32 - Samstag, 27. Mai
Ich habe Angst. Immer noch. Schon wieder.
Ich habe Angst vor meinem Tod. Ich habe Angst davor, meine Familie alleine zu verlassen. Angst davor, meiner Familie und meinen Freunden mit meinem Tod weh zu tun.
Ich kann meine Familie doch nicht alleine lassen! Meine Eltern sitzen unschlüssig im Wohnzimmer herum und jedesmal, wenn ich z. B. meine Tante sehe, verabschiede ich mich danach so, dass es eine Verabschiedung für immer hätte sein können.
Mein kleiner Bruder distanziert sich immer mehr von mir. Das ist so schrecklich! Ich würde so gerne meine letzte Zeit mit ihm genießen, aber wie, wenn er mich nicht einmal mehr in sein Zimmer lässt oder oft das gemeinsame Abendessen meidet? Unsere Gespräche bestehen nurnoch aus "Kann du mir bitte das Wasser reichen?" und "Lass mich in Ruhe!". Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann.
Meine Eltern versuchen zwar, meine letzte Zeit noch so schön wie möglich zu gestalten, aber ich finde, man merkt ihnen an, dass sie auch langsam am Ende ihrer (innerlichen) Kräfte sind. Ich glaube, sie wünschen sich in manchen Momenten fast, dass dieses Unwissen, wann ich sterbe, und diese ständige Angst um mich eine Ende findet. Vielleicht ist es für sie sogar noch viel schlimmer als ich mir vorstellen kann - seit immerhin schon fast zwei Monaten müssen sie das jetzt schon aushalten.
Meine beste Freundin ist die einzige, die noch an mich glaubt, mich wie davor behandelt. Die mit mir über Jungs redet, die kitschigsten Mädchenfilme anschaut und sich mit mir über die schlechtesten Witze totlacht. Sie ist die einzige aus meinem näheren Umfeld, die mir wirklich eine wunderschöne letzte Zeit bereitet.
Und nein - ich habe meine Klasse nicht vergessen. Der Abend am Mittwoch war wunderschön! Am Donnerstag habe ich euch ja meinen ersten Tag ohne Perücke beschrieben - und da musste ich am Mittwochabend nach dem Theater die ganze Zeit drandenken...
Denn wisst ihr, was mir da irgendwie besonders aufgefallen ist? Solange ich "normal" bin, werde ich gemobbt, aber sobald ich ernsthaft krank bin, wollen alle meine besten Freunde sein, mir eine schöne Zeit machen oder etwas von der Aufmerksamkeit, die mir meine Mitmenschen plötzlich entgegen bringen, abbekommen.
Irgendwie hoffe ich langsam doch, dass es bald aus ist - mein Bruder, meine Eltern... Wie lange halte ich das noch aus? Wie lange muss sie noch leiden lassen? Müssen sie wirklich noch 496 Stunden leiden? 496?
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