46 - Ein Jahr später
Ich krame in einer alten Kiste, die ich heute morgen in einer Ecke meines unordentlichen und viel zu vollgestellten Zimmers gefunden habe. Sie ist bis an den Rand gefüllt mit alten Bildern, Texten, Briefen und Fotos.
Mit jedem weiteren Gegenstand, den ich jetzt aus den Tiefen der Schachtel ans Tageslicht befördere und neben mich auf die Bettdecke lege, kommen alte Erinnerungen hoch. Ein Bild, das ich vor Jahren im Kunstunterricht gezeichnet habe, ein Lesetagebuch zu einer Schullektüre in der 7. Klasse. Einige Briefe von meiner Brieffreundin aus England und eine Geschichte, die Marly und ich zusammen geschrieben haben, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben. Sie hatte damals schon ein unglaubliches Talent, was das Schreiben und Formulieren von Texten betraf. Neben ettlichen weiteren Briefen, Zeichnungen, Fotos und anderen Texten fällt mir schließlich auch ein gefalltetes Papier auf den Schoß. Es ist leicht gewellt, wie, als wäre es nass geworden und anschließend wieder getrocknet und riecht nach frischer Erde. Ich fallte es vorsichtig auf und streiche es glatt. Als ich die ersten Worte lese, weiß ich sofort, wofür ich diesen Text vor einem Jahr geschrieben habe.
Ich könnte Ihnen jetzt hier erzählen, wie unglaublich schmerzhaft dieser Moment war, als ich am Telefon von Marlys Mutter erfahren habe, dass sie gestorben ist. Und wie schrecklich die vergangenen Tage für mich waren, wie unbeschreiblich diese plötzliche Leere nach ihrem Tod in mir war. Und dass ich jede Nacht wachliege und an sie denke.
Doch Marly hätte - wie wir alle wissen - nicht gewollt, dass ich Ihnen hier eine Trauerrede im wortwörtlichen Sinn halte.
Aber was sie so genau von uns hören will, hat sie mir zumindest nie gesagt. Also habe ich Ihnen eine Geschichte mitgebracht, die Marly und ich, lange bevor sie ihre Diagnose erhalten hat, gemeinsam geschrieben haben.
"Es gibt breite Straßen und schmale Pfade.
Es gibt Wege, die führen einen hoch hinaus und andere, die führen einen tief ins Tal hinab.
Es gibt Trampelpfade durch den Wald und geteerte Autobahnen.
Es gibt Wege, die führen nach rechts und andere, die führen nach links.
Es gibt Wege, die schon hunderte Jahre alt sind und welche, die gerade erst gefunden wurden.
Es gibt nicht den einen Weg, sondern hunderte, tausende, Millionen Wege auf dieser Welt.
Und jeder Mensch kann seine eigene Reihenfolge dieser Wege ablaufen, die zuvor noch niemand so gelaufen ist. Dann ist es sein Weg. Jeder Mensch wird sich in manchen Momenten neue Pfade durchs Unterholz bahnen, denen später wiederum andere Menschen für ein kurzes Stück folgen. In anderen Momenten wird er breiten und altbekannten Pfaden, die schon etliche Menschen vor ihm gelaufen sind, folgen.
Doch niemand kann seinen Weg verlassen, jeder Schritt, den man setzt, ist richtig und bringt einen weiter - auch, wenn es anfangs vielleicht nicht so scheinen mag.
Es gibt nicht den einen Weg, den man verlassen oder wieder rückwärts laufen kann.
Denn jeder Schritt ist richtig und bringt einen vorran."
Marly hat einen sehr schweren und kurzen Weg erwischt - warum, wissen wir alle hier leider nur zu gut. Aber dennoch hat Marly das Beste daraus gemacht und nie aufgegeben. Sie hat immer gekämpft, sich durchgebissen, ihre Diagnose nach außen hin mit Fassung getragen und - meiner Meinung nach am beeindruckendsten - hat sie uns immer Hoffnung und Zuversicht geschenkt. Sie hat bis zum Ende versucht, das Beste aus ihrem Leben zu machen und es in vollen Zügen zu genießen. Und wir sollten uns ein Beispiel an ihr nehmen; wir sollten auch versuchen, das Beste aus unserem Leben zu machen und es in vollen Zügen genießen - man weiß nie, wann der eigene Weg endet.
Ich weiß schon jetzt, dass ich Marly nie vergessen werde - ich werde an ihre wunderschönen Augen denken, wenn ich jemanden mit grünen Augen sehe. Ich werde an ihr herzliches und natürliches Lachen denken, wenn ich jemanden lachen höre. Ich werde an ihre Stimme denken, wenn ich mir die Bücher durchlese, die wir uns vorgelesen haben. Ich werde an sie denken, wenn ich in unserem Lieblingscafé sitze. Ich werde an sie denken, wenn ich mir all die Filme anschaue, die wir zusammen gesehen haben. Ich werde an sie denken, wenn ich die Kleider trage, die wir zusammen gekauft haben. Ich werde an sie denken, wenn ich den Gesang der Vögel höre, dem wir so gerne gemeinsam gelauscht haben. Ich werde an sie denken, wenn ich mit Freunden am Lagerfeuer sitze, wie wir es so oft getan haben. Wenn ich in den Sternenhimmel aufblicke, wie wir es so auf getan haben. Wenn ich die Straßen entlang laufe, durch die wir gemeinsam sie lebensfroh getanzt sind. Wenn ich das Prasseln des Regens höre, dem wir so oft gelauscht haben.
Ich werde Marly nie vergessen - ich werde mich an ihren Mut, ihre Hoffnung, ihre innere Kraft und ihre Lebensfreude erinnern und mir ein Beispiel daran nehmen.
Ich werde dich nie vergessen, Marly - und bis wir uns irgendwann wiedersehen: Ruhe in Frieden.
Neue Tränen fallen auf das Papier, während ich die Rede, die ich bei Marlys Beerdigung gehalten habe, lese und die schmerzhaften Erinnerungen an Marlys Tod und die Wochen und Monate danach in mir hochkommen, die ich so lange verdrängt hatte. Ich versuche, die Gedanken daran zu verdrängen, doch wie als wäre damit der Damm gebrochen, übermannen mich die Erinnerungen daran mit voller Wucht.
Und als ich dann lange Zeit später wieder aufblicke, erinnert mich nahezu alles in meinem Zimmer wieder an diese Wochen. Das Foto von Marly und mir, das ich mir zwei Tage nach ihrem Tod ausgedruckt und aufgehängt habe. Der Bleistift, mit dem ich meinen letzten Brief an sie geschrieben habe. Der Blumentopf, über den ich gestolpert bin, nachdem ich von ihrem Tod erfahren habe. Das geblümte Oberteil, das ich anhatte, als mich ihre Mutter anrief und mir von ihrem Tod erzählt hat. Und die an die Scheibe prasselnden Regentropfen, denen wir davor so oft gemeinsam gelauscht haben.
Ich wische mir Tränen aus dem Gesicht und streiche ein letztes Mal über den Zettel. Dann falte ich ihn sorgfältig und lege ihn neben mich auf das Bett zu den anderen Gegenständen aus der Schachtel.
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