Ein Trauerweiden Sätzling
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Das Freijagd- Jahr: Eine alte Tradition Gicans.
In einigen Regionen sogar fast ungefährlich.
In den meisten allerdings tödlich. Viel Glück.
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Ich hatte noch keinen Krieg in Eslaryn erlebt, aber ich war mir ziemlich sicher, dass es kein Anlass für ein Fest gewesen wäre. Anscheinend teilte nur Yessaia meine Meinung und das war kein gutes Zeichen. Seine Männer warfen ihm immer wieder lange Blicke zu, als wären sie nicht sicher, wie ausgelassen sie reagieren durften. Zweifelsohne rechtfertigte die Kriegserklärung, dass Flachmänner ausgetauscht und gegeneinander gestoßen wurden, aber die Stimmung ihres Dienstherrn machte sie unsicher.
Ich roch den Alkohol bis zu meinem Pferd hinüber, auf das ich die ganze Zeit vehement starrte, als könne ich so unsichtbar werden. Andrew warf mir immer wieder schwierig zu deutende Blicke zu. Er war nicht direkt wütend, doch es blieb ohne Zweifel, dass sich seine Gedanken weniger um die Kriegserklärung, sondern um mich drehten.
Mein Kopf pochte mit jedem Schritt meines Reittieres stärker, was mich beinahe unfähig machte, die einzelnen Bruchstücke der heutigen Erkenntnis zusammenzusetzen. Yessaias Aussetzer... ich hatte keine Worte dafür. Er war bisher in allen Situationen gefasst aufgetreten, doch das ließ sich kaum für seine Darbietung vor dem benachbarten König sagen. Welche Hintergrundgeschichte die beiden teilten, sie beeinflusste ihn immer noch.
Uns empfing eine kleine Traube an Angestellten, bewaffnet mit Lampen und dicken Wolldecken, die eifrig ihren Herren nach dem Ausgang des Unternehmens fragten. Yessaia antwortete nur knapp, gerade noch innerhalb der Grenzen der Höflichkeit. In einer fließenden Bewegung sprang er von seinem Rappen und drückte dem nächsten Burschen die Zügel in die Hand.
Andrew führte seine Erklärungen aus, was zu sehr unterschiedlichen Reaktionen führte, die zwischen leuchtenden Augen und besorgten Blicken zu den Kindern variierten. Zu eifrigem Nicken und zerkauten Unterlippen. Der Krieg war eine willkommene Ablenkung. Aber sie befürchteten, dass sie nicht gewappnet waren.
Mit beiden Händen half der König mir vom Pferd und zog mich hinter sich her zum Haupthaus. Im Halbdunkel stolperte ich immer wieder, bemüht, mit seinen langen Schritten mithalten zu können. Bei seiner Eile begann mein Herz schneller zu klopfen. Ich hatte das ungute Gefühl, dass mir das folgende Gespräch nicht gefallen würde.
Er brachte mich zu meinem Zimmer, wo er die Tür hinter sich schloss und sich wie ein Wachmann dagegen lehnte.
„Wer kann nach deiner Kopfwunde sehen?" Sein Gesicht war steinern wie die Wand neben ihm.
Nicht sicher, was ich mit mir oder meinen Händen machen sollte, positionierte ich mich auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers und spielte mit Jacs Ring.
Seine Frage war nicht das, was ich erwartet hatte.
„Es ist nicht so schlimm, wie es vielleicht aussieht. Ich werde mich später selbst darum kümmern." Ohne darüber nachzudenken, tastete ich mit den Fingerspitzen über den Schnitt. Und zuckte prompt zurück. Die Haut war empfindlich. Aber ich hatte schon Schlimmeres erlebt.
„Blödsinn", er sprach so ruhig, dass ich noch nervöser wurde, „Sag mir, was ich tun soll." Er sah sich in meinem Zimmer um, als erwarte er, dass sich meine winzige Sammlung der nötigsten Heilmittel von allein erklären würden. Wenn dem allerdings so wäre, wäre ich heute eventuell eine bessere Medizinerin.
Ich unterdrückte ein Seufzen. Etwas sagte mir, dass er in diesem Punkt heute nicht mit sich diskutieren lassen würde.
„In der Schüssel dort drüben habe ich noch einen Rest in Wasser gelöste Nachtkresse. Einen Lappen zum Tupfen findest du im Regal."
Er setzte sich sofort in Bewegung und gab mir so einen kurzen Moment, die Augen zu schließen, um meine Gedanken zu sortieren. Er hatte mir heute das Leben gerettet. Ich stand in so einer großen Schuld, dass ich kaum über den Berg sehen konnte.
Kraftlos setzte ich mich auf die Kante meines Bettes und entfernte Stück für Stück die einzelnen Teile der Rüstung. Klirrend fielen sie neben mir auf den Boden, doch ihr fehlendes Gewicht half nicht so, wie ich es brauchte.
Mühsam sammelte ich eine Entschuldigung zusammen, doch als Yessaia sich wieder zu mir umdrehte, ließ sein kontrollierter Ausdruck mich jedes Wort verschlucken. In ihm wütete ein Sturm, zusammengehalten von dem bisschen Selbstbeherrschung, das er nach diesem langen Tag noch aufbrachte.
In einer geschmeidigen Bewegung ließ er sich vor mir auf beide Knie herunter und tauchte einen dunklen Lappen in die Wasserschüssel. Er warf all seine Konzentration in die Handlung, als es ihn davon ablenken, was er zu sagen hatte.
„Du hattest einen Befehl von mir bekommen."
Das schlechte Gewissen sammelte sich wie ein Klumpen in meiner Kehle. Ich versuchte, seinen Blick einzufangen, um ihm wortlos zu übermitteln, wie wirklich und ehrlich leid mir der Ausgang dieses Abends tat.
Er wich meinen Augen aus wie sonst nur die Männer in meiner Heimat. Und das schmerzte tatsächlich mehr als die Nachtkresse, die er kurz darauf auf meine Stirn presste.
„Sind dir auch nur im kleinsten Maße die Konsequenzen deiner Handlung bewusst."
Ich biss mir auf die Unterlippe.
„Das war nicht meine Absicht-..."
Der Lappen wurde wieder in die Schale getunkt, das Geräusch ein abruptes Ende meiner Entschuldigung. Herzschlag für Herzschlag passierte in der Stille.
„... aber du dachtest, ich wüsste nicht, wovon ich spreche?" Seine Stimme war so ruhig, dass sie Spannung in mir erzeugte.
Das war nicht, was ich gemeint hatte. Rastlos rutschte ich auf der Kante des Bettes hin und her.
„Wir benötigten diesen Dolch. Ich wollte ihn dir zuwerfen, nicht dass noch jemand in Gefahr kommt."
Seine Augen schnappten zu mir hoch und ich wäre am liebsten von ihm weggerutscht, wenn er nicht direkt vor mir gekniet hätte. Sein Griff um den Lappen drückte das Nachtkresse-Wasser heraus.
„In Gefahr?" Seine Stimme wurde so leise, sie bebte, „Weißt du eigentlich, was sie dir angetan hätten?"
Ich bevorzugte es, nicht darüber nachzudenken.
„Was bringt es deiner Schwester, wenn sie wach ist, nur damit Bachar euer Haus niederbrennt?"
Der Lappen fiel mit einem lauten Platschen in die Schüssel zurück. Die Kontrolle musste ihm mit dem Stoffstück entglitten sein, denn seine Worte kamen lauter aus ihm heraus, als er wahrscheinlich beabsichtigt hatte.
„Sie wird niemals wieder aufwachen, wenn du nicht hier bist, um sie zu heilen!"
Ich zuckte zurück. Aber nicht aus Angst.
Ah. Daher wehte also der Wind.
Merkwürdig ernüchtert rutschte ich auf meinem Bett von ihm fort, bis ich mit dem Rücken an die Wand stieß. Ich wusste, dass er mich nicht meinetwegen gerettet hatte. Es fühlte sich trotzdem merkwürdig an.
Unfähig ihn weiter anzusehen, beschäftigte ich mich mit den kleinen Falten meiner Bettdecke.
„Es gibt auch noch andere gute Heiler in dieser Wel-..."
„Nein." Das Wort fiel so hart zwischen uns, dass er aufstand. Ich spürte seinen brennenden Blick auf mir, als wolle er mich schütteln. „Du musst damit aufhören, und zwar sofort."
Verwirrt hob ich den Kopf. Großer Fehler. Er sah bereit für einen Mord aus. Hektisch sah ich zur Seite, vorsichtshalber nach einem Fluchtweg aus dem Zimmer suchend.
„Du hast es gemacht, als du einer fremden Frau ohne Schutz oder Begleitung in ein abgelegenes Haus gefolgt bist. Du hast es gemacht, als du glaubtest, der Tee meiner Schwester wäre vergiftet. Und jetzt schon wieder", jeder Satz kam ruckartig aus seinem Mund. Vorwürfe, die er gleichzeitig loslassen und festhalten wollte. „Du kannst dein eigenes Leben nicht so mit Füßen treten!"
Oh. Damit hatte ich nicht gerechnet. Seine wütende Fürsorge erwärmte meinen Bauch. Nur damit mir sofort danach einfiel, warum er das sagte. Meine Schultern sackten ab und ich sah ihn aus müden Augen an.
„Du denkst, ich schulde es der Welt am Leben zu bleiben, weil ich die letzte Magie habe und die Welt einen Heiler braucht." Madame Acó hatte geglaubt, ich schulde dem Land, profitabel zu heiraten. Willard Roussex und seine Männer hatten geglaubt, dass ich ihnen Unterhaltung schulde. Es war egal, was ich war, Schwester, Höfling oder Nevanam, ich war ein Mittel zum Zweck.
Yessaia öffnete den Mund, doch kein Wort kam heraus. Der Sturm hinter seinen Augen fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Er blinzelte mich an, als wäre noch nie jemand so ehrlich zu ihm gewesen wie die Frau, die er als Lügnerin bezeichnet hatte.
Schließlich, beinahe vorsichtig, trat er an das Bett, griff meine Beine und zog mich in einer langsamen Bewegung näher zu sich, bis ich wieder auf der Kante saß und er mein Gesicht in beide Hände nehmen konnte.
„Hör mir sehr gut zu. Alles, was ich will – alles, was ich jemals will, ist verhindern, dass du oder sonst irgendwer in meiner Verantwortung zu Schaden kommt." Er nahm sich Zeit, mein Gesicht nach weiteren Hinweisen zu durchforschen. Dabei musterte er mich so gründlich, als sähe er mich zum ersten Mal. „Das schließt dich und deine selbstgefährdenden Tendenzen ein. Hast du mich verstanden?"
Ich schluckte. Teilweise, weil er keinen Zweifel an der Wahrheit hinter seinen Worten ließ und teilweise, weil er so verdammt nah war, dass ich winzig kleine Grübchen in seinen Wangen sehen konnte.
„Rein formell gesehen-..."
„Hast du mich verstanden?"
Er war nicht hübsch, wie Henric hübsch war. Seine Nase musste irgendwann einmal gebrochen gewesen sein und das Grau seiner Iris wechselte vielleicht in Helligkeit aber wurde niemals warm.
Er war rau, mit einem dunklen Bartschatten und losen rot-braunen Strähnen, die ihm aus seinem Zopf in die Stirn fielen.
Aber wenn er jemanden so fixierte-...
Wusste er, dass Nevanam im Zölibat lebten?
Er ließ mich nicht los, bis ich mit einem Nicken klein beigab. Sein Ärger war immer noch nicht verraucht, während er sich aufrichtete und die Schüssel zurück zu meinen anderen Medikamenten brachte.
Gerade noch rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick klopfte es an meiner Tür und Andrew steckte den Kopf herein. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, als er Yessi fand.
Dieser nickte, als wüsste er, warum er bereits wieder gerufen wurde.
„Ich komme gleich. Ihr könnt die Baupläne schon mal in den Soldatenturm bringen. Ich kann das Werkzeug bringen."
Andrew nickte, warf mir einen letzten, beinahe mitleidigen Blick zu und verschwand wieder.
Ich saß blinzelnd auf meinem Bett. Nie in meinem Leben hatte ich Isabellas Vater mit einem anderen Werkzeug als einer Gabel in der Hand gesehen. Aber Yessi hatte bereits an einem meiner ersten Tage hier geholfen einen Baum zu fällen. Seitdem hatte ich ihn beim Soldatentraining gesehen, Pferde einreiten, Ernte bestellen, Schwerter schärfen und Balken tragen. Egal wie früh ich aufstand- er war bereits beschäftigt. Und egal wann ich abends aus meinem Fenster sah, er war immer noch unterwegs.
Und wenn ich ihn jetzt ansah, bemerkte ich erst die Schatten unter seinen Augen, die zu seinem Gesicht so sehr dazu gehörten, wie seine gebrochene Nase und der Bartschatten auf seinen Wangen. Er war müde. Und ich hatte dazu beigetragen.
„Weil du technisch gesehen kein Teil meines Hofs bist und der Krieg mit einer anderen Provinz dich nicht betrifft, wirst du nach Hause gehen", riss er mich aus meinen Gedanken.
Ich registrierte die Information mit Verzögerung. Dann schreckte ich hellwach in die Höhe. Schickte er mich fort? Nein, oder? Für mehrere Herzschläge wartete ich, dass er seine Meinung ändern würde. Doch das passierte nicht.
„Aber...", ich fischte nach Worten, meine Augen hektisch über seinen Rücken wandernd, als fände ich dort, was er wirklich meinte, „Ich habe diesen Krieg ausgelöst."
„Und meine Männer werden heute Abend auf deinen Namen anstoßen." Der König Tacias trocknete seine Hände mit einer meiner Kompressen ab und drehte sich zu mir um. „Ich werde dir ein Pferd bereitstellen." Im Halbdunkel meines Zimmers wirkten seine Augen wie dunkle Brunnen, in die man hineinfallen und ertrinken könne.
Nur, dass er mich nicht ansah. Nicht wirklich. Er legte die Kompresse weg und ging zur Tür.
„Andrew wird dich bis zum Sakella Wald bringen."
Aber... aber...
Ich öffnete mehrmals den Mund, meine Bewegungen jetzt hektisch. Hatte er nicht eben gesagt, dass er mich für seine Leute gerettet hatte? Dass er mich brauchte? Ich war mir nicht einmal sicher, warum ich mich nicht freute. Das war alles, was ich die ganze Zeit gewollt hatte. Und dennoch fühlte ich mich, als hätte er mir in den Magen geschlagen.
Wackelig kam ich auf die Beine, doch da war er bereits durch die Tür. Ihr Zufallen hallte in meinen Kopf nach, wie ein Trommelschlag. Ich hatte diesen Krieg ausgelöst. Und er hatte sich nicht noch einmal umgedreht.
Madame Acó hatte irgendwann einmal eine Regel festgelegt, wie lange ich mit einer anderen Person schweigend in einem Raum sitzen durfte, bevor die Stille merkwürdig wurde. Sie lag irgendwo zwischen zehn und dreißig Herzschlägen.
Lichi überschritt diese Zeitspanne minimal um zwei volle Stunden und ich war endlos dankbar dafür.
Ich stand wie eine Puppe in meinem Zimmer und ließ sie ihrer Arbeit nachgehen, den Blick auf die steinerne Wand mir gegenüber gerichtet. Ich würde nach Hause gehen. Ich würde Jac und Henric wiedersehen. Isabella und Madame Acó.
Ein Reitmantel und Handschuhe lagen auf meinem Bett bereit, ein Abschiedsgeschenk von wer-wusste-schon-wem. Wahrscheinlich waren sie alle froh, dass ich endlich verschwand. Warum konnte ich mich dann nicht freuen? Warum hatte ich die ganze Nacht nicht schlafen können?
Wie jeden Tag ging Lichi nach getaner Arbeit um mich herum, die Hände in die Hüfte gestemmt und die Stirn gerunzelt. Doch heute sah sie mir dabei ins Gesicht. Unzufrieden. Vorwurfsvoll.
Ich sah sie einfach an, eine wortlose Entschuldigung formulierend. Was hatte ich diesem Hof angetan? Genug, dass Yessi bereit war, das Wohl seiner Schwester zu opfern, um seine Leute von mir zu befreien.
Lichi blieb vor mir stehen und mit ihr die Zeit. Mit einer ausdruckslosen Maske starrte sie zurück. Für einen Herzschlag.
Für hundert Herzschläge.
Bis ich glaubte, meine Augen würden trocken werden.
Bis mir mein Korsett zu eng wurde und meine Atemzüge mich schwanken ließen.
Ich hatte versagt. Das war das Gefühl. Nicht nur in meinem Versuch, Moiras Mörder zu finden.
Andrew öffnete die Tür, eine Hand noch auf der Klinke. Er sah erst zu Lichi, dann zu mir und schließlich zu den Handschuhen und dem Mantel auf meinem Bett.
„Ich dachte, sie wäre bereit."
Lichi starrte mich einfach weiter an. Einen Herzschlag. Dann noch einen.
„Hol ihre Medizintasche", sie ballte die Finger zur Faust, als sie den Kopf zu Andrew drehte, „Die geht nirgendwo hin." Und damit ging sie an mir vorbei, sammelte den Mantel und die Handschuhe ein und stopfte beides in den Schrank.
Ich beobachtete sie aus großen Augen, unfähig mich zu bewegen. Doch mein Puls nahm an Fahrt auf.
Durfte ich das?
Andrew stand dieselbe Frage ins Gesicht geschrieben, doch er tat sie mit einem mürrischen Schulterzucken ab, kam ins Zimmer und griff meine Tasche. Im Vorbeigehen packte er meinen Oberarm und zog mich mit zur Tür.
„Vielleicht ist sie unseren Leuten ähnlicher, als wir angenommen haben. Wenn sie unbedingt Krieg sehen will, kann sie wenigstens dafür sorgen, dass die Leute auch gesund sind, wenn ihnen das Dach über dem Kopf weggenommen wird."
Ich stolperte hinter ihm her auf den Gang hinaus, ein flatterndes Gefühl in meiner Brust. Ich würde das wieder in Ordnung bringen. Ich würde einen Weg finden.
Zuerst gingen wir bei Cini vorbei, deren Verband ich mit Andrews Hilfe wechselte. Er hatte mir bei ihr schon so oft zugesehen und geholfen, dass wir wortlos miteinander auskamen und ich Zeit hatte, einen kleinen Plan zu formulieren.
Ich würde Yessi einfach nur lange genug aus dem Weg gehen müssen. Was nicht zu schwer sein sollte, wenn man bedachte, dass der Mann sich allerhöchstens zum Essen hinsetzte.
Als Zweites besuchten wir eine Mutter und deren Kind, das eine schwerere Form von der Krankheit hatte. Die Mutter berichtete, dass es sich die ganze Nacht und den ganzen Morgen übergeben hatte. Ihr Kind lag käsebleich auf dem Strohbett und zitterte vor Schüttelfrost. Sie selbst war so nervös, dass sie sogar vergaß, vor mir Angst zu haben.
Ich wandte mich an Andrew. Das hier wäre leichter, wenn wir beide dieselbe Sprache sprechen würden. Aber dafür war ich noch nicht bereit. Stattdessen fasste ich ihn streng ins Auge und sagte: „Lichi."
Andrew starrte zurück. Als ich keine Anstalten machte, mich zu wiederholen oder zu verbessern, stieß er einen halb-gebrummten Fluch aus, warf die Hände in die Luft und marschierte aus dem Zimmer.
Die aufgerissenen Augen der Mutter folgten ihm zur Tür und kehrten dann umso schneller zu mir zurück. „Bitte, ich flehe dich an, verfluch ihn nicht."
Ich saß auf dem Kinderbett, eine Hand noch immer auf der Stirn des unruhig schlafenden Kindes. Mit einem Seufzen erhob ich mich und beobachtete sie dabei, wie sie sich schnell wieder zwischen das Kind und mich stellte.
Ich schottete mich gegen das Gefühl ab und machte mich stattdessen daran, den Kamin wieder neu anzuheizen. Wusste man in Tacia nicht, dass Magie niemals jemandem aktiv schaden konnte? Das war schon seit dem Verschwinden der alten Götter so. Mindestens zwei Jahrhunderte her.
Ich saß noch an genau derselben Stelle, als Andrew mit Lichi wieder ins Zimmer kam.
„Du kannst ihr zuallererst sagen, dass ich nicht ihr Dienstbote bin", knurrte er die Kammerzofe an, die sich im Laufen ihre Hände an der Schürze abtrockneten. Ihr Blick glitt vollkommen passiv über die Mutter und das Kind, was für mich ein gutes Zeichen war.
Ich brauchte niemanden hysterischen hier im Zimmer.
„Du hast bestimmt andere Aufgaben zu tun, aber ich bräuchte dich nur für diesen Vormittag als Übersetzerin", sagte ich schnell, bevor sie Andrews Worte für mich wiederholte.
„Offensichtlich", war ihre ganze Antwort, während sie mich dabei beobachtete, wie ich aus der Asche aufstand.
Ich ignorierte ihre abweisende Haltung.
„Sag Andrew, dass ich einen Topf voll Wasser benötige, ein Glas und Salz."
„Warum?"
Ich marschierte zu meiner Medizintasche und begann darin herumzuwühlen.
„Wir müssen Wasser abkochen, um-..."
„Nein, warum schickst du Andrew? Ist es nicht deine Aufgabe, die Leute zu heilen?"
Ich stoppte in meiner Bewegung und drehte mich zu ihr um.
„Aber wie wir heute gesehen haben, besteht die Chance, dass ich nicht immer da sein werde."
Lichi blinzelte nicht.
„Du möchtest ihn ausbilden?"
Ich blinzelte ebenfalls nicht.
„So gut ich es kann."
„Gut." Sie starrte mich noch für einige Wimpernschläge länger nieder, ehe sie die Anweisungen an Andrew weitergab. Dann kam sie zu mir herüber und linste an mir vorbei in die Tasche. „Was kann ich so lange tun?"
Zu dritt zogen wir von Krankenzimmer zu Krankenzimmer. Mit Lichi und Andrew zusammen war es leichter, die Bewohner von meinen guten Absichten zu überzeugen.
Zuletzt fanden wir uns in einem Teil des Hofes wieder, den ich bisher noch nicht betreten hatte.
Vor mir lag ein kleiner Raum, der aus kaum mehr als einem Fenster, einem Nachtschrank, einem Stuhl und einem instabil anmutenden Bett bestand. Und in genau dieser Reihenfolge nahm ich die Gegenstände auch wahr, ehe mein Blick auf einem älteren Mann hängen blieb. Er hatte sich die Decke bis zur Nase hochgezogen, was ich bei den Temperaturen durchaus verstand.
Seit gestern Nacht regnete es in Tacia, was weder der Landschaft noch der Inneneinrichtung dieses Hauses einen Gefallen tat. Es tropfte beinahe überall herein. Zum Beispiel auch über meinem Bett. Aber ich wäre eher im Sakella Wald eingezogen, als etwas zu sagen.
„Lorik, wir sind hier, um dein Bein zu untersuchen", verkündete Lichi, als sie hinter mir in den Raum kam.
Der Mann zog probehalber die Decke unter sein Kinn. Nur ein kleines Stück, nicht dass sein Mund noch zufror. Seine wässrigen blauen Augen huschten über meine Erscheinung, als bestimme meine Kleidung die Kompetenz meines Handelns, dann zog er die Decke komplett über den Kopf.
Na gut. Offenbar war ich durchgefallen.
„Lorik", Lichis Stimme klang eine Spur drohend. Mit einem finalen Rumsen kickte sie die Tür mit der Ferse zu, was sowohl mich als auch mein Opfer gewissermaßen in diesem Raum einsperrte.
Mein Puls gewann sofort an Tempo.
„Das ist keine Nevanam. Das ist ein Kind", nuschelte es unter der Bettdecke hervor.
Ertapptes schlechtes Gewissen wanderte meinen Nacken hoch und flüsterte mir allerlei Szenarien zu, in denen ich jeden Moment auffliegen würde. Fast hätte ich nicht mitbekommen, dass der alte Kerl tatsächlich meine Sprache sprach.
Mit Gewalt zwang ich mein Gesicht zu einem neutralen Ausdruck.
„Wäre es dir lieber, wenn ich alt und kurzsichtig wie du wäre?", entgegnete ich trocken und stellte meine Tasche auf dem Nachttisch ab.
In meinem Rücken schnaubte Lichi und wechselte die Sprache.
„Ärgere sie nicht, sie wird sich später noch mit dem Herrn streiten."
Ein weißes Büschel Haare lugte unter der Decke hervor. „Das wird ihr leicht fallen. Du weißt am besten, wie gerne er Gegenwind bekommt."
Mit einem hohen Klappern fiel mir Jacs Ring aus der Hand und rollte unters Bett. Ich hatte überhaupt nicht bemerkt, wie ich ihn zwischen meinen Fingern hin und her gedreht hatte. Aber etwas an dem alten Mann hatte mich an meinen Bruder erinnert. Jac hätte den Spaß seines Lebens gehabt. Und Henric wäre wohl ohnmächtig geworden. Was wiederum mehr Spaß für Jac bedeutet hätte. Und für mich.
Andrew verzog das Gesicht und bückte sich nach meinem Schmuckstück. Beim wieder hochkommen stieß er sich den Kopf an dem hölzernen Bettgestell und kam mit einer Hand am Hinterkopf zurück.
„Heee, mach das nicht kaputt! Es ist das Einzige in diesem Haus, das genauso alt ist wie ich!", schnarrte ihn der alte Mann an, während der Steward ein wenig desorientiert versuchte, mir den Ring zurückzugeben.
Mein Herz klopfte lauter, als ich ihn hastig an mich nahm. Wussten sie was das war? Ich hatte vorher noch nie von dem milchigen Stein gehört, doch vielleicht war er hier weitverbreitet und Lichi würde gleich einschreiten, um ihn mir wegzunehmen.
„Weißt du überhaupt, was du tust, Kindchen? Du siehst nicht aus, als wärst du schon mit deiner Ausbildung fertig", machte Lorik weiter.
Sein Blick huschte unsicher zu meiner immer noch stirnrunzelnden Kammerzofe zurück, doch als ihm bewusstwurde, dass die ihm kaum helfen würde, fixierte er sich vollkommen auf mich. „Ein Qell-Kristall kann nicht alle Wunden heilen. Das ist ein Mythos und ich möchte nicht von Kindern behandelt werden, die an sowas glauben."
Es kostete mich alle Selbstbeherrschung, nicht überrascht den Kopf zu heben. Qell-Kristalle heilten Wunden? Jac hatte nur von seiner Anziehungskraft gegenüber seinem Partnerstein gesprochen.
„Andrew ist älter und viel weiser als ich. Er könnte dich behandeln, wenn dir das lieber ist", schlug ich geduldig vor, während ich den Ring verschwinden ließ und weiter meine Tasche auspackte.
„Nichts da!", schnappte der Alte sofort, „Nur ein Tölpel würde jemanden mit so großen Händen an sein Bein lassen. Die Männer von heute können doch nichts, als Äxte schwingen! Aber nicht gegen mein Bein, sag ich! Nicht gegen mein Bein!"
„Dann soll ich nicht den Qell-Kristall verwenden?", fragte ich mit einem unschuldigen Lächeln weiter, das meine brennende Neugierde kaschieren sollte. Wenn Jac den Ring wirklich von Neya hatte, waren die Chancen groß, dass der Stein aus einem anderen Land kam.
Der alte Mann gab einen dumpfen Laut zwischen Ärger und Schnauben von sich.
„Qell-Kristalle reinigen Wasser."
„Menschen bestehen zu großen Teilen aus Wasser."
„Und noch aus vielen anderen wichtigen Elementen. Meinem Wasser geht es gut, vielen Dank!"
Mit einem Augenrollen machte ich mich an die Arbeit. Doch meine Mundwinkel zuckten die ganze Zeit, während der alte Mann seine Meinung nicht nur über mich, sondern auch Lichi und den Steward kundtat.
„Sie wird langsam besser."
Wir waren gerade aus dem letzten Patientenzimmer auf den Gang hinausgetreten und Andrew hatte hinter Lichi die Tür geschlossen. Wir befanden uns in den Quartieren der Bediensteten, das direkt unter dem Dach noch mehr fließendes Wasser hatte, als ich daheim im Palast und der Boden musste dringend gepflegt werden, denn die Dielen hoben sich bereits an.
Lichi schnaubte nur.
„Sie ist eine verdammte Heilerin, Andrew, keine Priesterin der alten Götter. Auch wenn ihr das alle nicht wahrhaben wollt. Das ist ihre Aufgabe."
Ich gab mir größte Mühe unbeteiligt dreinzublicken, während ich den Zweien voraus den Gang hinunterlief.
„Du hast sie nicht am Anfang gesehen. Ich war mir sicher, sie würde ohnmächtig werden."
So ungern ich es zugeben wollte, aber er lag nicht falsch. Ich griff nach Jacs Ring in meiner Tasche. Heute war es anders gewesen. Andrew durch den Prozess von Wundheilung und Fieberbekämpfung zu sprechen war seltsam beruhigend. Als würde ich es mir selbst erklären, bevor ich es tatsächlich machen musste.
Ich warf einen heimlichen Blick zurück zu ihm und sein grantiges Gesicht entlockte mir ein winziges Lächeln.
Hastig wischte ich es wieder aus meinem Gesicht. Warum hatte ich das Gefühl, ich könnte es hier mögen? Das war kompletter Blödsinn. Ich war hier, weil mich die Spur zu Moiras Mörder hierhergeführt hatte. Nicht weil ich die Leute mochte.
Ich hatte einen Krieg ausgelöst, dem die Bewohner dieses Hofes jetzt (freudig) entgegensahen. Wenn ich etwas fühlte, dann Schuld, die ich begleichen wollte. Und vielleicht würde ich Bachar bereuen lassen, dass er dachte, dieser Hof wäre ein leichtes Ziel. Der Gedanke nagte derart an mir, dass ich mich blind in meine Arbeit stürzte.
Und am Abend hatte ich den ganzen Tag nicht gegessen. Das fiel mir auf, als ich in meinem Zimmer Pasten anrührte und erschreckend verlockt war, die Kräuter zu probieren. Was keine gute Idee war, wenn man Moira glauben durfte.
Außerhalb meines Fensters waren bereits die Lichter auf der Palisade angezündet wurden und das lebendige Treiben, das den Hof Tacias erfüllte, war zu einem entfernten Murmeln abgeebbt. Niemand arbeitete mehr im Garten, niemand hastete durch die Flure. Es war leise und verlockend friedlich.
Mein Magen knurrte erneut, als würde er Anstoß an dem Frieden nehmen. Ich stand vor meiner Werkbank zwischen großen, stark duftenden Büscheln fremder Kräuter, die aber eine sehr potente Alternative zu Kasaia-Paste bildeten. Das war noch genug Arbeit für die nächsten drei Tag und ich wollte gerade damit weitermachen, als mein Magen zu einem noch tieferen Grollen ansetzte.
Mit einem Seufzen ließ ich den Mörser auf die Tischplatte fallen und drehte mich wieder vollständig dem Fenster zu. Ich kannte Hunger. Ich hatte jahrelang Hunger gehabt. Ich würde bis zum Frühstück morgen warten.
Aber ein Schauder erinnerte mich daran, warum ich jetzt hungrig war und wieso der Speisesaal keinen Platz für mich hatte.
Vor meinem Fenster setzten die Grillen zu ihrem Konzert an, mehrstimmig und verlockend. In Eslaryn hatte ich den Garten bei Nacht geliebt. Die ruhenden Pflanzen, gemalt in privater Dunkelheit.
Gewollte Einsamkeit, die ich stets nur von meinem Zimmer aus hatte bewundern dürfen.
Wie von alleine legte ich meine Hand auf die Türklinke und öffnete meinen Weg in die Freiheit. Wen würde es hier interessieren, wenn ich Koch noch schnell einen Besuch abstattete und fragte, ob ein wenig Brot übriggeblieben war? Die Antwort war vermutlich: Koch. Aber die ältere Frau mit den roten, runden Wangen war eine von den Wenigen gewesen, die mir sogar zugelächelt hatte, als wir uns einmal im Garten begegnet waren.
Es war noch nicht vollständig dunkel. Ein grau-blauer Himmel hob sich mit schwindendem Kontrast gegen das dunkle Dach des Hauses ab und spendete mir gerade genug Licht, dass ich keine Laterne mitnehmen musste.
Kies knirschte unter meinen Füßen und nahe der Mauer drehte sich ein Soldat um, der meinen Weg mit wenig Interesse verfolgte. Lachen schallte aus dem Wachtraum nahe dem Haupteingang heraus, wo ich weitere Männer ohne Aufsicht vermutete, die den ausgerufenen Krieg betranken.
Ich raffte meinen Rock und machte mich auf den Weg. Wie mein eigenes Zimmer auch, hatte die Küche einen Eingang vom Haupthaus und einen Eingang vom Garten aus. Die Luft schmeckte bereits vor der rauen Holztür nach Brot und Hefe, nach Gewürzen und Kräutern, die viel mehr für den Verzehr geeignet waren als meine Eigenen.
Mein Magen wollte schon wieder eine Begrüßung knurren, doch ich presste mit beiden Händen auf meinem Bauch das Geräusch zurück. Das warme Licht in einem der Fenster erfüllte mich mit der Hoffnung, dass Koch noch nicht in ihren verdienten Feierabend gegangen war oder mit den anderen Mitgliedern des Haushaltes im Speisesaal aß. Vorsichtig drückte ich die Tür auf-...
... und stand Yessi gegenüber, dessen dunkle Augen wie geschmolzener Stahl in meine Seele starrten.
"Die Leser von heute können doch nichts anderes als Äxte schwingen!" - beweist Lorik, dass er keine Ahnung hat :D
Jedes Mal, wenn ich Yessi schreibe, muss ich daran denken, dass Dinah ihn als König lieben würde xD Nicht auf eine romantische Art und Weise, sondern er ist all das, was sie Constantin immer predigt :D
Und Kaliee findet ihn einfach nur schwierig xD aber ich will mir gar nicht ausmalen, was sie zu Constantin sagen würde xD
...
Wenn ich den Dämonenstein zu Ende geschrieben habe, könnte ich mit Michael ein Crossover durch die Welten haben... xD
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