8. Dezember - Das Lied des James Potter
James faltete und entfaltete das Pergament in seinen Händen zum hundertsten Mal.
Sie saßen in der Großen Halle beim Abendessen am Donnerstag und James hatte sich fest vorgenommen, Lily gleich sein Lied vorzutragen. Es hatte zehn Strophen und beinhaltete alles wesentliche, was er ihr sagen wollte. Auf Sirius' Hinweis hatte er die Zeile gestrichen, in der es um ihre Haare ging ("rot wie die Flammen meines Herzes, wenn ich dich sehe"), aber Remus' Bitte, apropos Flammen, das ganze Ding im Kamin zu versenken, hatte er ignoriert.
"Krone, wir sind nicht gegen dich", versuchte Remus gerade ein letztes Mal, ihn davon abzuhalten, sich lächerlich zu machen. "Merlin weiß, dass ich auch dumme Sachen für Sirius machen würde."
"Nicht so dumme, wie ich für dich", warf Sirius ein.
"Touché." Remus grinste in Richtung seines Freundes, dann wandte er sich wieder mit seinem besorgten Gesicht an James. "Aber du verkaufst hier deine Würde und das sollte wirklich nicht nötig sein."
James fummelte noch einmal am Rand des Blattes herum.
Das Ding war ja, er wusste, dass er sich lächerlich machte. Er war nicht blöd, er wusste, dass die ganze Schule über ihn lachte. Aber erstens war es jetzt eh schon zu spät, um ihre Meinungen noch zu ändern und zweitens würde er verdammt noch mal nicht aufgeben! Er hatte ehrliches Interesse an Lily! Mochte ja sein, dass sie ihn abwies, das war ja auch ihr gutes Recht, aber sie sollte wenigstens ihn abweisen, wie er wirklich war und nicht das verdrehte Bild, was sie von ihm hatte.
Sie kannte ihn nicht. Nicht wirklich. Sie hatte das Bild von einem Sportler, ein bisschen arrogant, vielleicht nicht zu Unrecht, dessen gesamte Persönlichkeit aus Quidditch und Schabernack bestand. Sie wusste nicht, dass er auch ruhig war, gerne Biografien las (vor allem über Quidditchspieler, aber hey), zeichnen konnte und dass seine Freunde für ihn wichtiger waren als alles andere auf der Welt.
Wenn sie diesen James nicht wollte, dann war das für ihn in Ordnung. Dann war er nicht ihr Typ oder was auch immer. Aber sie sollte diesen James abweisen und nicht den Idioten-James, hinter den sie noch nie geschaut hatte.
Ein aufgeregtes Lautwerden von Stimmen riss ihn aus seinen Gedanken und er sah auf, suchte die Quelle des Trubels. Er fand sie drüben am Tisch der Slytherins.
"Was ist passiert?" Er reckte den Kopf, ebenso wie Remus, Sirius, Peter und so ziemlich alle anderen um ihn herum es taten.
"Ich glaube, Regulus hat Avery einen Petrifikus Totalus verpasst", berichtete Peter aufgeregt. James blinzelte überrascht.
"Warum würde er das tun?", fragte er irritiert. "Sind die nicht befreundet?"
"Tu nicht so, als würdest du mir keinen Petrifikus aufhalsen, wenn ich etwas ausreichend Dummes sagen würde", wandte Sirius ein.
"Ok, fair", gab James nach. "Aber trotzdem."
Sie versuchten, noch mehr zu erkennen, aber jetzt waren die Professoren Slughorn und Flitwick bei der Gruppe angekommen und da der Slytherintisch am anderen Ende der Halle war, hatten sie keine Chance, herauszubekommen, was geschehen war. Nun, zumindest nicht ohne ein bisschen Arbeit.
"Gebt mir fünf Minuten." Peter erhob sich und beeilte sich, hinüber zum Hufflepuff- und Ravenclawtisch zu kommen, um die Leute, die näher dran saßen, zu fragen, was sie mitbekommen hatten. Nicht zum ersten Mal waren die restlichen drei Rumtreiber beeindruckt von Wurmschwanz' gigantischem sozialen Netz über nahezu alle Jahrgänge und Häuser.
"Regulus gibt sich immer als der perfekte Musterschüler", sagte Remus beeindruckt. "Ich wusste gar nicht, dass er andere Leute angreifen kann." Er stieß Sirius in die Seite. "Vielleicht glaube ich dir doch, dass ihr verwandt seid."
Sirius verdrehte die Augen.
"Reg ist großartig darin, zuzuschlagen, wenn man am wenigsten damit rechnet", brummte er. "Und auch darin, hinterher seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Wetten, er bekommt nicht mal Nachsitzen?"
James grinste.
"Klassisches jüngeres Geschwisterkind."
"Habt ihr mitbekommen, was passiert ist?", fragte jemand hinter James, dann ließ sich Mary neben ihn auf die Bank fallen. Im Schlepptau hatte sie Dorcas, Marlene und - James fuhr sich durch die Haare und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken - Lily.
"Noch nicht", erklärte Sirius, "aber Wurmschwanz ist schon unterwegs, es rauszufinden."
Dorcas schlüpfte auf den Platz, den Peter zurückgelassen hatte, Marlene lehnte sich über Sirius' Schulter und klaute sich eine Bratkartoffel von seinem Teller.
"Was haben wir denn hier?", fragte sie dann neugierig und griff über James hinüber. Für einen Moment war er irritiert, was sie meinte, dann realisierte er, was sie entdeckt hatte und er schnappte nach seinem Notizzettel, war aber nicht schnell genug.
"Lily Evans, deine Augen sind wie Sterne / Lily Evans, ich mag dich so gerne", las sie laut vor. James war sich sicher, dass er rot wie eine Tomate war. So laut vorgelesen war er doch nicht mehr so überzeugt von seinen dichterischen Fähigkeiten. Marlene sah ihn jetzt mit einem breiten Grinsen an. "Ist das ein Liebesgedicht?"
"Es ist ein Liebeslied", korrigierte Sirius süffisant. James' Gesicht wurde noch heißer und er versuchte noch einmal, danach zu greifen, aber Marlene hielt es hoch, sodass er es nicht zu fassen bekam. Stattdessen schnappte es sich jetzt Mary.
"Lily, Darling, pass auf:" Sie räusperte sich. "Deine Uniform und dein Hut / all das steht dir so gut / Jeden Tag hoff ich, dass ich dich erblicke / Weil ich mich an dir entzücke / Und wenn ich dich nicht seh' / Tut mein Herz so weh." Sie unterbrach sich selbst vom Weiterlesen, weil sie inzwischen so sehr lachte. James verschränkte die Arme, wagte es aber nicht, über seine Schulter zu schauen, um Lilys Gesicht zu sehen.
"Ihr seid fies", sagte Dorcas jetzt, "das ist mit Melodie bestimmt viel besser." James warf ihr einen Todesblick zu, denn so wie er sie kannte, war das sicher sarkastisch gemeint. "Gib mal her, ich will auch."
Mary reichte das Blatt an sie weiter und Dorcas scannte es mit den Augen, dann sah sie hoch.
"Ist das schon Mobbing, was wir hier machen?", fragte sie dann.
"Nein, das ist gerechte Strafe", entschied Remus und sah über ihre Schulter. "Ich meine: Wenn du mit deinem Zauberstab wedelst / frag ich mich, ob du weißt, dass du mein Herz einfädelst? Wenn wir ihn nicht öffentlich bloßgestellt hätten, dann hätte er es selbst getan."
Sirius schenkte James einen Blick, der beinahe ein wenig mitleidig war.
"Wolltest du ihn nicht gerade noch dazu überreden, seine Würde zu behalten?", fragte er.
"Welche Würde?" Dorcas schmunzelte. "Wer in der Großen Halle B-Boyt, hat nichts mehr zu verlieren. Genauso wenig, wie wer mit der ernsthaften Intention, es vorzutragen, schreibt: Dein Lächeln bringt mein Herz zum Flattern / wie gerne würde ich deins ergattern / Und wenn du mich auch jeden Tag verhonst / bist du doch meine Sonne und mein Mond."
James sah in die Runde seiner Freunde, die alle einen großen Spaß daran hatten, sich über ihn lustig zu machen und entschied, dass er sich nicht dafür schämte, das Lied geschrieben zu haben. Ja, vielleicht war er nicht der beste Dichter. Oder der beste Sänger. Aber er meinte jede dieser Zeilen ernst und in Romanen war es immer furchtbar romantisch, wenn man der Frau, die man mochte, ein Lied schrieb, warum also nicht auch im realen Leben?
"Ich liebe nur dich und sonst keine", zitierte Mary, die jetzt wieder das Lied in die Finger bekommen hatte, "also lass mich bitte nicht alleine."
Dennoch war James froh, als Peter wieder auftauchte.
"Wurmschwanz, sehr gut, bitte beende die James-Potter-Mobbing-Runde", sagte er laut. Peter sah in die Runde und schien zu versuchen, herauszubekommen, womit alle James getriezt hatten und aus welchem Grund.
"Oh, ok, ja wir sind fertig." Mary legte den Bogen Pergament mit dem Lied wieder vor James auf den Tisch und drehte sich zu Peter um. "Gib uns den Tratsch!"
"Also." Peter quetschte sich zwischen Dorcas und Remus zurück auf die Bank. "Anscheinend hat Avery versucht, einen Drittklässler einzuschüchtern, der einen muggelstämmigen Freund aus Ravenclaw mit an den Tisch gebracht hat. Avery hat seine übliche Masche abgezogen und nachdem sich beide geweigert haben, zu gehen, versucht, den Jungen aus Ravenclaw zu verhexen. Anscheinend ist Regulus in der Zwischenzeit ein Rückgrat gewachsen und er hat eingegriffen, bevor etwas passieren konnte."
James konnte nicht anders, als ein bisschen säuerlich zu sein. Sicher, es war gut, dass Regulus sich für jüngere Schüler einsetzte, es machte ihn bestimmt zu einem besseren Menschen und so weiter und so fort. Aber es besserte auch erheblich seine Chancen bei Lily auf. War das der Grund, warum er es gemacht hatte? Hatte Regulus tatsächlich eine Riege zukünftiger Todesser gegen sich aufgewiegelt, um eine dumme Wette zu gewinnen? Sicherlich nicht. Oder?
Die Gruppe entbrannte in wilde Diskussion und James traute sich endlich doch, über seine Schulter zu schauen. Lily musterte ihn nachdenklich, dann setzte sie sich neben ihn an den Tisch und stahl sich ebenfalls eine Bratkartoffel von Sirius' längst vergessenem Teller.
"Hättest du dich selbst auf einem Instrument begleitet?", fragte sie ohne Kontext.
"Hm?"
"Oder hättest du es Freestyle gemacht?"
James zuckte mit den Schultern.
"Hätte ich mit einer Variante mehr bei dir punkten können?", erkundigte er sich, nicht ohne eine gewisse Selbstironie. Lily grinste.
"Nope", sagte sie. "Ich versuche nur herauszufinden, wie lächerlich du dich gemacht hättest. Du weißt schon, je mehr du dich selbst bloßstellst, desto weniger Rache muss ich nehmen."
James verdrehte die Augen.
"Tatsächlich war ich noch dabei, die anderen zu überreden, mich a cappella zu unterstützen", scherzte er. Auch wenn das seine Performance eher verschlechtert hätte, vermutlich. Sirius hatte eine ganz schön große Klappe bezüglich James' Singstimme, dafür dass seine eigene noch schlimmer war. Und auch Remus und Peter waren keine geborenen Chorknaben.
Lily lachte. James blinzelte überrascht. Lily...lachte? Über einen seiner Witze? Sein Herz schlug wie wild in seiner Brust.
"Das wäre in die Annalen von Hogwarts eingegangen", meinte sie. Dann deutete sie auf das Pergament, welches James schnell zerknüllte, um es in seinem Mantel verschwinden zu lassen. "Ich wusste gar nicht, dass du zeichnest."
Auf halbem Weg in seine Tasche hielt James' Hand inne.
"Was?", fragte er überrascht. Vorsichtig streckte Lily ihre Hand aus, entzog ihm das Papier und strich es auf dem Tisch wieder glatt - mit der Schrift nach unten. Und der anderen Seite, die James im Unterricht vorhin genutzt hatte, um seine Langeweile zu bändigen, nach oben.
"Es ist ziemlich gut", sagte sie, nachdem sie es einen Moment gemustert hatte. "Als hätte ein Hirsch lange genug still gehalten, um dich ein Portrait zeichnen zu lassen." Sie grinste und James grinste auch, aber ziemlich dümmlich.
Niemals würde irgendjemand erfahren, wie viele Stunden er im Schlafsaal als Hirsch vor dem Spiegel gestanden und seine Gesichtszüge gemustert hatte, um die Proportionen richtig hinzubekommen. Inzwischen konnte er Hirsche wahrscheinlich im Schlaf zeichnen.
"Es ist ein Selbstportrait", erklärte er und gab sich Mühe, es wie einen Scherz klingen zu lassen. "Das Geweih steht für meinen -"
"- uuund das Gespräch ist beendet!" Lily stand abrupt auf, klopfte auf den Tisch, schnappte sich ihren Umhang und verschwand. James blinzelte überrascht. Was?
"- Spitznamen."
Und dabei hatte er gerade das Gefühl gehabt, Fortschritte zu machen.
Shoutout an meine Schwester, macawroom, die mit heller Begeisterung und grandiosen Beiträgen reagiert hat, als ich sie gefragt habe, ob sie Lust hätte, ein paar extrem cringey Zweizeiler für ein qualitativ sehr schlechtes Liebeslied zu schreiben. Große Teile des credits für die Zitate aus James' Lied gehen also an sie.
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