Schweres Gepäck
„Das kriegen wir schon hin." Jenna drückt mich an sich. „Glaub mir, ich weiß, wie es sich anfühlt, Jemanden zu verlieren, der einem viel bedeutet."
Meine Rückenmuskulatur versteift sich, trotz der warmen Umarmung und ich halte automatisch die Luft an. Mary.
Jennas ältere Schwester war bei einem Familienurlaub verschwunden. Sie war abends ausgegangen aber nie zurückgekommen. Die Familie hatte den Aufenthalt verlängert und alle Hebel in Bewegung gesetzt, um sie zu finden; es wurde Tag und Nacht gesucht. Acht Wochen lang. Ohne Erfolg.
Seitdem hat sich ihr Vater in seiner Arbeit vergraben und verbrachte noch mehr Zeit in Hotels im Ausland und das Antlitz ihrer Mutter, die mit ihren langen, aschblonden Haaren und der vornehm blassen Haut die Idealbesetzung der Eiskönigin abgibt, ist noch frostiger geworden, als es ohnehin schon war.
Jenna hat die kühle Schönheit ihrer Mutter geerbt, zum Glück aber nur äußerlich, charakterlich gleicht sie ihrem Papa; dem umtriebigen Projektplaner. Sie ist ein Paradebeispiel für ein extrovertiertes Organisationstalent und hat immer neue Aktionen am Start:
Eine Spendenkampagne fürs Tierheim, Müllsammelaktionen am Strand, Hilfspakete für die Ukraine. Jenna organisiert immer irgendetwas. Zur Not eben vier Tage Liebeskummer-Spontan-Urlaub für die beste Freundin. Mit den Kreditkartendaten und den Hotelmitgliedschaftsvorteilen ihres Dads ist zumindest Letzteres ein Klacks.
Doch seit Mary nicht mehr da ist, liegt da dieser Schatten in ihrem Blick, der ihrer Ausstrahlung das Strahlen und ihrem Gemüt die sonnige Unbeschwertheit raubt.
Jenna redet nicht darüber. Einmal sagte sie, es sei wie ein ewiger Albtraum, aus dem sie einfach nicht erwacht.
Ich würde so gern helfen, weiß aber nicht wie.
Ihr Zitronenshampoo steigt mir in die Nase und ich drücke sie so fest wie möglich, versuche, ihr den Halt zu geben, den ich selber brauche.
Ihr geht es wie mir.
Ein schaler Geschmack legt sich auf meine Zunge, so schlecht fühle ich mich dabei, meine Situation mit ihrer zu vergleichen. Denn was ist schon eine beendete Beziehung gegen den Verlust der Schwester?
David geht es ja gut, wenn ich mir die Fotos ansehe - zu gut. Aber was mit Mary ist, weiß kein Mensch. Wahrscheinlich ist sie ...
Ich schlucke und der eklige Geschmack ballt sich in meinem Hals zu einem fetten Kloß zusammen, der mir erneut die Tränen in die Augen treibt.
„Du brauchst Ablenkung!" Jenna streicht über meinen Rücken. „Genau wie ich."
Ich löse mich von ihr und blinzel sie unter den Tränen vorsichtig an.
Sie hat Recht!
Auf Gefühlsebene macht es wohl keinen Unterschied, wen man wie verloren hat.
Verlust ist Verlust. Und verdammt scheiße.
Ich seufze und nicke. „Ablenkung klingt prima."
Jenna drückt mich nochmal kurz, dann springt sie auf. Und wieder zeigt sich, wie sehr auf sie Verlass ist: Sie packt meinen Koffer schneller, als ich mir die Tränen trocknen kann.
Konzentriert scannt sie die Teile in meinem Kleiderschrank, zieht mit präzisen Griffen Bestimmte hervor und wirft sie in den Koffer.
Dazu erklärt sie fachmännisch: „Ich dachte, dass du Sommersachen brauchst, ist klar, denn wer will schon frieren, wenn ..." Sie pausiert kurz und beäugt kritisch eine hellblaue Bluse mit Rüschen am Ausschnitt und niedlichen Puffärmelchen.
„Er niemanden hat, mit dem er kuscheln kann?", beende ich den Satz mit einem betrübten Blick auf die fünf Kissen am Kopfende. David hatte sie sich zum Fernsehen immer in den Rücken gestopft und ich konnte dann meinen Kopf schön an seine Brust kuscheln.
„Wenn er stattdessen Sonne und Vitamin D tanken kann", korrigiert Jenna streng, aber ihr Blick wandert ebenfalls auf die Kissen, deren Mitte ein weißes Herzkissen mit der schnörkeligen Aufschrift I love you bildet. Es ist kitschig hoch zehn, doch David hatte es auf dem Jahrmarkt am Schießstand gewonnen und naja, wie das halt so ist; mir peinlich berührt in die Arme gedrückt. Zu unserer Verteidigung: Da waren wir zwölf.
Mit vierzehn meinte er dann mit schiefem Grinsen: „Das Ding ist sogar noch kitschiger als Rico's Diddelmäuse." David ist der Jüngste von drei Brüdern und sein Ältester, Rico, hatte in seiner Teenagerzeit jeden Monat ne neue Freundin am Start. Da die Erste ihm so eine Stoffmaus mit viel zu großen Füßen und Latzhose geschenkt hatte, fühlten sich die anderen wohl verpflichtet. Rico ist jetzt sechsunddreißig. Er lebt in Berlin und David sieht ihn einmal im Jahr; am zweiten Weihnachtsfeiertag. Seine Mäuse hat er hier in Glowe zurückgelassen. Auch der zweite Bruder, Olli, ist zwölf Jahre älter und ständig irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs. Davids Mutter hebt alles auf, was mit ihren Söhnen zu tun hat. Selbst die neunzehn Diddelmäuse sitzen noch alle auf ihrer Sofalehne aufgereiht, als warten sie darauf, dass Rico zurückkommt.
Ich hatte bei dem Vergleich gelacht und mit einem frechen Zwinkern erklärt: „Tja, vielleicht fange ich an, solche Herzen zu sammeln?"
„Nicht, wenn ich immer bei dir bleibe", hatte David erwidert und mich geküsst, bis wir beide aufs Bett gefallen sind und uns zum ersten Mal so nah gekommen waren, dass nichts mehr zwischen uns war, außer Liebe und Vertrauen, ok und einer Menge Schweiß.
Danach hatte David das Stoffherz begutachtet und mir erklärt: „Wenn ich das Teil für dich gemacht hätte, würde eine Songtextzeile draufstehen und die Schrift wäre blau und viel schöner- so wie deine Augen." Dann hatte er mich in seine Arme gezogen und wir hatten uns erneut geküsst.
Seitdem hatte ich an jedem Geburtstag, Valentins- oder Jahrestag auf so ein Herz gehofft. Aber das wird jetzt wohl Lou bekommen und nicht ich.
„Äh, egal woran du gerade denkst, Süße. Hier spielt die Musik; denn du willst in die Sonne."
Meine Wangen färben sich rot wie Jennas Haarspitzen, doch natürlich ist meine Beste darüber im Bild, dass David und ich nicht nur Händchen gehalten hatten.
Sie zieht mich am Handgelenk von den Kissen weg. „Feli, du musst dringend hier raus, wenn du auf andere Gedanken kommen willst."
„Ich habe nur an Diddelmäuse gedacht." Aber das dazugehörige Grinsen will einfach nicht gelingen. Es ist auch nur die halbe Wahrheit, denn wenn ich daran denke, was seine Hände alles ...
Stop!
Jenna hat Recht - ich muss schleunigst hier raus.
Während ich meinen verkorksten Plüsch-Mäuse-Herz-Erinnerungen nachgehangen habe, hat Jenna ganze Arbeit geleistet:
Im Koffer türmt sich ein Berg; aus Blusen und Tops, meiner dunkle Jeans, Sandalen und FlipFlops, einer Menge Kosmetikartikeln und leider auch der schwarzen, viel zu kurzen Shorts, für die mir den ganzen Sommer der Mut fehlte, sie anzuziehen.
Ich öffne den Mund, doch beim Blick in Jennas entschlossenes Gesicht, verlässt mich die Kraft zu protestieren.
Jedoch wäre sie nicht meine beste Freundin, wenn sie meine Gedanken nicht schon erraten hätte: „Keine Sorge, wir werden noch ausgiebig shoppen gehen - morgen; wenn wir dort sind." Und da war es wieder; das Funkeln in ihren Augen, das zeigt, dass sie es kaum erwarten kann.
„Wo geht es eigentlich hin?" Trotz ihrer Euphorie hatte ich mich noch keinen Zentimeter bewegt.
Überraschungen sind in Ordnung; bei Geschenken, die Form, Größe und Gewicht eines Buches haben. Bei Urlaubsreisen will ich schon gern vorher wissen, was mich erwartet - wenigstens ungefähr.
Ihre präzise gezupften Brauen heben sich und ihre Lippen schieben sich zu einer Art Kussmund zusammen. Sie kostet den Moment noch etwas aus, bevor sie mit aufgerissenen Augen kreischt: „Italien!"
Ich nicke langsam. In meinem Kopf reihen sich bunte Handtücher so dicht aneinander, dass man den Sand dazwischen nicht mehr sieht.
„Und zwar nach Venedig!" Jennas Augen werden groß wie Untertassen.
Anstelle der Handtücher bestaune ich nun ehrwürdige Kirchen, Paläste, Museen und Brücken, sehe bunte Märkte, hübsche Cafe's und romantische Gondeln umgeben von saphirblauem Wasser, rieche das Aroma von Cappuccino und Sonnencreme und merke, wie meine Mundwinkel nach oben klettern und tiefe Grübchen in meine Wangen bohren.
Anscheinend ist das genau das, was ich brauche. „Venedig klingt toll!"
„Und das Beste ist: wir fliegen noch heute Nacht! Also hopp, hopp, nicht, dass wir den Flug verpassen!" Jenna drückt den Deckel des Koffers nach unten und ich zerre den Reißverschluss eine Runde rum.
Jetzt geht es los! Meine Handflächen kribbeln aufgeregt, doch mit einem letzten Zögern sehe ich zum Bücherregal.
Undenkbar, dass ich ohne Bücher verreise. Doch da hinter jedem Buchdeckel eine Love Story lauert und ich darauf nun wirklich keinen Bock habe, drehe ich mich um, schnappe den Koffer und stapfe eilig zur Tür, bevor ich es mir anders überlege.
Und als ich mit dem schweren Teil und Jenna im Schlepptau die Treppe runtergepoltert komme, geschieht das nächste Undenkbare: Meine Mutter stoppt den Staubsauger.
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