33. Der Geheimbund der Elemente
Obwohl es den ganzen Tag bewölkt war, zeigt sich die Sonne abends kurz vor dem Untergehen noch einmal. Die tiefhängenden Wolken strahlt sie in einem kräftigen Rot an. Unter uns liegt die grüne Hügellandschaft der Toskana. Aus der Luft wirkt sie beeindruckender als am Boden. Überall sind Wälder, Felder, Dörfer und verwinkelte Gassen. Doch ich bin unempfänglich für jeden Anblick der Schönheit. Es ist, als wäre ich taub geworden und würde nur noch parallel zu meiner Umwelt existieren, aber nicht mit ihr zusammen.
Die Bilder, die meine Augen wahrnehmen, gleiten vage an mir vorbei. Noch immer kann ich nicht begreifen, was heute Nachmittag geschehen ist und es wird vermutlich auch eine ganze Weile dauern, bis ich das alles verstehen kann. Falls es jemals so weit kommen sollte. All die Befürchtungen, die ich hatte, als ich Kate am Samstag auf unserer Wanderung schreien hörte, kehren mit einem Schlag zurück. Doch nach außen bin ich ruhig. Fast unnatürlich ruhig.
Neben mir sitzt Pietro in dem Helikopter, mit dem uns Giacomo Falcini und Signor Belluco abgeholt haben. Er hat seine unverletzte Hand fest um meine gelegt. Doch nicht mal diese Berührung spüre ich. Seine andere Hand liegt in der seiner Cousine Alessia. Sie hat dunkelbraune Augen und schulterlange, beinahe unbezähmbare Locken. Da sie das Element Feuer beherrscht, war sie es, die den Waldbrand hervorgerufen hat. Nun versucht sie, mit ihrem Element Pietros Verbrennung zu heilen. Als sie die Brandblasen auf seiner Haut gesehen hat, ist sie sogar ein bisschen blass um die Nase geworden. Ich glaube, sie fühlt sich schuldig.
„Sie haben es versucht", sagt Pietro mindestens zum dutzendsten Mal, seit wir losgeflogen sind, aber dadurch ändert er nichts an der Situation. Es wirkt ein bisschen, als wollte er sich selbst erklären, was passiert ist und wie sein Onkel Giacomo bei Kates Rettung scheitern konnte.
Nachdem ich Signora Belluco von Pietros Handy aus angerufen habe, hat sie sofort ihren Mann und Giacomo informiert. Sie haben den Helikopter genommen, damit sie so schnell wie möglich bei uns sein konnten. Begleitet wurden sie von Alessia und Philippe Falcini, den Kindern Giacomos und Elementträgern. Alessia beherrscht das Feuer und Philippe die Erde. Mit ihren Elementen haben die zwei versucht, die Cinquenti aufzuhalten. Und sie konnten die fünf tatsächlich davon abhalten, uns anzugreifen. Aber es ist ihnen nicht gelungen, Kate zu befreien, denn als sie einen Landeplatz für den Helikopter gefunden hatten, der frei von den Kraftfeldern des fünften Elements war, waren die Cinquenti schon mit dem Minibus und meiner Schwester verschwunden. Pietros Auto hat einen Totalschaden, da die Cinquenti es mit ihrer Magie von der Straße gefegt haben und die Reifen an den Motorrädern, die sie am Parkplatz zurückließen, haben sie zerstochen. Vermutlich, damit wir nicht auf die Idee kommen, ihnen darauf hinterher zu fahren.
Ich habe vorgeschlagen, den Cinquenti mit dem Helikopter zu folgen, aber Giacomo hielt das für keine gute Idee. „Nun ja, die Cinquenti sind mächtig. Mit einem Angriff wie heute haben wir nicht gerechnet. Um ehrlich zu sein, weiß ich selbst nicht, was wir jetzt am besten tun. Wir werden erst mal zum Hauptquartier zurückkehren, das ist am sichersten", sagte er zu mir, „dort schauen wir, was wir noch machen können."
Klingt so, als hätte er schon aufgegeben, bevor wir überhaupt eine Chance hatten, meine Schwester zu retten. Aber ich will nicht aufgeben, bloß weil die Cinquenti einen Vorsprung haben. Immerhin geht es hier um meine kleine Schwester, Kate. Sie braucht mich und ich werde nicht aufgeben, ehe ich sie gefunden habe.
„Lucca hat gesagt, sie müssen bis Mitternacht an der Grenze sein", flüstere ich tonlos und sehe dann zaghaft zu Pietro hinüber, „vielleicht wollen sie das Land verlassen."
„Ja, ich weiß. Giacomo vermutet, dass sie nach Schottland fahren wollen", erklärt Pietro mir, „zum schwarzen Schloss " Ich habe keine Ahnung, was das schwarze Schloss sein soll. Oder wo das genau liegt. Es klingt fast schon absurd. Wie ein Ort aus einem Märchen. Düster und hoffnungslos.
Der Flug mit dem Helikopter dauert nicht lange. Schon bald verliert der Hubschrauber an Höhe und wir setzen zur Landung an. Nachdenklich lasse ich meinen Blick über Signor Belluco, Giacomo und Philippe schweifen. Sie sitzen mir gegenüber. Signor Belluco und Giacomo sehen einander so unähnlich, wie Geschwister sich nur sein können. Während Signor Belluco athletisch und blond ist, ist sein Bruder hager, jedoch mit dem Ansatz eines kleinen Bäuchleins. Giacomo hat graues, schon schütter werdendes Haar und blickt mich durch die Gläser seiner Brille neugierig an. So als wäre ich ein spannendes, neues Forschungsobjekt. Es ist mir etwas unangenehm, dass er mich so beobachtet. Wenn ich ihn ansehe, kann ich mir nur schwer vorstellen, dass er der kleine Junge aus Marias Tagebuch sein soll. Mittlerweile ist er schließlich selbst schon Anfang sechzig.
Neben ihm sitzt sein Sohn Philippe, der mich ebenfalls schweigend ansieht. Er wirkt ziemlich schüchtern und ist nur wenige Jahre älter als ich. Jedes Mal, wenn ich versuche, Philippes Blick zu erwidern, wandern seine Augen zu seinen Schuhen. Auf seiner Nase sitzt eine rahmenlose Brille und über das Hemd, das er bis zum Kragen zugeknöpft hat, trägt er einen Pullunder. Bis auf seinen Namen hat er noch kein Wort zu mir gesagt.
Seine Schwester Alessia dahingegen hat sich mit einem kräftigen Händedruck bei mir vorgestellt und wollte sofort wissen, wie es uns geht. Dann hat sie mich gefragt, wie viel ich über die Elemente weiß. Ich habe nur ganz knapp von Marias Tagebuch erzählt. Mehr habe ich nicht über die Lippen gebracht. Dazu sitzt der Schreck, Kate verloren zu haben, noch zu tief in meinen Knochen. Daraufhin hat Alessia nur verständnisvoll genickt. „Wir haben schon immer geahnt, dass Großmutter irgendetwas zu verbergen hatte. Nun wissen wir auch was", hat sie gessagt. Doch jetzt schweigt auch sie.
Mit einem lauten Ruck kommt der Helikopter auf dem Boden auf. Wir werden kräftig durchgeschüttelt. Dann verstummt das Geräusch des Rotors. Giacomo ist der Erste, der steht. Er öffnet die Tür für uns.
Gemeinsam mit Pietro klettere ich aus dem Helikopter. Vor uns liegt die Villa Belluco im letzten Licht des Tages. Die Strahlen der untergehenden Sonne spiegeln sich in den Fenstern des Gebäudes, wodurch es in rot und orange strahlt. Wir sind auf dem großen Vorhof gelandet, der ziemlich mit Autos zugeparkt ist. Sieht ein bisschen so aus, als würde hier eine besondere Veranstaltung stattfinden.
„Hier ist ja ganz schön was los...", stelle ich verwundert fest. Als wir das letzte Mal in der Villa Belluco waren, standen hier nur die Luxuskarren der Familie. Jetzt aber reihen sich dutzende Automarken und Modelle aneinander.
„Ja, so viele kommen normalerweise nur an der Jahreshauptversammlung", antwortet Pietro, „heute Abend hat sich scheinbar der ganze Geheimbund der Elemente hier versammelt."
„Warum ausgerechnet hier?", will ich wissen.
„Das ist unser Hauptquartier", sagt Signor Belluco und legt mir vorsichtig seine Hand auf den Rücken. Unter der Berührung zucke ich zusammen. Entschuldigend sieht Signor Belluco mich an und zieht seine Hand wieder zurück. „Lass uns hinein gehen. Dort erklären wir dir alles", sagt er.
Wir laufen über den knirschenden Kiesweg in der Einfahrt, vorbei an den Autos. In der Villa Belluco selbst wartet jedoch die größere Überraschung auf mich. Die Empfangshalle und das Esszimmer sind mit dutzenden Tischen zugestellt, auf denen alte Dokumente liegen oder auf denen Computer und die neuste Technik aufgebaut sind. Ich fühle mich ein bisschen, als wäre ich im Polizeirevier einer Krimiserie gelandet. Wie konnte sich dieses Haus nur so schnell verwandeln?
Staunend bleibe ich auf der Türschwelle stehen und beobachte, wie Leute zwischen diesen Tischen hin- und herhuschen. Die Mitglieder des Geheimbundes der Elemente. Die meisten sind im Alter von Signor Belluco und Giacomo. Nur wenige scheinen jünger zu sein. Einige der Mitglieder telefonieren angeregt, während andere schwere Bücher oder Aktenordner tragen. Immer wieder fasse ich einzelne Gesprächsfetzen auf wie „Cinquenti", „Bernardo Falcini" oder „Catherine Peterson".
Als Giacomo hinter mir über die Türschwelle tritt, verändert sich etwas in den Mitgliedern des Geheimbundes. Jedes der Mitglieder sieht von der Arbeit auf und mit erwartungsvollem Blick zur Tür hinüber. Sie wirken ehrfurchtsvoll, aber gleichzeitig auch froh darüber, Giacomo zu sehen. Ein bisschen wie alte Freund:innen. Die meisten von ihnen nicken uns freundlich zur Begrüßung zu. Eine Frau fragt sogar völlig verstört: „Giacomo, weshalb hast du eine Versammlung einberufen. Was ist passiert?"
„Meine Tochter und mein Bruder werden euch alles erklären", erwidert Giacomo, „ich werde mich jetzt erst mal die junge Signorina Peterson kümmern." Dabei sieht er mich an. Auch die Frau wirft mir einen flüchtigen Blick zu, dann nickt sie jedoch ernst. Tränen treten in ihre Augen und ich meine zu hören, wie sie leise wispert: „Das ist alles so schrecklich. Nicht schon wieder."
„Lass uns in die Küche gehen", sagt Giacomo an mich gewandt, „da haben wir vielleicht ein bisschen Ruhe." Dankbar dafür nicke ich. Ruhe ist das, was ich jetzt besonders brauche. Pietro sieht mich entschuldigend an und erklärt mir, dass eine Ärztin unter den Mitgliedern des Geheimbundes sei und dass dieser seine verbrannte Hand versorgen werde, die Alessia nicht vollständig heilen konnte.
Erneut nicke ich, wobei ich mir wie ein Roboter vorkomme. Ohne Pietro fühle ich mich zwar ein bisschen alleine, aber es ist wichtiger, dass jemand nach seiner Verbrennung sieht. Also lasse ich mich von Giacomo zur Küche der Villa führen.
Die Küche selbst ist ein großer Raum, in dem ein kleiner, runder Tisch steht. Dort bereitet Signora Belluco gerade belegte Brote zu. Als sie uns sieht, hört sie sofort mit ihrer Arbeit auf. „Sandro hat erzählt, ihr habt es nicht geschafft", meint sie besorgt. Daraufhin schüttelt Giacomo den Kopf. „Nein, wir kamen zu spät", erklärt er.
„Oh mein Gott, was ist passiert?", wispert Signora Belluco, doch Giacomo kneift nur die Lippen zusammen. „Alessia erzählt es gerade den anderen. Ich würde jetzt gerne mit Signorina Peterson alleine reden", antwortet Giacomo.
„Ja... ja... selbstverständlich...", erwidert sie. Dann huscht sie aus der Küche, aber nicht, ohne mir vorher noch einen mitleidigen Blick von der Seite zu zuwerfen. Nachdem sie den Raum verlassen hat, herrscht für einen Moment eine unangenehme Stille, in der weder Giacomo, noch ich wissen, was wir sagen sollen. Schließlich räuspert er sich. „Nimm doch Platz, Brionna", meint er und deutet auf einen Stuhl an dem runden Tisch. Während ich mich hinsetze, fragt er: „Möchtest du etwas trinken?"
„Nein danke", nuschele ich und starre auf die belegten Brote, die in der Mitte des Tisches stehen. Nicht mal Hunger verspüre ich, obwohl das nach den Anstrengungen des Tages nur zu erwarten gewesen wäre. Eine Welle der Überforderung spült über mich hinweg. Es gibt eigentlich so gut wie nichts, was ich will. Außer dass meine Schwester bei mir ist. Ich kann nicht fassen, dass ich sie vielleicht sogar für immer verloren habe. Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen.
„Ein Brot vielleicht?" Giacomo runzelt die Stirn.
„Nein, danke."
„Macht es dir was aus, wenn ich etwas esse?", möchte er wissen. Ich schüttele leicht mit dem Kopf, woraufhin er sich erst mal eines der belegten Brote in den Mund schiebt und sie mit einem Glas Wasser hinunterspült.
„Das war ein sehr anstrengender Tag, verzeih. Ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt", meint er und streckt mir seine Hand entgegen, „ich bin Giacomo Falcini. Pietros Onkel."
„Brionny Peterson", antworte ich schwach und ergreife seine ausgestreckte Hand flüchtig.
„Ich weiß... ich weiß... du warst als Kind ein paar Mal auf Pietros Geburtstag. Daher kenne ich dich noch."
„Und ich kenne Sie aus dem Tagebuch Ihrer Mutter." Ich bemühe mich um ein schwaches Lächeln, aber es fühlt sich so qualvoll an, dass ich den Versuch schnell aufgebe. Vor meinem inneren Auge sehe ich den Jungen, den Maria in ihrem Tagebuch beschreibt und der in der Nacht, als Falcini alle Elementträger tötete, ein Augenzeuge jenes Geschehens war. Aber es dieser Junge und der Mann, der gerade vor mir sitzt, scheinen zwei völlig verschiedene Menschen zu sein. Die Jahre, die zwischen dem Massenmord an den Elementträgern und heute liegen, scheinen allein in Giacomos Person auf einmal so greifbar.
Ein überraschtes Staunen gleitet über Giacomos Gesicht, aber er wird schnell wieder ernst und nickt. „Sag doch bitte du zu mir", entgegnet er, „ich bin Giacomo."
Jetzt bin ich diejenige die nickt. Als er nichts weiter darauf erwidert, sage ich: „Okay... Giacomo."
Giacomo kratzt sich gedankenverloren in der Ellenbeuge. „Nun ja... das Tagebuch... das hat sie bei euch zu Hause versteckt", sagt er, mehr zu sich als zu mir.
„Unter den losen Dielen in meinem Zimmer", antworte ich.
Wieder nickt Giacomo. „Wir wussten, dass sie Tagebuch geführt hat und dass sie vermutlich all ihre Geheimnisse aufbewahrt hat. Nur wo, das wussten wir nie."
„Vielleicht wollte sie nicht, dass ihr das Tagebuch findet", gebe ich zu bedenken. Ich weiß, das klingt nicht gerade nett, aber es scheint die Wahrheit zu sein. Denn hätte Maria ihr Geheimnis an ihre Söhne weitergeben wollen, hätte sie ihnen unser Haus vererbt und nicht meinen Großeltern. Außerdem hätte es einfachere Wege gegeben, Giacomo oder Signor Belluco das Tagebuch zukommen zu lassen, als es unter losen Dielen auf dem Dachboden zu verstecken.
„Gut möglich." Giacomo seufzt und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. „Meine Mutter war eine sehr geheimnisvolle Frau. Sie hat ihre Gefühle so gut wie immer vor uns verborgen. Gerade als sie älter wurde, war es schwer, dahinter zu kommen, was in ihr vorgeht. Nun gut, aber jetzt zu etwas anderem. Brionna, wenn ich das richtig verstehe, beherrschen du und deine Schwester Caterina ein Element", fährt Giacomo fort.
„Nur Kate. Ich nicht", korrigiere ich.
„Nun ja. Genau genommen müsstest du auch eins beherrschen. Selbst wenn sich das bis jetzt noch nicht gezeigt hat. Schließlich seid ihr Geschwister von demselben Elternpaar. Und die besitzen immer und ohne Ausnahme beide ein Element", erklärt er.
„Es ist doch auch möglich, dass sie es von jemand anderem hat", schlage ich vor.
„Das würde ich eher ausschließen. Viel wahrscheinlicher ist, dass du eine Blockade in deinem Kopf mit dir herumträgst, die es dir unmöglich macht, dein Element zu benutzen", meint Giacomo. Verständnis huscht über seine Züge. Von dem Tagebuch weiß ich, dass er selbst seine Fähigkeiten als Elementträger nicht mehr benutzen kann. Nach dem Tod seines Sohnes Leonardo war seine Verbindung zu den Elementen gekappt. Der Verlust seines Kindes war so traumatisch, dass er sich nie richtig davon erholen konnte. Da ich nicht recht weiß, was ich darauf sagen soll, zucke ich ratlos mit den Schultern.
„Vielleicht gibt es etwas Traumatisierendes in deinem Leben, das du verdrängt hast", fährt Giacomo fort, „und wenn das so ist, dann kannst nur du alleine deine Vergangenheit bewältigen, damit sich deine Fähigkeit zeigt."
Mir ist es so was von egal, ob ich ein beschissenes Element beherrsche oder nicht. Meine Schwester bringt mir das auch nicht zurück. Eigentlich ist es mir schon fast lieber, ich wäre ein stinknormaler Mensch. Denn ein Element zu beherrschen, das führt nur zu Problemen, wie man ja am Beispiel von Kate bestens sieht. In diesem Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass sie diese bescheuerte Fähigkeit nie besessen hätte. Denn dann wäre sie noch hier, bei mir.
„Ich glaube nicht, dass es in unserer Familie oder unter unseren Vorfahren noch andere Elementträger gibt", sage ich, „Kate und ich haben zwar keinen Kontakt zu unserem Vater, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der irgendwas mit den Elementen oder den Legenden von Pergula zu tun hat."
Giacomo runzelt die Stirn. Nur langsam öffnet er den Mund. Für einen Moment wirkt es so, als wollte er mir etwas sagen, entschließt sich dann aber dagegen. Schließlich fragt er jedoch: „Du kennst die Legenden von Pergula?"
„Ja, Lucca Telloni hat mir davon erzählt. Du weißt schon... einer der Cinquenti."
„Nun ja, ihr Anführer." Anführer. Auch das noch. Giacomo lächelt milde, wodurch ich mich für einen Moment noch schuldiger fühle, als ohnehin schon. Hätte ich Lucca nicht vertraut und ihn nicht an mich herangelassen, wäre es niemals so weit gekommen. Dann wäre Kate jetzt in Sicherheit.
„Er ist der Älteste von ihnen. Ich schätze, dass er deshalb zum Anführer gewählt wurde", fährt Giacomo langsam fort. „Wie habt ihr eigentlich herausgefunden, dass deine Schwester die Fähigkeit zu einem Element besitzt?"
„Also, das war so...", beginne ich und schon im nächsten Moment erzähle ich ihm alles, was passiert ist, seit ich Marias Tagebuch gefunden habe. Es tut gut, endlich das, worüber ich wochenlang geschwiegen habe, raus zu lassen. Natürlich, eigentlich ist es ein Schwesterngeheimnis von Kate und mir, aber ich habe das Gefühl, Giacomo sollte von all dem erfahren. Vielleicht kann er uns so besser helfen.
Meine Erzählung beende ich mit den Ereignissen des heutigen Tages. Danach falte ich die Hände unruhig in meinem Schoß zusammen. Ich erwarte, dass Giacomo noch mehr Fragen stellt oder verärgert ist, weil wir nicht gleich zu ihm gekommen sind, nachdem uns klar war, dass er uns womöglich weiterhelfen könnte, aber er nickt nur. Erneut betrachte ich sein Gesicht. Diesmal etwas aufmerksamer. Es ist ziemlich dünn, ausgemergelt und faltiger, als ich es bei einem Mann in seinem Alter erwartet hätte. Trotzdem hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit Maria. Die Narbe an seinem Kinn verleiht ihm dahingegen etwas Individuelles, Ausdrucksstarkes.
„Ich verstehe", sagt er schließlich zu mir, „nun ja, da seid du und Caterina in eine ziemlich verwirrende Welt hineingeraten." Verständnisvoll lächelt er mich an. „Hast du irgendwelche Fragen diesbezüglich?"
Vollkommen perplex starre ich ihn an. Normalerweise müsste er doch derjenige sein, der mir Fragen stellt und nicht umgekehrt. „Ähm...", sage ich und überlege einen Moment. „Ist Maria Veccas Geschichte tatsächlich wahr?"
„Was meinst du damit?"
„Dass sie gegen Bernardo Falcini gekämpft hat und dann aufs Land geflohen ist", sage ich.
„Ja, das stimmt." Giacomo reibt sich müde über die Augen. „Meine Mutter hat ihr Leben lang gegen das fünfte Element und meinen Vater gekämpft. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an das, was damals in den Sechzigern passiert ist. Für mich haben wir eigentlich schon immer hier auf dem Weingut gelebt. Simone Belluco war wie ein Vater für mich. Falcini hat sich nie wirklich um mich gekümmert. Die paar Monate, die ich mit ihm verbracht habe, zählen nicht."
„Hast du deshalb den Geheimbund der Elemente neu gegründet?"
„Nun ja, nachdem Falcini alle Elementträger vernichtet hatte, hat meine Mutter versucht, die Wahrheit vor mir zu verbergen. Aber irgendwann konnte sie es nicht mehr. Als ich älter wurde, verfeinerte ich meine Fähigkeit zur Kontrolle über die Elemente und sie musste mir die ganze Geschichte erzählen. Zunächst änderte das Wissen über meine Vergangenheit nichts an meiner Situation, doch als ich dann mit dem Studium begann, wurde ich von den Cinquenti angegriffen. Von eben den Gestalten, die dich und Caterina in den Ruinen von Pergula überrascht haben. Sie haben Susanna verletzt, meine Frau.
Ich konnte ihnen damals entkommen, doch ich wusste, dass ich in ständiger Gefahr leben würde und die, die ich liebte ebenfalls. Nun ja, ich war auf Hilfe angewiesen und wollte Falcini nicht ausgeliefert sein. Also rief ich gemeinsam mit meinen Freunden und meiner Frau den zweiten Geheimbund der vier Elemente ins Leben und obwohl kaum jemand von ihnen selbst etwas mit den Elementen zu tun hat, unterstützen sie mich bis heute."
Das ist schön. Freundschaft, die trotz all der Gefahren, mit denen der Geheimbund der vier Elemente zu kämpfen hat, so lange hält. Ich sage nichts, doch insgeheim wünsche ich mir, irgendwann in meinem Leben auch einmal einen so starken Zusammenhalt zu erleben. In diesem Augenblick trifft mich Luccas Verrat noch ein bisschen härter.
Da fällt mir etwas anderes ein, das Pietro heute zu mir gesagt hat. „Wie schaffst du es, dich und deine Kinder vor den Cinquenti zu schützen?"
Als ich das sage, verändert sich etwas in Giacomos Mimik. Das Lächeln, das er aufsetzt, wirkt auf einmal gezwungen und künstlich. Beinahe so, als trüge er eine Maske. Der Blick aus seinen Augen wird stumpf.
„Das ist mir bei Weitem nicht immer gelungen. Wie genau Falcini die Cinquenti erschaffen hat, kann ich dir nicht sagen. Er muss es irgendwie mit dem fünften Element gemacht haben, dessen Kraft er auf andere Menschen übertrug. Diese Menschen sind der Kraft der vier Elemente gewachsen. Die Elemente selbst können ihnen nichts anhaben. Es sei denn, ein Elementträger kombiniert seine natürliche Kraft mit der Macht der Artefakte. Was Artefakte sind, weißt du, oder?"
Ich nicke. In Marias Tagebuch steht, dass Artefakte Schmuckstücke oder Werkzeuge sind, die mit der Kraft eines Elementträgers magisch aufgeladen wurden und die folglich einem ganz normalen Menschen die Fähigkeit zu einem Element verleihen können, sollte er das Schmuckstück tragen. Pietro hatte heute so ein Artefakt dabei.
„Und trotzdem ist es mir nicht gelungen, meinen Sohn Leonardo vor den Cinquenti zu beschützen. Sie haben ihn entführt und umgebracht. Damals habe ich zwei der Cinquenti getötet, bevor mich all meine Kräfte auf einen Schlag... verließen."
Unwillkürlich zucke ich zusammen. Obwohl Giacomos Reaktion auf den Tod seines Sohnes nur verzweifelt und verständlich ist, erschreckt es mich trotzdem, dass ich einem Mann gegenüber sitze, der zwei anderen Menschen das Leben genommen hat. Schnell versuche ich, meine Gedanken auf etwas anderes zu richten.
„Was meinst du, wenn du sagst, deine Kräfte haben dich verlassen?", beginne ich, komme mir im nächsten Augenblick aber dumm vor. Diese Frage ist ziemlich intim. Ich kann gut verstehen, wenn er darauf nicht antworten möchte.
Doch Giacomo holt lediglich tief Luft. „Nun ja, die Fähigkeit, ein Element zu steuern, wird oft von den Gefühlen geleitet. Vor allem dann, wenn man sie nicht unter Kontrolle hat. Genauso wie Gefühle ein Element in dir hervorrufen können, können sie es jedoch auch wieder verstummen lassen. Besonders wenn dir etwas Traumatisierendes widerfahren ist. Ich glaube, auch du kannst nicht auf dein Element zugreifen, weil da etwas Traumatisierendes, Schreckliches in dir sitzt." Das glaube ich nicht, deshalb übergehe ich den letzten Satz Giacomos einfach.
„Aber deine anderen Kinder, die besitzen doch die Fähigkeit zu einem Element, oder?", frage ich.
„Ja."
„Warum konnten sie meine Schwester dann nicht vor den Cinquenti beschützen?"
„Lucca Telloni und seine Freunde sind die Kinder der ehemaligen Cinquenti. Nachdem mir die Cinquenti nichts mehr anhaben konnten, weil ich mit der Magie der Artefakte mächtiger war als sie, bemerkte Falcini, dass die Gestalten, die er geschaffen hatte, nicht fehlerfrei waren. Noch dazu wurden einige von ihnen furchtbar krank, weil ihre Körper die Macht des fünften Elements nicht vertrugen. Falcini experimentierte weiter und schuf sich schließlich neue Cinquenti, die diesmal auch mit einem Artefakt ausgestattet und deshalb nach unser Theorie mächtiger sein müssten als wir, die Elementträger der vier Elemente. Der Diamant, den die Cinquenti als Ohrring tragen, ist ein Stück von Podoeris versteinertem Herz. Zumindest, wenn man an die Legenden glaubt. Er verleiht seinen Trägern unglaubliche Fähigkeiten und Kräfte. Doch all die Jahre lang waren Lucca Telloni und die anderen nicht mehr als Kinder für uns... keine wirkliche Gefahr. Nie haben sie uns angegriffen. Zumindest nicht bis zum heutigen Tag."
Zumindest nicht bis zum heutigen Tag. Das schmerzhafte Gefühl in meiner Magengegend wird für einen Moment stärker. Es scheint, als hätte Lucca tatsächlich nur auf den richtigen Moment gewartet, um zu zuschlagen. Und Kate und ich waren sein Mittel zum Erfolg. Ohne uns wären er und die anderen vermutlich noch lange bloß eine harmlose Bedrohung geblieben.
Jedes Mal, wenn wir uns unterhielten, hat er mir gerade genug verraten, um mich neugierig zu machen, aber nie so viel, dass er irgendwelche Geheimnisse der Cinquenti ausgeplaudert hätte. Auch bezüglich des fünften Elements hat er sich immer sehr zurück gehalten. „Weißt du, was das fünfte Element ist?", frage ich.
Daraufhin schüttelt Giacomo nur mit dem Kopf. „Meine Eltern wussten es, aber sie wollten es mir nie verraten. Ich kann lediglich Vermutungen anstellen, aber die nutzen nicht viel. Steht darüber nichts in dem Tagebuch meiner Mutter?"
Nun muss auch ich mit dem Kopf schütteln. „Sie wollte es nicht niederschreiben, weil sie Angst davor hatte. Außerdem fehlt das Ende des Tagebuchs."
„Das habe ich befürchtet."
„Was wirst du jetzt tun?"
„Ich weiß es nicht. Alles, was in meiner Macht steht. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass es uns gelingt, deine Schwester zu befreien. Wir müssen mit Bedacht an diese außergewöhnliche Situation herantreten und dürfen uns dabei nicht selbst gefährden."
Natürlich kann ich ihn verstehen. Trotzdem bin ich bitter enttäuscht. Ich würde alles tun, wirklich alles, um Kate zu befreien. Vielleicht wäre es doch gar nicht so schlecht, wenn ich ein Element kontrollieren könnte. Dann wäre ich wenigstens in der Lage, mehr für Kate zu tun.
Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen, wäre das möglich. Aber so bleibt mir nichts weiter übrig, als Giacomo und dem Geheimbund zu vertrauen. Das schale Gefühl von Ohnmacht breitet sich in meinen Eingeweiden aus.
Als ich von Giacomo wissen will, was ich machen soll, zuckt er nur mit den Schultern und meint: „Bleib erst mal hier, iss etwas und ruh' dich aus. Falls es etwas Neues gibt, lasse ich dich das wissen." Mit diesen Worten steht er auf. „Ich werde jetzt nach den Mitgliedern des Geheimbundes sehen."
„Ist gut", antworte ich. Vielleicht ist es nicht schlecht, für einen Moment mal alleine zu sein. Dann kann ich besser nachdenken. Giacomo schlurft mit schweren, müden Schritten aus der Küche. Bevor er jedoch die Tür hinter sich schließt, dreht er sich noch einmal zu mir um.
„Du erinnerst mich... nun ja, an sie, weißt du?"
„An wen?"
„An meine Mutter, Maria Vecca."
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