Wolfskraut
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Wolfskraut: Bannt Geister und
Dämonen. Und manchmal
auch schwierige Ehefrauen.
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Wenn man wusste, dass ich falsch gelegen hatte, ergab alles deutlich mehr Sinn. Hauptindiz war das Messer. Camil Roussex war zuerst mit inem Messer gefoltert worden. War es so weit hergeholt, dass die Klinge bereits vergiftet war, ehe der Mörder sich dazu entschlossen hatte, ihr das Gift einfach einzuflößen? Ich hatte die Klinge gesehen, die Cini verletzt hatte: An ihr hatte das Gift selbst nach Tagen im Moor noch gehaftet.
Bedachte man, dass Camil vor Cini gestorben war, musste der Mörder bei Cinis Angriff bereits gewusst haben, dass das Gift zu langsam durch Wunden wirkte. Warum es also noch einmal bei dem Mädchen versuchen?
Es sei denn, es war keine Absicht gewesen. Ein Kaar-verdammter Unfall. Es war genug, dass ich meinen Kopf wiederholt gegen eine harte Oberfläche schlagen wollte.
Alles, was Cini mit Moira und Camil gemein hatte, war der Angreifer. Und der befand sich in diesem Hof und dazu auch noch im Besitz eben jenes Messers. Es ließ mir in den folgenden Tagen genauso wenig Ruhe wie Moira, Die sah ich jede Nacht in diesen merkwürdigen Träumen. Ich war inzwischen dazu übergegangen, nicht mehr neben ihr zu warten, bis der Mörder in Sichtweite kam. Ich versuchte, ihn im Garten zu erwischen, denn sobald er ihre Zimmertür hinter sich schloss, wachte ich auf. Doch der Weg war zu weit. Die Nacht war zu dunkel. Und keiner der Diener oder der Soldaten hörte mich, wenn ich ihnen zurief.
Ich hatte schon von Geistern gehört. Seelen, die nach ihrem Ableben in einem unaufmerksamen Moment Kaars zurück durch den Schleier schlüpften und versuchten, wieder einen Körper zu bekommen. Aber Moira schien wenig Interesse an meinem Körper zu haben. Tatsächlich sabotierte sie eher seine Instanthaltung, indem sie mir meinen Schlaf stahl.
Gleichzeitig rückte Yessis Geburtstag näher und ich gedachte ihn für meinen Vorteil zu nutzen. Die Feier war die perfekte Gelegenheit, um sich Lionas Gemächer einmal anzusehen. Weil es draußen Tag für Tag erträglicher wurde, würde unten im Hof gegessen und getanzt werden, denn wirklich jeder war eingeladen. Auch ich, wie Lichi mich nicht vergessen ließ.
Aber wozu war man Nevanam, wenn man nicht erfolgreich eine Magenverstimmung vortäuschen konnte?
Der Morgen brach an und mit ihm eine neuerliche Bestätigung, dass Yessis Bruder während seiner letzten Tage in der Wildnis immer noch keine Krähe gezähmt oder Briefpapier selbst geschöpft hatte. Und obwohl es unsinnig war, sich um einen vollkommen Fremden Sorgen zu machen, hoffte ich, dass er noch ein klein wenig länger fort bleiben würde. Ich hatte kein Motiv und nur für den Fall, dass ich falsch lag, waren er und Yessi in größter Gefahr, so lange ich den Dolch nicht gefunden hatte.
Oder den freilaufenden Mörder.
Jemand, den die Meisten außer mir irgendwie verdrängt hatten. Alle waren mit den Festlichkeiten beschäftigt, die eine größere Anspannung auf das Haus legte, als der Flugechsen-Angriff. Liona war aus ihren Gemächern gekommen und hatte die Planung übernommen. Sie hatte die Autorität von einem Feldwebel und ließ mich Madame Acó vermissen.
Alle anderen standen unter Druck. Spät abends hatte ich sogar Yessi mit Lichi streiten sehen, was noch nie vorgekommen war. Sie hatte Lorik Hellsbar als alten Sack bezeichnet, was nicht mehr ganz so komisch wirkte.
Auch am nächsten Tag hatte sie noch furchtbare Laune, als sie meine Tür aufriss, kaum da ich in die Sichtweite des Fensters kam. „Er ist wieder wach!"
So wie sie das sagte, wusste ich nicht ganz, ob das etwas Gutes war oder nicht. Mit aller Ruhe, die ich mir in den letzten Tagen so mühsam antrainiert hatte, wechselte ich meinen tragenden Arm und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Zu meiner Überraschung war sie kühl.
Mit einer ungehaltenen Bewegung schlug Lichi sie weg und griff mich stattdessen am Kragen meines Mantels, um mich ins Innere zu zerren. Dass dabei beinahe der komplette Inhalt meines Gartenganges auf dem Boden landete, störte sie auffällig wenig.
„Bares. Der Hund! Lissa war eben hier. Er ist eben wieder aufgewacht." Sie sprach langsam und deutlich, als fürchte sie, dass ich meine eigene Sprache verlernt hätte.
Oh. OH!
Ein Felsblock der Größe des Südgebirges rollte sich von meiner Seele. Das bedeutete, dass mein Gegenmittel funktionierte. Dass Cini wahrscheinlich ebenfalls aufwachen würde und mir vielleicht so viele meiner Fragen beantworten konnte.
Ich sah einen Funken ähnlicher Erleichterung im Gesicht meiner Kammerzofe, doch sie begrub es durch angespannte Rastlosigkeit. Bevor ich sie fragen konnte, worüber sie mit Yessi gestritten hatte, dass es sie in so finstere Stimmung versetzte, sprach sie bereits weiter.
„Wir werden das heute Abend feiern müssen!", erklärte Lichi und klang dabei, als wolle sie ihre Sorgen ertränken, während ich meinen Korb vor ihr in Sicherheit brachte, „Andrew braut eines der besten Zuckerbiere und ich weiß genau, dass Mahara noch einen heimlichen Vorrat für die Bediensteten weggeschlossen hat."
Die Vorstellung, was Madame Acó zu diesem Vorschlag zu sagen hätte, ließ mich lächeln. In Eslaryn gab es Honigweine und klebrige Pflanzensäfte, die einem schnell den Appetit verderben konnten, wenn man sich nicht im Griff behielt. Nicht, dass Isabella oder ich jemals mehr als ein Glas serviert bekamen.
Heute würde es allerdings nicht anders sein. So verlockend es auch klingen mochte. Wenn ich irgendwo einbrechen wollte, brauchte ich meine Sinne beisammen. Mehr als sonst im nüchternen Zustand.
So versprach ich Lichi stattdessen, dass ich gleich nach dem Hund sehen würde, ehe ich mich den letzten Vorbereitungen widmete. (Sie sagte dazu nichts, außer einem mürrischen Nicken.)
Tatsächlich entpuppte es sich jedoch schwieriger als gedacht, sie loszuwerden. Ich hatte ehrlich keine Ahnung, wem sie die Kleider aus den Rippen leierte, aber als ich schließlich aus dem Stall zurück in mein Zimmer kam, erwartete mich dort wunderschönes rotes Kleid, dessen fester Stoff mit Stickereien verziert worden war.
Mit einem halb unterdrückten Seufzen schob ich es auf dem Bett zur Seite. Yessi würde auf seiner eigenen Geburtstagsfeier sein, also hatte ich dort nichts verloren. Wenn ich wieder normal mit ihm reden oder Moira (-s Geist) aus meinen Träumen verscheuchen wollte, musste ich einen Mord aufklären.
Mit einem kleinen sehnsüchtigen Blick verschloss ich beide meine Türen und legte mich neben das Kleid aufs Bett. Ich würde warten müssen, bis die Feier in vollem Gange und einige Zuckerbier bereits geleert waren. Ich konnte die ersten Gäste von meinem Fenster aus sehen, wie sie die Bänke füllten und sich lautstark unterhielten. Ihr Lachen hallte über den ganzen Hof und erweckte in mir die Sehnsucht nach meinen Freunden.
Lichi kam, klopfte und ging wieder, als ich ihr erklärte, mir ginge es nicht gut. Die Diskussion dauerte beinahe eine halbe Stunde. Danach fühlte ich mich tatsächlich so erschöpft, dass ich prompt auf meinem Bett einschlief.
Ich wurde zu dem grölenden Gesang dutzender Stimmen wach, die in ihrer eigenen Sprache Yessi ein weiteres wundervolles Lebensjahr wünschten, was aus meiner Sicht nur möglich wäre, wenn er dieses Land verließ, bis ich den Mörder gefasst hatte.
Ein wenig neben mir, begann ich meine Arzneimitteltasche zu packen. Ein Hufnagel flog hinein, dicht gefolgt von einem Seil und einer klirrenden Phiole voll Vergiss-mich. Es war bereits mehr als ein Jahr her, dass ich das letzte Mal irgendwo eingebrochen war. Und noch nie alleine. Jac hatte immer meinen Rücken gedeckt. Jac, der vielleicht versuchte, mich zu orten und sich wunderte, warum ich sein Geschenk zerstört hatte. Jac, den ich erst wiedersehen würde, wenn ich den Mörder gefasst hatte.
Aber dazu musste ich den Dolch finden. Vor der Tür hinaus in den Garten zögerte ich. Mein Herz trommelte in meinen Ohren und als ich die Finger nach der Klinke ausstreckte, bebten sie so stark, dass ich sie zurückzog. Was würde ich machen, wenn ich den Dolch wirklich in Lionas Zimmer fand?
Oder noch Schlimmer: Was, wenn der Dolch nicht dort war, aber ich gefunden werden würde?
Yessi hatte explizit gesagt, dass er nicht wollte, dass ich ihr Zimmer durchsuchte. Dass es die Schwierigkeiten, in die ich uns alle bringen würde, nicht wert wäre. Und hatte ich nicht aus dem Angriff gelernt?
Ich ballte die Hand zur Faust. Nein. Jetzt war keine Zeit für kalte Füße. Jetzt war der Zeitpunkt, um herauszufinden, was Liona mit den merkwürdigen Vorkommnissen in dieser Grafschaft zu tun hatte.
Gerade drehte ich den Schlüssel im Schloss um, als zwei Stimmen direkt davor laut wurden.
Vor Schreck fuhr ich herum und presste meinen Rücken gegen das Holz, als erwarte ich Einbrecher. Meine Brust hob und senkte sich so rapide, dass ich die ersten Worte dort draußen nicht verstand.
„Das kannst du nicht machen!"
Ich?
Nein, nicht ich. Über mein klopfendes Herz hinweg lauschte ich nach Schritten, die niemals kamen. Sie hatten nicht zu mir gewollt. Sie versperrten mir einfach so meinen Weg nach draußen.
Verdammt.
Ich lehnte rückwärts den Kopf an die Tür. Die Stimme war fast zu schrill, um sie wiederzuerkennen. Zu wem auch immer sie gehörte, die Frau war außer sich und hatte keinerlei Probleme, dies deutlich zu machen.
„Wenn sie zur Abwechslung mal die Wahrheit gesagt hat, stecken wir in riesigen Schwierigkeiten. Ich will das lieber früher als später wissen."
Und das war Yessi. Er gab sich vielleicht alle Mühe, um ruhig zu klingen, aber ich hörte die Spannung hinter jedem Wort.
Ganz vorsichtig schob ich mit den Fingerspitzen den dunklen Vorhang meines Fensters ein Stück zur Seite und spähte hinaus, um besser erkennen zu können, wer an seinem Geburtstag wirklich mit ihm streiten wollte. Auch, wenn ich es bereits ahnte.
„Wir steckten schon in riesigen Schwierigkeiten, als du die Hexe entführt hast."
Autsch. Ich gab Liona selten gerne recht, aber da hatte sie einen guten Punkt. Egal, wer was getan hatte, Yessi war nicht unbedingt in der Position zu urteilen.
Jemand bewegte sich draußen und ich ließ den Vorhang sofort wieder fallen.
„Sie ist keine Hexe und das weißt du auch." Yessis Ungeduld verfolgte ihn, als er sich einige Schritte hinter seiner Frau von meiner Tür entfernte.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Sie durfte das Fest nicht verlassen! Ich brauchte ihr Zimmer unbeaufsichtigt!
„Sie hat Magie, sie ist eine Hexe. Ich habe eine Krone und bin eine Königin, aber das vergisst du ja auch immer wieder", schnappte sie zurück.
Mit einem Augenrollen stieß ich mich von der Tür ab und marschierte quer durchs Zimmer zu der anderen hinüber. Zeit für Plan B. Die Köchin war bestimmt noch in der Kochstube und würde eine passende Ablenkung finden.
Auf leisen Sohlen schlich ich mich durch den Flur und fand meine Hoffnung schnell bestätigt. In der Küche brannte noch Licht.
„Kaliee!", die Köchin zuckte gehörig zusammen, als sie mich im Türrahmen erblickte, „Warum bist du nicht bei allen anderen auf dem Fest?" Ihr starker Akzent rollte wie ein dumpfes Gewitter über meine Sprache. Lichi gab ihr erst seit wenigen Wochen Unterricht in unserer Sprache, doch die Frau war ein wahres Wunder. Ich hatte sie bei mehreren Besuchen ihrer verletzten Tochter meine Sprache sprechen hören und das löste in mir mehr Gefühle aus, als ich einzeln verarbeiten konnte.
Sie trug eine dreckige Schürze und hatte ihre Bluse über die Ellenbogen hochgekrempelt und selbst in ihrem Gesicht waren Puderzuckerspuren. Das Ergebnis ihres Schaffens stand in Form einer leicht schiefen Torte auf dem Tisch neben ihr.
Mit einem kleinen Lächeln betrachtete ich ihr Kunstwerk. „Du bist doch auch nicht dort."
Mahara klopfte ihre Schürze aus. „Aber ich werde gleich wieder dorthin gehen. Eine Überraschung kann nicht vorher mit dem Geburtstagskind abgesprochen werden und braucht manchmal ein bisschen länger. Hilfst du mir, die Torte zu tragen, oder muss ich erst zwei Männer rufen?"
Ich warf dem wackligen Gebilde einen skeptischen Blick zu. Das schrie förmlich nach Katastrophe. Aber für den Moment kam ich nicht aus dieser Situation heraus.
„Wenn du sie ungesehen nach draußen bringen willst, wirst du dich noch gedulden müssen", erklärte ich mit einem Nasenrümpfen, „Liona streitet sich gerade mit Yessi vor meiner Zimmertür."
Sofort verengten sich Maharas Augen zu giftigen kleinen Schlitzen. In einer energischen Bewegung zog sie sich die Schürze über den Kopf und stapfte zur Tür. „Nicht einmal an seinem Geburtstag-..." Sie brach ab, ehe sie etwas wirklich Unhöfliches sagte.
Meine Mundwinkel zuckten unkontrolliert, als ich ihr in die Nacht folgte. Von Mahara erwartete ich durchaus, dass sie auch jemandem wie Liona die Meinung sagen würde.
Und ich wurde nicht enttäuscht.
Auf die letzten Schritte ließ ich mich zurückfallen, um das Schauspiel aus sicherer Distanz beobachten zu können. Kein Grund, in einen Mord verwickelt zu werden. Von der Hausecke aus spähte ich zu dem immer noch streitenden Paar, das nun durch eine aufgebrachte Köchin gestört werden würde.
„Meine Herrschaften", sie beide schraken auseinander, als wären sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Doch Mahara ließ sich nicht ausbremsen. Rückblickend konnte ich sogar von Glück sprechen, dass sie nicht die Küchenrolle mitgenommen hatte. „Dort hinten finden Feierlichkeiten nur zu euren Ehren statt und ihr steht hier drüben! Jeden Moment könnte zum letzten Tanz aufgerufen werden und man wird eure Abwesenheit bemerken!"
Inzwischen war sie bei den beiden angekommen, die Hände entschlossen in die Seiten gestemmt.
Liona warf ihr einen kühlen Blick zu. „Ich denke, ich habe genug für heute Abend. Der König darf tanzen, mit wem er will."
Und Yessi sah tatsächlich so aus, als würde er nichts lieber als das tun. Er hatte schöne, ausdrucksstarke Lippen, die ohne ein einziges Wort kommunizieren konnten, das für ihn sein Geburtstag beendet war.
Doch Mahara wollte nichts von alldem hören.
„Das steht überhaupt nicht zur Diskussion. Ich habe sowieso noch ein oder zwei Fragen zu den servierten Gängen. Nur für den Fall, dass wir sie für Marus' Rückkehr wiederholen wollen." Und damit packte sie ihre Königin am Ellenbogen und bugsierte sie trotz Diskussion wieder zurück zum Fest.
Über die Schulter zwinkerte sie Yessi zu, im festen Glauben ihm einen Gefallen getan zu haben. Doch Yessi brachte lediglich einen finsteren Blick zustande, ehe er sich gegen einen nahestehenden Baum lehnte.
Das war der Moment, auf den ich gewartet hatte. Mahara würde Liona nicht allzu bald von den Feierlichkeiten fortlassen und ich hatte freien Weg zu ihrem Zimmer.
Mit einem neuen Schub flatternder Nerven packte ich den Träger meiner Tasche fester und wollte mich bereits umdrehen, als mein Blick noch einmal zu Yessi rutschte. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte zwischen den Zweigen hoch zu den Sternen. Eine sprachlose Frage an die Götter schickend. Und obwohl ich sonst selten gläubig war, wusste ich, worum er bat.
Für eine kleine Ewigkeit verharrte er genau dort und ich konnte mich nicht lösen. Warum kehrte er nicht zu den anderen zurück? Mahara hatte recht gehabt, sie feierten nur für ihn. War es nicht schöner, in der Mitte liebender Menschen zu sein?
Doch Yessi folgte ihr nicht. Stattdessen ließ er seinen Kopf wieder sinken und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. Mein Magen sank. Er wollte alleine sein, weil er sich alleine fühlte. Weil die Gesellschaft nichts daran ändern würde. In welchen furchtbaren Schwierigkeiten waren wir jetzt schon wieder?
Das Gewicht meiner Tasche erinnerte mich daran, dass ich gehen sollte. Dass mir die Zeit davonlief. Aber meine Beine reagierten nicht. Niemand sollte sich so an seinem Geburtstag fühlen. Niemand sollte so einsam zwischen Freunden sein. Und ich wäre ein schlechter Mensch, ihn dort zu stehenzulassen. Verflucht noch einmal, konnte so etwas nicht passieren, wenn ich nicht gerade in ein Zimmer einbrechen wollte?
Ich warf den dunklen Fenstern des Hauses einen sehnsüchtigen Blick zu. So eine Gelegenheit würde sich nicht so schnell wieder auftun. Aber ich hatte nicht wirklich eine Wahl. Es würde bestimmt nicht lange dauern. Ein paar aufbauende Worte und ich konnte mich mit bestem Gewissen davonstehlen.
Und mit diesem Gedanken trat ich aus meinem Versteck heraus.
Yessi brauchte einen Moment, um mich zu bemerken. Er sah mich aus dem Augenwinkel und ein unendlich tiefes Seufzen ließ ihn die Augen wieder schließen.
„Was machst du hier?"
Ich versuchte, es wirklich nicht persönlich zu nehmen. Es war unfair, wie gut er selbst in seiner stummen Verzweiflung aussah. Er lehnte sich gegen den Zaun, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, sodass meine Augen unfreiwillig den Linien seiner Muskeln folgten.
Lass das, hörte ich selbst hier Madame Acó, die vermutlich lieber meinen Einbruch in ein fremdes Zimmer gesehen hätte, als meine Blicke auf den Oberarmen des verheirateten Botschafter Tacias.
Mit einem Seufzen drückte ich die Schultern durch und kam näher. Konnte er wissen, dass ich eine Magenverstimmung vorgetäuscht hatte? Angriff war die beste Verteidigung.
„Du stehst vor meiner Zimmertür. Die eigentliche Frage lautet also: Was machst du hier?"
Der Geruch von sattem Gras empfing mich, federte meine Schritte ab. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, Lichter überall im Innenhof zu verteilen. Sie beleuchteten Tropfen auf riesigen Blättern, gestutzte Büsche und Farne. Bei der Ähnlichkeit zu meinem Zuhause wurde mir ein klein wenig wärmer, meine Schritte ein klein wenig sicherer.
Ein winziges Zucken in seinen vollen Lippen vertrieb die Müdigkeit aus Yessis Zügen. Unter einer gehobenen Augenbraue beobachtete er mich, als würde ich mich an ihn heranpirschen.
„Du bist mir die letzten Tage aus dem Weg gegangen. Glaub nicht, dass es mir nicht aufgefallen wäre-..."
„Tue ich nicht!" Ertappt blieb ich einige Schritte von ihm entfernt stehen, die Arme bereits abwehrend vor meiner Brust verschränkt. Aber ich spürte die verräterische Hitze auf meinen Wangen. Spürte wie Yessis dunkle Augen über meinen Körper wanderten, vom Saum meines roten Kleides, über die Ärmel mit den kleinen Knöpfchen und dem abgesteppten Saum des Oberteils, ehe sie mein Gesicht fanden.
Yessis Mundwinkel vertieften sich noch weiter, bis ich seine Grübchen sehen konnte.
„Lügnerin."
Ich streckte ihm die Zunge heraus. Hauptsächlich, weil mir keine Antwort einfiel. Wann hatte er angefangen, darüber zu lachen? Die traurige Wahrheit war: Ich ging ihm aus dem Weg. Und ich hatte nicht einmal einen wirklich guten Grund dafür. Aber wenn er mich weiterhin so unverwandt ansah, als wäre nichts anderes hier draußen interessant, begann etwas in meinem Brustkorb unregelmäßig zu pochen. Und das musste unterbunden werden. Wenn nicht für Liona, dann für Lichi.
Als wolle er meine Gedanken besser hören, legte Yessi den Kopf schief, eine Augenbraue hochgezogen.
„Bist du wütend, weil ich dich angelogen habe? Es wäre ein klein wenig merkwürdig, aber-..."
Ich winkte ab, bevor er den Satz zu Ende bringen konnte. Die ganze Geschichte machte keinen Sinn, aber ich glaubte ihm seine Begründung sofort.
„Ich bin nicht so streng mit der Wahrheit."
Fast hätte er mit den Augen gerollt. Ich konnte den Ansatz sehen, ehe er sich selbst stoppte.
„Ich weiß."
Er sagte es, als müsse ein aber folgen. Und ich wartete auf dieses aber beinahe auf meinen Zehenspitzen.
Das musste wirklich aufhören.
Gelächter schallte zu uns herüber. Und Yessi sah wieder nach oben zu den Sternen, die Arme abwehrend verschränkt. Sein Seufzen war beinahe lautlos, doch es füllte die Stille zwischen uns und machte mein eigenes Herz schwer.
„Du solltest zu ihnen rüber gehen." Ich beobachtete, wie er wieder zu mir heruntersah und widerstand dem Drang, eine der dunklen Locken aus seiner Stirn zu schieben.
Yessi schnaubte leise. Sein einer Mundwinkel war immer noch nach oben gezogen, doch es war nur noch eine faule Fassade.
„Eigentlich sollte ich das Dach im Nordflügel reparieren. Ich sollte den anderen Fürstentümern von unserem kleinen Zwischenfall mit Bachar schreiben und um Unterstützung für den bevorstehenden Winter bitten. Ich sollte-..."
Ich wusste nicht, wann ich zu ihm herüber gegangen war oder welcher Geist mich kontrollierte, dass ich ihm eine Hand auf die Brust legte.
„Morgen."
„Oder Übermorgen", fügte ich hinzu, als müsse ich ernst darüber nachdenken, „Oder, und das ist ein ganz wilder Gedanke, du lässt es jemanden anderen machen. In meiner Sprache gibt es ein Wort dafür: Hil-fe. Hast du es schon mal gehört?"
Etwas stahl sich durch Yessis Augen, als er langsam auf meine Hand herunterblinzelte. Es war so schnell, dass ich die Emotion nicht entziffern konnte, doch es löste in mir ein Kribbeln aus, das nicht sein durfte.
Schnell nahm ich meine Hand zurück. Die Bewegung war abrupt, als hätte ich mich verbrannt und führte nur dazu, dass ich im Zwielicht jetzt auch meine Ohren rot wurden. Meine weitere Flucht wurde damit beendet, dass ich auf den Saum meines neuen Kleides trat und nach hinten kippte.
Yessis Hand fand meinen Rücken, bevor ich in dem neu sprießenden Gras saß. Sein Lachen sammelte sich in seinen Augenwinkeln und in der Art wie er den Kopf wegdrehte, als wolle er es privat halten.
Ich wollte ihm gegen den Oberarm hauen, doch die Gefahr, dass er mich doch fallenlassen könnte und mein erfundenes Nevanam-Gelübde hielten mich ab.
„Hör auf, mich auszulachen!"
Ich hätte genauso den Mond bitten können, nachts in ein anderes Fenster zu scheinen. Er hob lediglich auch die zweite Augenbraue, viel zu unterhalten von mir und meiner mangelnden Koordination.
„Du möchtest mir helfen, das Dach zu reparieren?"
Missmutig blies ich eine meiner Strähnen aus meinem Gesicht. Er hatte mich immer noch nicht losgelassen und das machte es erstaunlich schwer, logische Antworten zu formulieren.
„Jeder in diesem Haus würde dir helfen, wenn du sie nur lassen würdest. Du brauchst sie!"
Er wackelte mit seinem Zeigefinger vor meiner Nase, als tadle er ein Kind. „Sie brauchen mich."
„Auch, aber nicht als Fettfleck auf der Erde, zerquetscht durch die ganze Verantwortung, die du dir aufhalst!" Ich wusste nicht, warum ich lauter wurde.
Yessis Augenbrauen hoben sich bis zu seinem Haaransatz.
„Fettfleck?"
Ich schnaubte. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich die Arme verschränkt, so wie er es immer machte.
„Du hast mich gehört."
Seine Erheiterung machte ganz langsam etwas anderem Platz. Yessi nahm sich einen kurzen Augenblick, um meine ganze Erscheinung zu katalogisieren (was noch mehr Hitze in mir auslöste), ehe er mich ein Stück näher an sich heranzog. Doch dieses Mal zeigte sein Lächeln einen Eckzahn. Weiß, perfekt und scharf.
„Darf ich eine Wahrheit haben?"
Yessi auf der Jagd nach meinen Geheimnissen hatte schon immer etwas von einem Raubtier gehabt, die mit ihrer Beute spielte. Seine grauen Augen hielten mich fest wie ein Schmetterling unter einer Tatze, während sein Verstand jedes meiner Worte auseinandernahm. Und ich hatte den Verdacht, dass es ihm Spaß machte.
Ich wollte ihm eine schnippische Antwort geben, doch in der Nähe war irgendwie mein Mund trocken geworden und so tat ich, was ich sonst auch immer tat: Ich rollte mit den Augen.
Yessi nahm das zufrieden als Einverständnis.
Er stellte seine Frage nicht gleich. Unbewusst zeichneten seine Finger kleine Kreise auf meinem Rücken, während mein Herzschlag bis hoch in meinen Hals wanderte. Er roch nach Leder und nassen Tannen, nach dem Versprechen eines warmen Feuers am Ende eines langen Tages.
Und er wusste ganz genau, welchen Effekt er auf mich hatte, denn er neigte sein Gesicht noch ein wenig näher, bis sich unser Atem mischte.
„Warum bist du immer noch hier?"
Mir gefiel, dass er dachte, ich hätte eine Wahl. Dass er mir zutraute mich durch ewiges Marschland zu schlagen und einfach daheim aufzutauchen. Er gab mir das Gefühl, dass ich es tatsächlich schaffen konnte. Aber wollte ich auch?
Hinter uns spielte die Musik auf. Er hatte nach einer Wahrheit gefragt und eine kleine Stimme in mir beschloss, dass er sie verdient hätte. Aber nicht jetzt. Morgen. Wenn ich ihm nicht so nahe stand, oder er mich dafür fallenlassen könnte.
Ich entschied mich für eine andere Wahrheit, die leider viel atemloser herauskam, als mir recht war.
„Ich habe dich noch nie tanzen gesehen."
Yessi lachte auf. Behutsam ließ er wieder mehr Abstand zwischen uns zu, bis ich vollkommen auf eigenen Füßen stand.
„Ist das eine Aufforderung?"
„Und Liona den Geburtstagstanz stehlen? Ich bin noch nicht vollständig lebensmüde!", ich schüttelte mich, als hätte mir jemand Wasser in den Nacken gegossen, „Tut mir leid, Eure Majestät, aber da müsst Ihr durch und dann könnt Ihr Euch mit Andrew betrinken."
Yessi lachte leise und warf einen letzten Blick hoch zu den Sternen. „Wer hat dich bloß geschickt?" Die Frage war mehr an ihn selbst gerichtet. Atemlos und leise.
Ich war mir nicht sicher, ob er dankbar oder gestraft war. Wahrscheinlich beides ein bisschen. Denn seine kurze Abgelenktheit nutzte ich sofort, um ihn genauso intensiv zu mustern, wie er mich zuvor.
Ich musste nur meine Hand ausstrecken, mit meinem Daumen über seine Wangenknochen fahren und alles in mir würde sich auflösen. Einfach so.
„Genau genommen wurde ich nicht geschickt, sondern entführt", korrigierte ich ihn, „Aber wer will schon auf Details herumreiten?"
Wieder lachte er leise auf und ich wurde von seinen Lippen abgelenkt. „Ich tue mich immer schwerer, es zu bereuen." Er zuckte so leichtfertig mit den Schultern, als wäre es das natürlichste der Welt, während ich innerlich glühte.
Hieß das, er wollte mich hier haben? Oder er würde mich vermissen, wenn ich gehen würde? Die Vorstellung gefiel mir mehr, als ich sie sollte.
Zu spät bemerkte ich, dass Tacias König mich schon wieder beobachtete. Und irgendwas gefiel ihm nicht. Unzufrieden schob er die Brauen zusammen, doch als er den Fokus von mir wegnahm, wusste ich nicht mehr sicher, ob er sich über mich ärgerte.
Doch statt einer Antwort nahm er vorsichtig meine Hand und legte sie auf seine Schulter, ehe er die andere in seine fasste.
„Du kannst doch tanzen, oder?"
Der Schalk in seinen Augen konnte mich nicht daran hindern, den Köder zu schlucken. Ich wollte ihn mit meiner Hand knuffen, doch er zog mich bereits mit. Sanft erst von links nach rechts und dann im Kreis. Das Gras war nass und weich wie ein großes Bett. Es federte meine Schritte ab und ließ mich atemlos nach der Melodie lauschen, die von meinem lauten, gleichmäßigen Puls untermalt wurde.
Das erste Mal war ich Madame Acó dankbar, dass sie mich zu Tanzstunden gezwungen hatte. Yessi war ein guter Tänzer. Er machte es mir erstaunlich leicht, ihm über den Rasen zu folgen, die Bewegungen heimlich im Halbdunkel.
Vertraut.
Unter meinen Fingerspitzen fühlte sich sein Körper warm und kräftig an. Verlockend, dass ich im Kühl der Nacht gerne näher an ihn herangerückt wäre. Doch stattdessen sah ich zu ihm auf und trat ihm prompt auf den Fuß.
Die Grimasse, die meine festen Arbeitsschuhe dabei auslösten, brachte mich derart zum Lachen, dass Yessi kurzzeitig anhalten musste. Unter einer hochgezogenen Augenbraue beobachtete er mich, ein winziges Lächeln in seinem Mundwinkel.
„Es tut mir leid!", kam ich wieder näher. Er hatte sich halb weg gedreht, also griff ich nach seiner Wange. Etwas, was er dieses Mal geschehen ließ, irgendwo gefangen zwischen Schmerzen und eigener Belustigung.
Er wollte etwas sagen, die Lippen bereits geöffnet. Hinter uns knackte ein Ast und die kleine Blase der Einsamkeit platzte.
Wir gefroren beide mitten in der Bewegung. Ich schaffte es noch, den Kopf zu drehen und eine stocksteife Lichi zu sehen, deren Augen rastlos über unsere enge Position wanderte. Sie war zurückgekommen, um mich zu holen.
Mein Herz zersetzte erst einen Schlag aus und sank dann runter in die Magengegend.
Ruckartig machte ich mich von Yessi los, doch Lichis Gesicht zeigte keine Änderung.
Hinter ihr leuchteten die Lampions des Festes, sanft bewegt im Wind. Melodie spielte auf, als wüsste niemand, dass hier vorne die Zeit stehen blieb. Hätte man mich doch einfach nur beim Einbruch erwischt. Das wäre einfacher gewesen.
Ich wollte etwas sagen. Vermutlich, dass es nicht das war, wonach es aussah. Aber als ich den Mund öffnete, hob sie schlicht die Hand und die schlechte Entschuldigung starb auf meiner Zunge.
Ausdruckslosigkeit hatte den anfänglichen Schock vertrieben. Sie schüttelte den Kopf. Wieder und wieder. Als ob sie versuche, das Bild zu vertreiben. Oder nicht glauben konnte, was sie gesehen hatte.
Ich wollte einen Schritt auf sie zu machen, doch das sandte sie gleich mehrere Schritte zurück. In Richtung des Festes. An ihrer Seite ballten sich ihre Hände zu Fäusten und entkrampften sich wieder.
Als ihre Augen schließlich meine fanden, zeichnete sich darin ein sehr detailliertes Bild des Verrats ab, den ich begangen hatte. Die Lippen aufeinander gepresst, bekam sie kaum ihre Worte heraus. „Ihr werdet erwartet." Und damit drehte sie sich um und ging wieder.
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"Tanzt durch den Montag oder kauft euch mit einem kleinen Stern frei." - Kaliee, würde sich sofort freikaufen.
Könnt ihr tanzen? Also in der Disco oder Standard?
Ich... Nicht.
Ich wollte lieber reiten.
Und schreiben :D
Aber jetzt würde ich gerne tanzen lernen...
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