„Unmöglich!", fauchte Sam, die sich dicht an ihre Freundin drängte. „Warum sollte es nur ein Amulett geben? Jeder von uns braucht eins und ich wette, du hast die anderen nur versteckt, weil du uns ärgern willst!"
„Nein." Die Hexe wirkte erschreckend sicher bei der Aussage. Achtlos warf sie ihre Haare zurück. „Ihr könnt gerne nachsehen."
Mit einem lockeren Wink ließ sie die Schwaden zurückgleiten. Roanes Knie gaben unter ihr nach und sie sank zu Boden, aber Koën war plötzlich neben ihr, um sie zu halten. Unsicher blickten alle Jugendlichen zum Mädchen, das in Richtung Lagerfeuer deutete.
„Dort habe ich es gefunden, wie gedacht. Meine Mutter hat mir nie viel über den 13. Monat erzählt, obwohl sie sich als Hexenälteste an vieles erinnern kann, aber über die Jahre habe ich einiges aufgeschnappt. Zum Beispiel, dass die Artefakte stets dort erscheinen, wo wir sind. Wenn wir bereit sind, sie zu empfangen, bekommen wir die Möglichkeit dazu." Sie schwieg einen Moment. „Ich wusste also, dass ich nicht weit wandern muss, um alles zu finden. Die Feder des Wissens entdeckte ich im Baum dort, das Amulett am Lagerfeuer da." Sie deutete in beide Richtungen und senkte den Blick. „Einzig die Kerze blieb mir verwehrt. Gleichgewicht, sanfte Magie ... Gut, dass ihr klüger wart als ich."
Ein Schattenarm sauste auf die Gruppe zu. Die Hexen schrien und gingen in Deckung, aber Jinx war zu langsam. Im Nu trug die Dunkelheit ihre Kerze zu Esmeray, die sie in Empfang nahm.
„Das ist nicht fair!", brüllte diese mit Tränen in den Augen. „Bei der zweiten Prüfung ging es um Einigkeit, Freundschaft und Harmonie - etwas, was du eindeutig nicht verstanden hast!"
Esmeray seufzte. „Tut mir leid." Ihr Flüstern klang ehrlich. „Aber wenn ich versage, hat es noch viel weitreichender Folgen als bei euch. Meine Mutter ist die Älteste - sie erwartet, dass ich bestehe. Ihr könnt das mit der Freundschaft viel besser als ich. Ihr könnt euch einfach eine neue Kerze besorgen. Mit zwei Artefakten werden die Urmächte euch nicht ganz so doll bestrafen."
Sie wandte sich ab, aber August und Koën versuchten, sich auf sie zu stürzen. Der Schatten türmte sich auf und schnappte sie beide. Er hob sie in die Luft, sodass sie einige Meter über dem Boden schwebten. Roanes Herz setzte aus.
„Stopp!" Sie starrte die Einzelgängerin an. „Ist es wirklich das, was du willst? Dass einige von uns durchfallen und ihre Zauberkraft vergessen? Esmeray, es gibt nur ein Amulett. Wenn du nicht lügst - und ich verstehe nicht, warum du das tun solltest - dann müssten wir alle versagen. Alle ... außer du."
Tränen der Angst brannten nun auch in ihren Augen, aber Esmeray blieb abgewandt. „Ich weiß", wimmerte sie und schloss die Hände fester um die Artefakte. „Aber es gibt keine Lösung. Nicht umsonst hat meine Mutter es mir vorher gesagt. Wenn wir alle durchfallen, wird es dieses Jahr keine neuen Hexen im Zirkel geben, und das schwächt unsere Macht im Kampf gegen die Schatteneulen. Denn ja - sie existieren noch. Die Ältesten halten sie fern und meine Mutter hat mich darauf trainiert, es ihnen gleichzutun. Ich soll eigentlich nichts sagen, um euch keine Angst einzujagen ... Aber hast du eine bessere Idee?"
Sie wirkte ehrlich verzweifelt. Während ihrer Rede hatte sie die Jungen wieder auf den Boden gesetzt und ihren Schatten zurückgezogen. Sie kauerte sich zusammen. Nun verstand Roane auch, warum sie eine Einzelgängerin war; warum sie die Macht hatte, einen Schatten zu erschaffen. Es war so sinnvoll und warf gleichzeitig alles durcheinander, dass sie sich setzen wollte.
Samantha und Xenia starten sie an, als würden sie von ihr eine Lösung erwarten. Koën blickte sie ebenso still an, aber sein Blick schien eher zu sagen: Du bist klug. Wenn einer das schafft, dann du, Wunderhexe.
Roane kniff die Augen zusammen. Ihr Blick fiel auf Jinx, die zitternd ins Leere schaute.
„Dann müssen wir eine Lösung finden", flüsterte sie. „Gemeinsam. Dafür will ich sehen, wo du das Amulett gefunden hast. Aber keinen Schatten mehr."
Die dunkle Hexe nickte. Schwach ließ sie die Finsternis verschwinden und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Am Lagerfeuerplatz nahmen ihre Eltern und Familien sie erstarrt in Empfang. Roane betrachtete ihre Mutter und ihren Vater schweren Herzens, als ihr klar wurde, dass sie vielleicht durchfallen würden, und Kummer wuchs in ihrem Herzen. Esmeray deutete auf das Feuer. „Da drin."
Sie hatte vorhin nicht richtig hingesehen. Das Feuer thronte auf einem steinernen Sockel, der in Echt nicht existierte. Filigrane Linien schlängelten sich über das Gestein ins Zentrum, wo sich eine leere Schale befand.
„Darf ich mir das Amulett ansehen? Bitte?"
Die Hexe zögerte. Sie blickte von einem ihrer Mitschüler zum nächsten, dann schien die Hoffnung zu siegen. Langsam streckte sie ihr das Artefakt entgegen.
Sofort wurde Roane von der Macht durchflutet. Sie trug nun alle magischen Gegenstände bei sich, deren Zauber sie erfüllte, doch sie versuchte, ihn zu verdrängen. „Stark", keuchte sie. Esmeray nickte. Roane zog ihre Feder und Kerze hervor und legte alle auf dem Boden nebeneinander, um ihre Mächte abzuwägen.
„Es muss noch mehr davon geben", murmelte sie.
Doch ihre Widersacherin schüttelte den Kopf. „Das habe ich meine Mutter auch gefragt, aber sie war klar und deutlich: Es gibt nur ein Amulett. Ein Amulett im ganzen Wald."
„Du hättest es uns ruhig sagen können", murrte Walli.
Jinx hielt den Atem an. „Und wenn es immer nur ein Amulett gab? Ich meine ... warum sollte dieses Jahr eine Ausnahme sein? Was haben die Hexen vor uns gemacht, um alle durchzukommen, wenn der Fluch endete?"
Ein Schauer überzog Roanes Körper. Esmeray packte das Amulett und drückte es an sich, während die Junghexen sich zusammendrängten. Am Himmel ballten sich die Wolken zu einem Sturm zusammen, der die Welt in den Abgrund reißen würde. Es war bald soweit. Ihre Zeit lief aus.
Esmeray zog sich zurück. „Wenn wir eine Lösung finden, bin ich offen, mit euch mitzugehen. Wenn nicht ... Dann muss ich die Hexenwelt vor den Schatteneulen bewahren, und das bedeutet, dass ich das Amulett leider für mich nutzen muss."
Die Aussage vermittelte pure Kälte, obwohl sie alles durchdacht hatte. Der Wald begann zu knacken. Xenia weinte stumm. Ein vager Blick auf die Sanduhr bestätigte Roane, dass der Fluch gleich endete. Sie mussten sich entscheiden.
„Ich sehe das nicht ein." Mit einem entschlossenen Blick stand sie auf, die Augen fest auf ihre Mitschülerin gerichtet. Sie hatte Verantwortung zu tragen und eine geheime Pflicht, doch es musste eine Möglichkeit geben, wie sie alle den Fluch überstehen konnten. „Wir können nicht aufgeben, es gibt immer einen Weg! Vielleicht hat Jinx Recht. Vielleicht standen alle Hexen Mal vor diesem Problem. Aber ich weiß, dass der Fluch und die Prüfung damals nur eingeführt wurden, weil die Hexe Elviria die oberste Regel der Hexenschaft missachtet hat: Sie hat damals ebenfalls die Macht an sich gerissen, um alle vor den Schatteneulen zu beschützen - und verpasst, dass sie gemeinsam viel stärker gewesen wären. Damals wurden unzählige Hexen verletzt, also lass nicht zu, dass nun das Gleiche passiert. Die Urmächte hätten gewollt, dass die Hexen ihre Macht bündeln und Hand in Hand nach vorne gehen - daher lass uns das jetzt auch machen." Sie streckte ihr die Hand entgegen. „Das Amulett ist stark, vielleicht reicht seine Kraft für uns alle. Mach nicht den gleichen Fehler wie Elvira damals. Denn ich glaube, das ist der wahre Sinn des Fluchs: Dass wir erkennen, dass wir trotz unserer großen Kraft nicht allein sind und stets auf Zusammenhalt und unsere gemeinsame Kraft vertrauen."
Das Lagerfeuer knackte laut. Die Flammen züngelten wild zum Himmel. Roane hielt den Atem an. Die Junghexen wurden mucksmäuschenstill.
Die dunkle Hexe blickte auf alle drei Artefakte in ihren Händen. Dann auf die Sanduhr, deren letzte Körner durch die Öffnung rieselten. Und zu ihr, die mit zerkratztem Gesicht, zerrissenem Mantel und Tannennadeln im Haar darauf wartete, dass sie ihr vertraute.
„Was, wenn es nicht klappt?"
„Dann haben wir es wenigstens versucht."
Esmeray umklammerte das Amulett. Ihr Gesicht wurde undurchdringlich. Dann nickte sie. „Okay."
Mit großen Schritten kam sie auf sie zu und hob die Arme, um sie alle mit ihrem Schatten einzuhüllen. Der Sturm peitschte nun unablässig gegen ihren Schutzschild, der Wind wurde reißerisch - die Illusion des 13. Monats brach gleich zusammen. Die Bäume im Wald ächzten bereits, der Himmel grollte.
„Wir haben aber nur noch ein paar Minuten Zeit. Wir müssen unsere Kraft bündeln."
Sie schmiss die Artefakte zu Roanes neben das Lagerfeuer und wartete, dass die anderen es ihr gleichtaten. Diese zögerten. Esmeray schloss die Augen und seufzte.
„Leute, es tut mir leid, dass ich euch verraten wollte. Ich hatte große Angst und habe diese immer noch, aber in der Aussichtslosigkeit habe ich den falschen Weg gewählt. Das war nicht fair. Ich bereue es. Aber wenn wir durchkommen wollen, müssen wir jetzt zusammenhalten. Dann sehen wir weiter. Denn eure Freundin hat Recht", sie blickte zu Roane und große Achtung lag auf ihren Zügen. „Ich will nicht den gleichen Fehler wie Elvira damals machen. Könnt ihr mir je verzeihen?"
„Wenn du uns hier rausbringst - ja!" Koën schleuderte seine Artefakte auf den Boden und schnappte sich ihre und Roanes Hand, dann drängten sie sich alle zusammen. Trotz des Schattenschildes riss der Wind an ihren Haaren, spuckte ihnen Schnee und Eis ins Gesicht. Jinx warf als letzte ihre Feder ins Zentrum und ihre Sanduhr gleich hinterher, damit sie einen Blick darauf hatten.
Es waren nur noch knapp zwei Minuten Zeit. Der 13. Monat war um. Roane griff nach Jinx Hand und zog ihre Freunde näher zu sich, während die Hexen einen Zirkel bildeten.
„Leitet eure Macht in das Feld!", wies Esmeray sie an, die plötzlich die Ausstrahlung einer Anführerin hatte. Vielleicht würde sie das irgendwann auch sein - wenn sie dem Kodex der Hexen zu folgen lernte. „Ihr müsst stark bleiben, egal was passiert! Nur dann haben wir eventuell eine Chance!"
Roane duckte sich auf den Boden. Sie konzentrierte sich auf ihre magische Kraft, die in ihren Fingern kribbelte, und stellte sich vor, sie würde wie Lichter aus ihren Händen fließen.
„Verbunden zur Einheit, ein wahres Geflecht,
verschmelze die Zauber, das Bündnis ist echt.
Vereine die Kräfte, die Macht, die Magie,
entfessle die Stärke, groß wie noch nie!"
Die Hexe begann zu singen. Der Zauber hörte sich unbekannt an, als wäre er den Ältesten vorbehalten, doch gleichzeitig spürte Roane seine Macht. Angestrengt schickte sie all ihre Magie in die Mitte und schürzte die Augen gegen den Sturm. Die Artefakte begannen zu glühen. Die Lichter der Junghexen vermischten sich zu einem Strudel an Farben wie ein sterbendes Feuer. Die Hexe wurde lauter:
„Verbinde die Gaben, gib ihnen Kraft,
ein Bündnis der Stärke, im Dunkel erwacht!
Öffne die Pforten, bringe uns fort -
schicke uns alle an einen sicheren Ort!"
Die Welt um sie explodierte. Der Schatten versuchte, das Eis und die Zweige zu fangen, die durch die Luft jagten, als die Illusion vom 13. Monat zusammenbrach, doch er konnte sie nicht halten. Die Hexen schrien auf. Die Magie fiel auseinander. Das Amulett löste sich auf. Der Schatten starb. Dann entfachte ein Strahlen im Zentrum ihres Zirkels. Die Artefakte verschmolzen zu einer leuchtenden Sonne, die sie blendete, und Roane wurde von gleißendem Licht erfüllt.
Es fühlte sich warm an. Sicher. Geborgen. Das Zeichen der Hexenschaft erschien vor ihrem inneren Auge, wie ein zufriedenes Lächeln, dann wurde es fortgewaschen von Funken des Lichts und wich flackernder Dunkelheit. Es wurde ruhiger und kühler ...
„FROHES NEUES JAHR!", brüllten die Hexen. Ein Knallen ertönte, dann ein weiteres, als die Hexen ihre Lichter in den Himmel jagten. Die Luft wurde plötzlich erfüllt von Gläser-Klirren und aufgeregt-fröhlichem Tuscheln; Duft nach Apfelpunsch, geröstetem Kürbis und Marshmallows überströmte die Lichtung.
Roane öffnete die Augen. Dutzende Hexen standen glücklich versammelt um das Lagerfeuer und feierten.
Sie waren wieder zu Hause.
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