31. Verraten
Die Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht. Für einen Moment wird das Fallgefühl in meinem Magen so stark, dass ich um mich herum gar nichts wahrnehme, sondern nur einen bodenlosen Abgrund vor mir sehe, in den ich hineinstürze. Tiefer und tiefer, doch der Boden ist noch immer nicht in Sicht und ich falle weiter in Erwartung eines schmerzhaften Aufpralls.
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber schlechte Nachrichten, die mein Leben verändern, versetzen mich in einen albtraumartigen Zustand, in dem ich völlig abgeschnitten bin von dem Rest der Welt. Alle Sinneseindrücke von außen bleiben hinter mir zurück. Ich bin überrascht, dass ich nach einer ersten Welle des Schocks gar nichts mehr spüre. Als wäre ich innerlich ertaubt.
Lucca, Serafino, Emma, Hector und Ludo. Die Spione Falcinis? Das kann ich mir nicht vorstellen. Niemals wären die fünf in der Lage, jemanden zu verletzen oder ihm andere Dinge anzutun, von denen Maria in ihrem Tagebuch berichtet. Außerdem haben uns die Spione verfolgt, als wir bei den Ruinen von Pergula waren. Hätten die Fünf nicht da schon merken müssen, dass Kate eine Elementträgerin ist? Weshalb haben sie sie dann nicht unschädlich gemacht? Mehr als genug Zeit und Gelegenheiten dazu hatten sie ja.
Stattdessen hat Emma Kate das Leben gerettet und das sogar mit Hilfe eines Elements. Das Gespräch der fünf Freund:innen, das ich belauscht habe, beweist das ganz eindeutig. Und dann wäre da noch etwas.
„Ich dachte, sie wären Elementträger. Das stand doch auch auf dem Zettel, der bei euch zu Hause auf der Kommode lag, als wir euch mit Mum besucht haben. Und der so plötzlich verschwunden ist", widerspreche ich. Bestimmt hat Pietro da irgendetwas falsch verstanden. Alles andere ergibt keinen Sinn.
„Dann hast du ihn also gesehen?", fragt er erschrocken, „mein Vater hat ihn mit Hilfe eines Artefakts verschwinden lassen, bevor du ihn dir durchlesen konntest."
„Also sind Lucca und die anderen Elementträger", stelle ich fest.
Daraufhin nickt Pietro. „Träger des fünften Elements, ja."
„Du lügst", sage ich schwach, weil ich seinen Worten nicht glauben will. Mein Verstand weigert sich, das einfach so hinzunehmen. Aber irgendwo, tief in meinem Inneren, spüre ich, dass Pietro Recht hat. So langsam setzen sich die einzelnen Puzzleteile zusammen. Von Lucca habe ich die Geschichte der Legenden von Pergula erfahren. Woher wusste er, worum es in den Legenden geht, wenn sie doch sonst niemand kennt und sich auch im Internet keinerlei Informationen darüber finden lassen? Zudem tragen Lucca und seine Freunde immer diesen Ohrring. Ein Stein, der dem, den Maria in ihrem Tagebuch als das fünfte Element beschreibt, ähnlich ist. Und dann wäre da noch Luccas Haut an den Händen, die auf unerklärliche Weise erst aufgeplatzt, im nächsten Moment aber makellos, glatt und frei von Narben ist. Als würden die Zeit und Krankheiten am menschlichen Körper keine Spuren hinterlassen. So etwas ist nicht natürlich. Das funktioniert nur mit Magie.
Emma hat Kates Leben mit Hilfe eines Elements gerettet. Wer sagt denn, dass das fünfte Element nicht all das auch kann, was die vier können? Selbst der Hass zwischen Lucca und Pietros Familie erscheint mir auf einmal plausibel. Warum sollten sie sich auch nicht verabscheuen, wenn Lucca auf Bernardo Falcinis Seite steht und Pietros Familie auf der von Maria Vecca?
„Du hast Luccas Mutter doch schon kennengelernt, oder?", will Pietro wissen, „und hast du ihr damals in die Augen gesehen?"
In Trance schüttele ich den Kopf. Nein, ich konnte Luccas Mutter nie in die Augen sehen, weil sie jedes Mal, wenn ich sie getroffen habe, eine verspiegelte Sonnenbrille trug. Laut Lucca leidet sie an einem seltenen Netzhautdefekt, weshalb ihre Sehrezeptoren empfindlich auf Tageslicht reagieren und die Sonnenbrille sie davor schützt. Doch jetzt kann ich mir den wahren Grund für die Sonnenbrille nur allzu gut denken. Sie soll die regenbogenfarbene Iris vor den neugierigen Blicken der Menschen verbergen.
„Ich wünschte, ich hätte es dir nie erzählen müssen... Brionny", meint Pietro, als hätte er meine Gedanken gelesen und greift nach meinen Händen. Unter der Berührung schrecke ich zusammen. Sie reißt mich aus meiner Schockstarre.
„Lucca hat mir die ganze Zeit nur etwas vorgemacht", sage ich zu ihm. Meine Stimme klingt hoch und verzweifelt. Ich hasse mich selbst dafür.
Nach dem ersten Moment des Schreckens breitet sich das eiskalte Gefühl von Verrat in meinem Magen aus.
Vermutlich wusste Lucca von Anfang an, dass Marias Tagebuch irgendwo in unserem Haus versteckt ist. Deshalb hat er uns also beim Renovieren geholfen und sogar nachgefragt, ob ich nicht zufällig etwas bei uns zu Hause gefunden habe, in dem ich über die Legenden von Pergula gelesen habe. Ich ziehe scharf die Luft ein, als mir klar wird, dass unsere Freundschaft erst nach dem Badeunfall entstanden ist. Damals hat Kate festgestellt, dass sie die Fähigkeit zu einem Element besitzt und ich wette, auch Lucca hat das bemerkt.
Aber noch schlimmer ist die Vorstellung, dass Lucca mir oft so nah war. Ich habe bei ihm übernachtet. Er war mit uns Wandern, wir sind bei ihm im Auto mitgefahren. Das sind alles Momente, in denen Lucca Kate und mich hätte beseitigen können. Wir waren ihm schutzlos ausgeliefert, ohne es zu wissen. Als Lucca Kate am Samstag vorsichtig am Abgrund entlanggeführt hat, damit sie nicht abstürzt, hätte er sie jederzeit den Berg hinab schubsen können. Und ich wäre dann nicht mal in der Lage gewesen, etwas zu tun. Bei dem Gedanken wird mir schlecht.
„Es tut mir so leid...", flüstert Pietro und streicht mit den Fingerkuppen über meinen Handrücken. Scheinbar traut er sich nicht, mich zu umarmen.
Ruckartig stoße ich ihn weg und löse den Anschnallgurt. Hastig stolpere ich aus dem Auto. Meine Füße berühren die feste Erde des Weinbergs, die mir wenigstens ein bisschen den Eindruck von Stabilität vermittelt. Ich atme tief ein und ziehe die frische Herbstluft in meine Lungen. Sie tut gut und lässt meine Gedanken etwas klarer erscheinen. Kate darf Lucca und den Cinquenti nie wieder zu nahe kommen. Wer weiß, was sie ihr sonst antun. Vor allem jetzt, wo sich nicht mehr verleugnen lässt, dass sie ein Elementträger ist. Ich muss sie dringend warnen.
„Brionny... ist alles okay?", fragt Pietro besorgt.
„Wonach sieht's denn aus?", würge ich hervor. Ich will nur noch zu meiner Schwester fahren, sie fest in meine Arme schließen und ihr von den Cinquenti erzählen.
„Hör zu, wir können euch beschützen", erklärt Pietro langsam, während er das Auto umrundet und mit erhobenen Händen auf mich zukommt. „Du musst nur Kate anrufen und sie bitten, hierher zu kommen... der Geheimbund wird für eure Sicherheit sorgen. Die Cinquenti bedeuten seit Jahren schon keine Gefahr mehr für Giacomo und unsere Familie."
Pietros Worte erreichen mich nur von weiter Ferne. Sie kommen zwar bei mir an, aber ihre Bedeutung geht auf dem Weg verloren. Ich wende mich von ihm ab und lasse den Blick über die Reben schweifen. Einige der Blätter färben sich bereits bunt.
„Was machen wir jetzt?", frage ich. Pietro steht mit verschränkten Armen neben seinem Auto. Eine Falte auf seiner Stirn verrät, dass er sich Sorgen macht.
„Wir rufen Kate an", erwidert er, ebenfalls bemüht sachlich und hält mir sein iPhone entgegen. Meine Finger gleiten fahrig über den Touchscreen, als ich im Telefonbuch nach der Nummer meiner Schwester suche. Gleich drei Mal vertippe ich mich.
Ein kalter Wind reißt an meinen Klamotten und ich reibe zitternd meine Hände über die Arme. Das iPhone klemme ich dabei fest zwischen Kopf und Schulter. Am anderen Ende der Leitung erklingt ein geduldiges Tuten.
Pietro und ich wechseln einen Blick. Nervös kneife ich die Lippen zusammen und trommele mit den Fingern auf meinem Oberschenkel herum. Auch Pietro wirkt ziemlich unruhig, was die Situation nicht gerade besser macht.
Ich möchte schon beinahe auflegen, als Kate endlich abnimmt. „Hallo?", fragt sie zaghaft am anderen Ende der Leitung.
„Kate!", rufe ich erleichtert.
„Stell auf Lautsprecher!", flüstert Pietro mir zu und ich tue, was er sagt. Danach halte ich das Handy zwischen uns.
„Kate, wo bist du?", will ich wissen.
„Ich bin im Auto." Noch ein erschrockener Blickwechsel von Pietro und mir.
„Bei wem im Auto?", frage ich. Plötzlich schlägt mein Herz schneller.
„Bei Lucca und Serafino, wieso?", antwortet Kate in einem ruhigen Plauderton.
„Was?!", schreie ich erschrocken und lasse dabei fast das Handy fallen. Auch Pietro wird noch blasser als ohnehin schon und verbirgt sein Gesicht hinter seinen Händen.
Dass Kate bei Lucca und Serafino im Auto ist, ist ein sehr schlechtes Zeichen. Immerhin wissen die beiden, dass meine Schwester ein Element beherrscht. Aber noch scheint nicht alles verloren zu sein, denn sonst hätten die Cinquenti ihr längst das Handy abgenommen und ihr verboten, zu telefonieren, oder?
„Ich rufe von Pietros Handy aus an", sage ich langsam, „es ist wichtig, dass du mir jetzt gut zuhörst."
„Ist was passiert?" Kate klingt besorgt.
„Das dauert zu lange, um es am Telefon zu erklären", erwidere ich, „aber kannst du mir sagen, wo ihr hinfahrt?"
„Zu der Kapelle, an der wir am Samstag mit Lucca waren. Ich wollte sie zeichnen und Lucca hat angeboten, mich dorthin zu bringen."
„Okay Kate. Du erzählst Lucca, du hättest mit mir telefoniert. Dass Pietro bei mir ist, erwähnst du am besten nicht. Frag nicht warum, ich werde dir später alles erklären. Ich möchte, dass du vorsichtig bist. Geh mit Lucca zu der Kirche und lass dir nichts anmerken! Zeichne sie, wenn das notwendig ist. Wir kommen und holen dich."
„Was...?", setzt Kate zu einer Frage an, doch ich unterbreche sie sofort.
„Stell keine Fragen! Tu einfach so, als wäre alles normal und pass um Himmels Willen gut auf dich auf! Wenn du vorsichtig bist und das machst, was ich dir gesagt habe, passiert dir nichts. Aber lass dir bitte bloß nichts anmerken! Wir erklären dir später alles. Wir holen dich ab!"
Ich höre, wie Kate tief durchatmet. „Ist gut", meint sie, doch ihre Stimme klingt auf einmal seltsam. Anders als sonst. Sie war noch nie eine besonders gute Schauspielerin. Hoffentlich haben Lucca und Serafino nichts gemerkt. Und hoffentlich planen sie nicht, meiner Schwester etwas anzutun. Vielleicht nehmen sie Kate ja tatsächlich mit zur Kirche, damit sie zeichnen kann. In den letzten Wochen hätten sie uns so oft zur Strecke bringen können und haben es nicht getan, da haben wir möglicherweise Glück und es bleibt noch etwas länger so. Allerdings weiß ich selbst, dass das illusorisch ist.
„Also bis gleich", sage ich und schlucke schwer. Ich möchte nicht aufhören, mit Kate zu reden. Wer weiß, was dann passiert. Ich will es mir gar nicht ausmalen.
„Ja, Tschüss."
„Sei vorsichtig!" Noch bevor ich auflegen kann, ist die Verbindung unterbrochen. Ein lautes Tuten dringt uns entgegen und ich schalte den Lautsprecher aus.
„Das schafft sie nie", stelle ich trocken fest, „Kate ist keine gute Schauspielerin."
„Denkst du, es gelingt ihr wenigstens für einen Moment?", fragt Pietro mit gerunzelter Stirn.
„Ich weiß es nicht", seufze ich, „deshalb müssen wir sie abfangen."
Ich nenne ihm den Namen der Kapelle und den nächstgelegenen Ort. Außerdem die Autobahnausfahrt, die wir am Samstag genommen haben und eine grobe Wegbeschreibung. Daraufhin nickt er langsam. „Ja, ich glaube, ich weiß, wo das ist. Fahren wir zu meinen Eltern und geben ihnen Bescheid. Sie können den Geheimbund der Elemente informieren."
„Das dauert zu lange", werfe ich ein, „wir müssen sofort zur Kapelle. Deine Eltern können wir auch von unterwegs anrufen."
Zuerst sieht Pietro aus, als wolle er mir widersprechen, doch dann nickt er schließlich. „Ist gut..."
Wenig später sitzen wieder nebeneinander im Auto und Pietro prescht mit voller Geschwindigkeit auf die Landstraße zu. Seltsamerweise versetzt mich das in einen ruhigeren Zustand. Als würde die Schnelligkeit um mich herum das Gefühlschaos in mir besänftigen.
„Also... äh.. wenn wir Glück haben, erreichen wir Kate, bevor sie zur Kapelle gehen", überlegt Pietro, „und dann können wir sie vielleicht abfangen und mitnehmen, ehe Lucca und die anderen etwas merken."
„Was machen wir, wenn uns das nicht gelingt?", will ich wissen, doch auf diese Frage schüttelt Pietro nur mit dem Kopf, als wollte er darauf nicht antworten. Um ehrlich zu sein, bin ich mir auch nicht sicher, ob ich wissen möchte, was die Antwort ist.
„Wen soll ich eigentlich anrufen? Deine Eltern? Deinen Onkel?", hake ich deshalb weiter nach. Es tut gut, irgendetwas zu machen, egal was.
„Meine Mutter", meint Pietro und reicht mir noch im Fahren sein iPhone, „erzähl ihr, was passiert ist... und dass wir Giacomos Hilfe brauchen."
„Ist gut", antworte ich und suche in Pietros Adressbuch nach der Nummer seiner Eltern. Als ich sie gefunden habe, wähle ich sofort.
Pietros Mutter nimmt schon nach dem zweiten Tuten ab. Es wirkt, als hätte sie nur darauf gewartet, dass Pietro sich bei ihr meldet. „Hier ist Brionny Peterson", sage ich schnell, „ich bin bei Pietro im Auto. Wir stecken ziemlich in der Scheiße." Bei dieser Wortwahl atmet Signora Belluco scharf ein.
„Was ist los? Wurdet ihr von der Polizei angehalten? Hattet ihr einen Unfall?"
„Nein." Keine Zeit, um den heißen Brei herumzureden. „Es geht um die Legenden von Pergula", rücke ich heraus, „meine Schwester Kate ist ein Elementträger. Aber die Cinquenti wissen auch Bescheid. Lucca und Serafino sind mit ihr zusammen ." Auch ihr erzähle ich von der Kapelle und dem Wanderweg, der zu ihr führt. Außerdem nenne ich ihr den nächsten größeren Ort. „Wissen Sie, wo das ist?", frage ich.
Für einen Moment herrscht Stille. Vermutlich ist sie nach meinem Redefluss überfordert und fühlt sich überrumpelt. Dann jedoch erklingt ein leises. „Ja."
„Pietro und ich wollen Kate abfangen und Pietro meint, ich soll ihnen sagen, dass wir Giacomos Hilfe benötigen."
„In Ordnung. Ich werde Verstärkung schicken. Währenddessen versucht ihr, die Cinquenti aufzuhalten!" Na klar, was denkt sie denn, was wir tun würden? Lucca und Serafino Kekse vorbeibringen?
„Natürlich."
„Und pass bitte auf Pietro auf!" Mit diesen Worten beendet Signora Belluco das Gespräch. Pass bitte auf Pietro auf! Als wäre er ein kleines Kind, dass ich vor den Cinquenti beschützen muss.
„Sie schickt Verstärkung", lasse ich Pietro wissen, woraufhin er abwesend nickt. Er hält das Lenkrad so fest umklammert, dass sich die Haut über seinen Fingergelenken weiß färbt. Mit dem Fuß drückt er stur das Gaspedal herunter. Lediglich bei der Mautstelle an der Autobahnauffahrt stoppt Pietro das Auto kurz. Danach tritt er wieder voll aufs Gas. Ärgerliches Hupen und aufblitzende Autoscheinwerfer begleiten uns, während wir an den anderen Verkehrsteilnehmern vorbei rauschen.
Mein Blick huscht immer wieder ungeduldig zu der im Armaturenbrett eingebauten Uhr hinüber. Obwohl Pietro sich beeilt, brauchen wir für den Weg fast siebzig Minuten. Während dieser Stunde verkrampft sich mein Magen und alles in mir zieht sich zusammen. Doch immer wieder ermahne ich mich, nicht zu viele Gefühle zu zulassen.
Nachdem wir die Autobahnabfahrt passiert haben, kommt es mir vor wie eine Ewigkeit, bis wir schließlich den Fuß des Berges erreichen, auf dem die Kapelle steht. Erst in diesem Moment beginnt mein Herz erneut heftig in meiner Brust zu trommeln.
Trotzdem setzt es einen Schlag aus, als wir über den Parkplatz rollen, auf dem wir letztes Mal gehalten haben. Hier steht kein einziges Auto. Wo sind die Cinquenti? Und wo ist Kate? „Sie sind nicht da", entfährt es mir tonlos, woraufhin Pietro nur den Kopf schüttelt.
„Etwas höher auf dem Berg gibt es noch einen Parkplatz", erklärt er mir, „ich wette mit dir, sie stehen dort... da kommt so gut wie nie jemand hin und es würde auch keiner bemerken, wenn Kate von dort verschwindet." Wenig später wird mir klar, warum kaum jemand den zweiten Parkplatz benutzt. Zu diesem Parkplatz gelangt man nämlich nur über einen schmalen Waldweg, der zu einer Seite hin steil abfällt und den man kaum als solchen erkennt, weil er vollkommen mit Stöcken und Blättern bedeckt ist. Ein bisschen erinnert er mich an den Wanderweg, den wir am Samstag genommen haben und bei dem Kate beinahe abgestürzt wäre. Obwohl Pietros Auto schmal ist, ist es kaum so breit wie der Weg. Jedes Mal wenn er um die Kurve biegt, kommt es mir so vor, als würden wir gleich abrutschen und den Hang hinunterstürzen. Schließlich stoppt er den Wagen mitten auf dem Weg. „Warum halten wir an?", frage ich alarmiert.
„Wir sollten das letzte Stück laufen", meint Pietro, „dann können wir uns unbemerkt an die Cinquenti heranschleichen und versperren ihnen gleichzeitig den Fluchtweg mit dem Auto." Okay, das klingt einleuchtend. Vorausgesetzt dieser Weg ist tatsächlich der Einzige, der zum Parkplatz führt. Bevor er aus dem Auto steigt, beugt Pietro sich vor und öffnet die Klappe zum Handschuhfach. Eine Pistole und ein schmales Klappmesser schauen mir entgegen. Vor Erstaunen hätte ich beinahe aufgekeucht. So etwas führt Pietro mit sich. Ich hätte in diesem Auto niemals Waffen erwartet. Ist das überhaupt legal?
„Nur als Vorsichtsmaßnahme...", erwidert er auf meinen erschrockenen Blick und greift nach der Pistole. Das Klappmesser überlässt er mir. Im Handschuhfach liegt außerdem noch eine Kette, in deren Anhänger ein mit der Spitze nach unten zeigendes Dreieck graviert ist, durch das eine feine Linie führt.
„Ein magisches Artefakt", sagt Pietro und hängt sich die Kette um den Hals. Ich kann nur beten, dass das uns tatsächlich hilft, gegen das fünfte Element zu bestehen. Artefakte sind laut Marias Tagebuch bei weitem nicht so mächtig wie die Elemente selbst. Außerdem zehren sie von der Kraft desjenigen, der sie trägt.
So leise wie möglich schlüpfen Pietro und ich aus dem Auto und schließen die Türen hinter uns. Dann schleichen wir durch das Dickicht des Waldes. Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Aufmerksam schaue ich auf den Boden, damit ich nicht stolpere. Schon bald zeichnet sich der zweite Parkplatz als Oval vor uns ab. Und tatsächlich. Die Cinquenti sind hier gewesen. Bis auf den Minibus von Hectors Familie und drei Motorrädern ist der Parkplatz jedoch wie leergefegt. Keine Menschenseele weit und breit.
„Wo sind sie?", zische ich Pietro zu, woraufhin er nur mit den Schultern zuckt. Ich möchte auf den Minibus zulaufen, um zu sehen, ob Kate und Lucca noch darin sitzen, doch Pietro hält mich mit festem Griff am Arm zurück. „Brionny, nicht. Die Cinquenti sind womöglich in der Nähe. Wir müssen vorsichtig sein. Komm!"
Neben mir zieht Pietro sich so leise wie möglich ins Dickicht zurück und ich folge ihm, bedacht darauf, kein Geräusch von mir zu geben. Mit angespannt angehaltenem Atem schleiche ich Pietro hinterher. Schließlich haben wir den Parkplatz umrundet und stehen beinahe unmittelbar vor dem Bus.
Pietro bückt sich, um lose, am Boden herumliegende Äste aufzuheben. Unwillkürlich frage ich mich, was er damit vorhat. Ich beobachte, wie er die Äste auf den Minibus zuwirft. Mit einem leisen Klack kommen sie auf dem Fahrzeug auf.
„Was soll das?", zische ich zu ihm rüber.
„Falls die Cinquenti noch dagewesen wären, hätten sie nachgesehen, wer ihr Fahrzeug mit Ästen bewirft", antwortet Pietro leise, „außerdem besitzen sie mit Hilfe des fünften Elements die Fähigkeit, Kraftfelder herauf zu beschwören, die wie Tretminen wirken und alles in die Luft sprengen, was mit ihnen in Kontakt kommt." Kraftfelder. Das fünfte Element muss unglaublich mächtig sein, wenn es dazu in der Lage ist, Dinge explodieren zu lassen. Etwas Vergleichbares habe ich Kate noch nie mit dem Wasser machen sehen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass meine Schwester eine derart mächtige Fähigkeit besitzt.
„Also ist die Luft rein?", frage ich zaghaft, woraufhin Pietro nickt. Zur Vorsicht greife ich trotzdem selbst nach Ästen, die ich einige Meter vor meine Füße werfe, um nicht aus Versehen in ein besagtes Kraftfeld zu treten. Die Klinge von Pietros Klappmesser lasse ich dabei hervor schnellen. Den Griff umklammere ich so fest, dass es schon beinahe schmerzhaft ist. Schließlich erreiche ich den Minibus.
Durch die abgedunkelten Scheiben kann ich nur schwer das Innere des Busses erkennen. Helle Leinwände und Farbkästen sind auf den Sitzen und im Fußraum verstreut. Fast, als hätte der Bus zu stark gebremst und dabei alles durcheinander geworfen. Oder als hätte ein Kampf stat gefunden. Und da, auf der Rückbank liegt ein gefesselter Mensch. Mein Atem stockt. Das Messer rutscht mir aus der Hand. Kate!
Entsetzt klopfe ich gegen die Scheibe. Da ich Kate nur von hinten sehe, kann ich nicht sagen, wie es ihr geht. Ist sie bewusstlos? Verletzt? Oder schlimmer?
Doch in diesem Moment hebt sie vorsichtig den Kopf und dreht sich zu mir um. Ich erkenne, dass man sie geknebelt hat, aber sonst scheint alles in Ordnung zu sein. Als sie mich entdeckt, leuchtet das Licht hinter ihren Augen auf und ich glaube, dass sich der Versuch eines Lächelns auf ihren geknebelten Lippen abzeichnet. Wer auch immer ihr das angetan hat, kann sich jetzt schon auf etwas gefasst machen.
Aufgeregt drehe ich mich um, und will nach Pietro rufen, damit er mir zur Hilfe eilt. Bevor ich jedoch die Gelegenheit dazu bekomme, spüre ich eine starke Hand auf meiner Schulter, die feste zudrückt. Reflexartig wirbele ich herum, hole mit dem Ellbogen aus und treffe in etwas Weiches.
Mein Musikantenknochen erklingt schmerzvoll. Gleichzeitig höre ich ein überraschtes Stöhnen. Hinter mir steht Ludo, die Hand auf den Bauchgepresst und nach vorne gekrümmt. Scheinbar hat er nicht erwartet, dass ich mich wehren würde. Ich lasse mich auf die Knie fallen, forme meine Hand zur Faust und versenke sie zwischen seinen Beinen. Jaulend kippt er um. Mit der anderen Hand taste ich auf dem Boden nach dem Klappmesser. Als ich es ergreife, schneide ich mich am Finger, doch der Schmerz der Wunde kommt nicht bei mir an.
Beim Aufstehen fällt mein Blick auf Serafino und Emma, die langsam auf mich zulaufen. Während die beiden sonst immer so lieb und unscheinbar wirkten, sind ihre Gesichter nun ausdruckslos. Erschrocken sehe ich mich um. Wo sind Lucca und Hector? Die Cinquenti sind momentan zu dritt, ich bin allein. Im Kampf habe ich keine Chance gegen sie. Trotzdem will ich Kate hier nicht einfach so hier lassen und wegrennen. Das kann ich einfach nicht tun. Ich zögere. Einen Moment zu lange, denn ehe ich mir einen Fluchtweg suchen kann, erscheinen auch Lucca und Hector auf dem Parkplatz. Für einen kurzen Augenblick starre ich in Luccas vor Schreck geweitete Augen.
Ich weiche ein paar Schritte nach hinten. Mit dem Rücken stoße ich gegen den Minibus.
Hector hebt seine Hand, als wollte er etwas von sich wegschieben. Kaltes Grauen packt mich, bevor ich begreife, was überhaupt passiert. Danach spüre ich nichts mehr, nur noch einen scharfen Schmerz in meiner Brust und einen harten Aufprall.
Oben ist unten. Schwarze Kreise formen sich vor meinen Augen, kommen auf mich zu und explodieren zu einem Haufen bunter Funken. Sie holen mich ein, umgreifen meinen Verstand. Mein Brustkorb ist wie festgefroren. Ich schnappe nach Luft, aber sie kommt nicht in meinen Lungen an. Nicht mal ein Stöhnen entweicht meinem Mund.
Von weit weg höre ich einen aufgebrachten Schrei. Pietro? Ich will meinen Kopf heben, um zu sehen, ob er mir zur Hilfe eilt, aber mein Körper gehorcht mir nicht. Da ist nur dieser Schmerz. Diese seltsame Dunkelheit vor meinen Augen. Ich fühle mich wie unter Wasser. Blind, ohne Luft und mit eingeschränktem Gehör. Nur langsam klärt sich mein Blickfeld und ich kann wieder atmen.
Ich bin noch nicht wieder bei vollem Bewusstsein angelangt, als ich spüre, wie mich jemand hochreißt und die Hände hinter meinem Rücken fesselt. Ich will mich wehren, doch das ist zwecklos. Ich bringe nicht mal annähernd meine Arme und Beine unter Kontrolle. Alles ist mir entglitten.
Trotzdem kehrt die Welt um mich herum langsam zurück. Nach einem Augenblick bemerke ich, dass ich mit dem Rücken gegen den Minibus lehne. Vor mir knien Emma, Serafino und Hector. Sie binden meine Beine mit Schnüren zusammen. Angst verspüre ich keine. Nicht einmal Widerwillen. Erst allmählich bilden sich wieder geordnete Gedanken in meinen Kopf. Mir wird klar, dass Hector vermutlich das fünfte Element gegen mich eingesetzt hat.
Nachdem die drei mich gefesselt haben, treten sie zurück. Mein Herz schlägt auffällig ruhig. Seltsamerweise verspüre ich Erleichterung darüber, dass die Schmerzen in meiner Brust nachlassen. Sonst nichts. Ich sehe mich nach Pietro um, kann ihn aber nirgends entdecken. Wo steckt er bloß? Hoffentlich in Sicherheit.
Nur wenige Schritte von mir entfernt kauert Ludo immer noch auf dem Boden. Hasserfüllt starrt er mich an. Neben ihm steht Lucca. Mit verschränkten Armen und ausdrucksloser Miene blickt er auf mich hinunter. Als ich ihn sehe, fällt auf einmal die ganze Ruhe von mir ab. Wut kocht in mir auf. So mächtig und heftig wie noch nie in meinem Leben. Wenn ich mich frei bewegen könnte, würde ich ihn vermutlich schlagen, verletzen oder ihm sogar noch mehr Schaden zufügen. Diese Seite von mir kenne ich nicht und das macht mir Angst. Aber gleichzeitig ist die Wut auch ein belebendes Gefühl. Sie erhält den Kampfeswillen in mir aufrecht. Sie gefällt mir besser als die unnatürliche, gleichgültige Ruhe, die mich noch einige Augenblicke zuvor erfüllt hat.
„Du ekelhafte Qualle", zische ich, „du verlogene Ratte. Du erzählst mir was von Freundschaft und schleimst dich bei mir ein. Du hinterhältiger Lügner! Du widerst mich an... Ich..." Es gibt noch tausend Dinge, die ich ihm am liebsten gegen den Kopf werfen würde, nur um zu sehen, wie sie an seinem regungslosen Gesicht abprallen, aber Lucca hebt die Hand und bringt mich mit dieser Geste zum Verstummen.
Ein leiser Schauer läuft mir den Rücken hinunter. Die Härchen an meinem Körper stellen sich schmerzhaft auf. Wieder die Macht des fünften Elements. Diesmal jedoch viel schwächer dosiert.
Mein Magen zieht sich zusammen. Mir wird übel bei der Vorstellung, dass ich Lucca bereits so nah war. Er hat mich berührt, mich beim Tanzen vorsichtig geführt, mir ins Ohr geflüstert. In diesem Moment verabscheue ich Lucca mit jeder einzelnen Körperzelle. Aber noch mehr verabscheue ich mich selbst. Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen?
Eine heiße Flüssigkeit läuft meine Wangen hinunter. Mein erster Gedanke ist: Das ist das fünfte Element, ich schmelze. Aber dann wird mir klar, dass ich womöglich blute. Bestimmt habe ich von dem schmerzhaften Aufprall eine Wunde am Kopf getragen. Erst als ein Schluchzen meinen Körper durchschüttelt merke ich, dass ich weine.
Diese Reaktion verängstigt mich am meisten. Ich habe seit Jahren nicht mehr geweint. Dass ausgerechnet Lucca meine Tränen sieht, ist mir unangenehm. Diese Genugtuung möchte ich ihm nicht gönnen. Beschämt drehe ich den Kopf zur Seite, aber es ist zu spät. Lucca hat schon bemerkt, dass ich weine.
Langsam kommt er auf mich zu, geht vor mir in die Knie und legt eine Hand unter mein Kinn. Dann dreht er meinen Kopf und zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. „Woher weißt du über uns Bescheid?", fragt er. Seine Stimme klingt nicht kalt oder abwertend, sondern gefühllos. Als gäbe es nichts auf der Welt, das ihn berührt. Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen?
„Von Maria Vecca", platzt es aus mir heraus. Die Lüge kommt einfach über meine Lippen. Ich denke nicht mal wirklich darüber nach. Hoffentlich sieht er mir nicht an, dass ich nicht die Wahrheit sage.
„Wo hast du ihr Tagebuch gefunden?", will er wissen. Wütend presse ich meine Zähne aufeinander. Er weiß also von dem Tagebuch. Nun, von mir wird er nichts mehr darüber erfahren.
„Antworte mir", ruft er und zum ersten Mal klingt seine Stimme aufgebracht. Seine Augen funkeln auf, als wäre er irre. Ganz anders als bei dem Lucca, den ich kennengelernt und mit dem ich mich angefreundet habe. Er wirkt beinahe wild und verrückt, aber ist trotzdem noch unglaublich beherrscht und kontrolliert. Ein magisches, übernatürliches Knistern erfüllt die Luft. Gleich wird er wieder das fünfte Element benutzen.
„Unter den losen Dielen in meinem Zimmer", rufe ich erschrocken und für einen Moment überwältigt mich die Panik. Schnell ermahne ich mich, langsam einzuatmen und wieder zur Ruhe zu kommen.
„Hast du jemandem davon erzählt?", will er wissen.
„Nein... nur Kate." Gottseidank weiß sonst, Pietro mal ausgenommen, tatsächlich niemand von dem Tagebuch. Nicht auszudenken, was die Cinquenti dann tun würden...
„Weiß jemand, dass du hier bist?"
„Das MI6."
„Das ist nicht witzig", raunt er mir zu. „Wem hast du erzählt, dass du hier bist?"
„Niemandem", antworte ich und erwidere Luccas Blick mir einer stechenden, harten Intensität. Für einen Moment liefern wir uns ein Blickduell, doch dann blinzelt er und lässt von mir ab.
„Alles in Ordnung. Niemand ahnt etwas. Trotzdem sollten wir uns beeilen. Wir müssen bis Mitternacht an der Grenze sein. Plan 41 steht", sagt er zu den anderen. Alarmiert spitze ich die Ohren. An welcher Grenze? Plant Lucca, das Land zu verlassen? Was hat er mit uns vor? Und wo zur Hölle steckt Pietro?
Ich gebe mir Mühe, mich nicht zu sehr nach ihm umzuschauen und ihn damit womöglich zu verraten, als mich die anderen hochheben und um den Minibus herumtragen. Unsanft schmeißen sie mich auf den Beifahrersitz. Mit dem Kopf komme ich zwischen Schaltknüppel und Handbremse auf.
„Passt doch auf. Tut ihr nicht weh!", höre ich Lucca belehrend sagen, doch ich frage mich, weshalb ihm das auch einmal so wichtig zu sein scheint. Er ist doch derjenige, der mir hier am meisten weh getan hat.
Nachdem die Cinquenti die Tür hinter mir geschlossen haben, herrscht erdrückende Stille. Ich höre, wie Kate sich weiter hinten im Minibus bewegt.
„Kate?", frage ich. Als Antwort erhalte ich nur ein Stöhnen. Gottseidank!
„Lucca und die anderen sind die Cinquenti, die Spione Falcinis. Pietro hat's mir gesagt. Er ist mit mir hier. Und ich weiß noch nicht wie genau, aber glaub mir, wir kommen hier wieder raus", fahre ich fort, „mir fällt schon was ein."
Ich klinge optimistisch, obwohl unsere Lage zugegebenermaßen ziemlich aussichtslos scheint. Wir sind beide gefesselt und werden von fünf Menschen gekidnappt, die über das fünfte Element herrschen. Angespannt spitze ich die Ohren. Von den Cinquenti ist nichts mehr zu hören. Wo sind sie hingegangen? Ahnen sie, dass ich nicht alleine gekommen bin, um meine Schwester zu befreien?
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