Sailhalb Blatt Nr. 3
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Die pfeifende Kälte zerrte an meinen Haaren, während ich verzweifelt versuchte, ein Loch in den festgefrorenen Boden zu graben. Auf magische Weise schaffte der Dreck es zwar sehr wohl, sich unter meinen Fingernägeln zu sammeln, aber ansonsten keinen Docht nachzugeben, als dass ich auch nur den kleinsten Setzling hätte einpflanzen können. Es war nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum.
„Du solltest nicht hier draußen sein. Wer soll dich heilen, wenn du krank wirst?" Die Worte hätten liebevoll geklungen, wenn sie nicht von Lorik gekommen wären. Mit vorwurfsvoll verschränkten Armen saß er auf einem Stuhl und beobachtete meine Arbeit.
Ich erstarrte, um nicht zusammenzuzucken. Nur ein Traum. Nur ein Traum. Und nur Lorik.
„Jemand hat mir den Schlüssel zu meinem Arzneischrank gestohlen. Hier heilt niemand mehr irgendwen, wenn ich nicht weiter mache. Außerdem, es sind noch ganz andere Leute bei dem Wetter außer Haus, die nichts im Garten verloren haben", erwiderte ich, ohne den Kopf zu heben. Ich konnte nicht in mein Zimmer zurück. In den dunklen Ecken erwartete mich überall Yessis Gesicht, halb verdeckt unter der Kapuze.
„Ich habe heute Morgen das erste Mal seit Langem wieder Tee getrunken! Mir wird nichts passieren!" Der alte Mann gab ein beleidigtes Husten von sich, das beinahe die leisen Fußstapfen auf dem Kiesweg übertönt hätte. Wir beide drehten uns im letzten Moment, um das neuste Mitglied unserer Hausgemeinschaft näherkommen zu sehen. Mein Magen machte einen Knoten. Sie war dabei gewesen.
Sie trug einen dicken Pelzmantel, der in so einem harten Kontrast zu den Lumpen stand, in denen ich sie das erste Mal gesehen hatte. Selbst ihr Gang hatte sich verändert, ihre Haltung wäre kaum als Bettlerin durchgegangen. Sie legte beide Hände auf das Gartentor, doch ihr Griff war fest und krallend.
Angespannt beendete ich meine Versuche und setzte mich auf meine Fersen, um ihre Ankunft abzuwarten. Weiße Wölkchen sammelten sich bei jedem Atemzug vor meinem Mund wie der Atem eines eisigen Drachen.
Erinnerungen an unsere letzte Begegnung im Sakella Wald kehrten zu mir zurück und sammelten sich um mich herum im Beet. Wie leichtfertig sie mit der Möglichkeit eines Krieges umgegangen war. Wie sie Henric erschossen hatte.
Pockennarben entstellten ihre Wangen und gewannen hier draußen an Farbe.
Schließlich sah sie von Lorik zu mir. „Man sagte mir, dass ich dich hier finden würde."
Hatte ich ein Danke erwartet, dass ich sie vor dem Erschöpfungstod bewahrt hatte?
Lorik ließ mir keine Zeit, zu antworten. „Morem. Ist schon wieder ein Mord schiefgegangen, dass du dich hier versteckst?" Seine Worte tropften wie zischende Säure auf den Boden und ließen mich sofort den Rücken durchdrücken.
Die Frau - Morem - bedachte ihn nur mit einem gelangweilten Lächeln, ehe sie mich fixierte. Sie hatte kleine schwarze Augen, die unangenehm ruhig und starr in ihren Höhlen lagen. Vogelaugen im Gesicht eines Raubtiers.
„Ich handle nur auf Befehl und Bezahlung", erklärte sie mehr an mich gewandt. War das eine unterschwellige Nachricht?
Ich schluckte. Auf Yessis, oder auf die seiner Frau? Beides konnte den Garten jeden Moment in ein Blutbad verwandeln. Und wer wusste, wie gut, dass den Pflanzen tun würde.
Beklommen richtete ich mich auf und wischte die Handflächen an meinem Rock ab.
„Wenn du extra hier rausgekommen bist, muss es sicher etwas geben, womit ich dir helfen kann?"
Im Hintergrund ging Loriks schnippische Antwort in einem weiteren Hustenanfall unter. Er sollte wirklich nicht hier draußen sein. Die Kälte griff seine Lunge an und morgen würde alles so viel schlimmer sein.
Ächzend beugte er sich nach vorne, während die Frau mit einem großen Schritt über den Zaun stieg.
„Ich bin hier, um mich nach Cinis Genesung zu erkundigen", ihre Stimme betrog keinerlei Emotionen, kein Mitleid und sicher keine Sorge, „Yessis Brief hat mich erreicht, doch er gab mir mehr Fragen, als Auskunft und hat nichts von dem schlechten Gesundheitszustand seiner Schwester gesagt."
Etwas verdutzt blinzelte ich sie an. Yessis Brief? Morem zog ein zerknittertes Stück Papier aus dem Inneren ihres Mantels und hielt es mir hin. Er sah mitgenommen aus. Alt beinahe. Der Himmel hinter ihr verdunkelte sich in böser Vorahnung. Wie ein Kranz aus Schatten um ihren Kopf.
Meine Hand zögerte. Es widerstrebte es mir, seine persönliche Korrespondenz zu lesen. Aber dann wiederum hatte ich sie bereits selbst einmal gefälscht und auch wieder geöffnet. Unbewusst flatterte mein Blick zu Lorik, der mich unter gesenkten buschigen Augenbrauen ebenfalls anstarrte.
„Der Brief muss verloren gegangen sein...", murmelte ich mehr zu mir selbst, als ich ihn vorsichtig auseinanderfaltete, meine dreckigen Finger klamm.
„Sicherlich. Mein Nachbar hatte die überbringende Krähe in unendlicher Dummheit erschlagen, als sie in seinem Gemüsebeet saß", neigte Morem zustimmend den Kopf, „Ich vermute, er ist vier oder fünft Wochen alt."
Also noch vor Moiras Tod. Ich zitterte.
Lorik schnaubte abfällig. „Und du hast ihn nicht zu deinen alten Göttern geschickt?" Er hatte die Decke um den Körper enger gezogen, aber zitterte schlimmer als Elyrische Kinder bei einem Gewitter. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, seinen schärfsten Tonfall auszupacken.
Ich verpasste die Antwort, während ich widerwillig über die Zeilen flog. Eigentlich hatte ich das Datum bereits gesehen, doch ein einziges Wort stach aus dem Text heraus wie ein Dorn im Federkissen.
Nevanam.
Mein Blut wurde dick. Zu schwer, um mit dem Fluss der Zeit um mich herum mitzuhalten. Die Wirklichkeit schränkte sich allein auf die krummen Buchstaben ein, die sich zu einem grausigen Inhalt zusammensetzten. Es waren nicht viele Zeilen. Kurz und umso einprägsamer.
„...Ich habe ein Problem. Die Hebamme hat mir alles erzählt... im Moor treffen. Ich kann nicht König sein. Sie würden mich niemals-..."
„Die Worte ergeben keinen Sinn", wiederholte Morem ihre Bedenken und riss mich aus meinen Gedanken, „Ich habe ihn zufällig einige Wochen später getroffen, bevor wir nach Eslaryn geritten sind und er hat nichts von einem Tausch gesagt. Wo ist er jetzt überhaupt?"
Wie betäubt gab ich ihr das Blatt zurück. Der Tausch. Moira hatte in meinem Traum etwas Ähnliches gesagt.
„Wir wissen nicht genau, wohin er geritten ist." Selbst meine Zunge fühlte sich über die Worte pelzig an. In meinem Kopf verknüpften sich Schnüre und Erinnerungen miteinander zu einem schwer fassbaren Geflecht.
Wenn die Frau über meinen plötzlichen Themenwechsel überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken.
„Wenn er einen weiteren Auftrag hat, soll er auf meine Antwort reagieren und mich nicht bis ganz hierher zurückreiten lassen", sie stopfte den Brief zurück in ihren Mantel, „Soll ich mich jetzt um diese Hebamme kümmern, oder was?"
Ich schluckte gegen eine sehr trockene Kehle an.
„Diese Hebamme...", es kostete mich einiges an Kraft, die Angst aus meiner Stimme zu halten, „...ist nicht zufällig Camil Roussex? Und bereits tot?"
Morem runzelte die Stirn. Die erste Reaktion, die verriet, was hinter diesen dunklen Augen vor sich ging.
Wie Schatten blockierten sie das Licht des klaren Winterhimmels und bohrten sich tief in meine Haut, bis ich glaubte, sie in meinem Kopf zu spüren. „Dann hat er dir von dem Auftrag erzählt?"
Yessi? Nein. Aber er hatte Morem geschickt, um ein Geheimnis zu wahren, von ich nichts wusste. Und als sie nicht geantwortet hatte, hatte er sich selbst um die Nevanam gekümmert. Es blieben nur tausend andere Fragen.
Lorik sandte Morem einen warnenden Blick. „Wir sprechen nicht über-...", ein heftiges Husten schüttelte ihn erneut und riss den Satz in der Mitte ab, „...Chron-herbe...", brachte er gerade noch so heraus, doch es hätte genauso gut jedes andere Wort sein können.
Mit einem dumpfen Geräusch kippte er vom Stuhl. Der Anfall schüttelte ihn schlimmer, als ich es jemals gesehen hatte, schlimmer als es sein sollte. Er bekam keine Luft-...
Sofort kniete ich an seiner Seite, um ihn von dem eisigen Boden zu heben, Morem an seiner anderen. Gemeinsam hievten wir ihn zurück in eine aufrechte Position, als mir ein kleiner Schrei entfuhr.
Mein Magen krampfte sich im Griff der schwarzen Kälte zusammen. Zerdrückt wie ein Schwamm, machte er mich für einen kurzen Moment bewegungsunfähig.
Blaue Adern. Sie zeichneten sich überall um die wässrigen Augen des alten Manns ab. Pulsierend. Wachsend. Rankten sich wie ein schreckliches Tattoo immer weiter durch seine Falten. Lorik hustete noch einmal, doch die Kraft floss so schnell aus ihm heraus, dass er kaum noch nach Luft schnappen konnte. Blut sammelte sich in seinem Mundwinkel.
„Lichi!" Ich wusste nicht, warum ich zuerst nach meiner einzigen Freundin rief. Wir brauchten das Gegengift! Sofort! Fahrig versuchte ich, ihn umzudrehen. Seine Lunge zu entlasten. Lichi konnte an den Schlüssel zu meinem Arzneischrank kommen!
Schritte eilten über den Kiesboden und blieben mit ein wenig Abstand zu uns stehen. Es war nicht Lichi.
Eine ältere Frau mit Weidekorb starrte uns an, als sähe sie den Tod selbst seine Schwingen über dem Garten ausbreiten. Wind peitschte auf und griff nach ihren Haaren.
Meine Stimme wurde rau von den panischen Tränen. „Bitte! Bitte holt Hilfe!" Neben mir löste sich Morem von dem alten Mann und rappelte sich auf. Während die andere Frau Schock erstarrte, rannte die Attentäterin los. Ihre graue Kleidung verschwamm mit dem Rest der Welt.
Das war ich. Bevor ich hierhergekommen war. Unfähig, mich zu bewegen.
„Er stirbt!", brüllte ich die Wäscherin an, gerade als sich zwei Soldaten aus Lionas persönlicher Wache hinter ihr sammelten. Besorgt reckten sie ihr Hälse, um besser erkennen zu können, was hier draußen so einen Lärm veranstaltete.
Ich lehnte mich instinktiv über Lorik, drückte seinen kälter werdenden Körper an meinen. Sie mussten Hilfe holen. Schnell. Es gab noch eine Chance. Das Gift brauchte seine Zeit.
Aber sie tuschelten, berieten sich, doch schließlich packten sie nur die Wäscherin und zogen sie mit sich fort. Zurück in den aufkommenden Strum, der an den Ästen der Trauerweiden zerrte.
Lorik hustete noch einmal und sein warmes Blut lief mir über die Hand. Farbe, wo Farbe sonst fehlte. Ich beugte mich ein wenig über ihn, um ihn gegen die beißende Kälte zu schützen.
„Alles wird gut...", murmelte ich an seine Stirn, während meine Tränen sein schütteres Haar tränkten, „Alles wird gut." Meine Hände bebten in einer Mischung aus Angst und Verzweiflung. Moiras Erinnerung begleitete mich wie ein Geist.
Ichblieb alleine. Bis zum Ende.
Lorik war der letzte Zeuge gewesen. Die letzte Erinnerung an ein furchtbaresGeheimnis, das sich mir immer wieder entzog.
Vorletztes Kapitel everybody!
Es tut mir leid?
Doppelupdate?
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