25. In den Bergen
Als unsere Wecker am Morgen nach dem Ausflug zu den Ruinen klingeln, habe ich gar nicht geschlafen und Kate nur wenig. Trotzdem beschließen wir, wieder zum Alltag über zu gehen. Also machen wir uns kurz frisch und verlassen dann das Haus, um mit dem Zug zur Schule zu fahren. Der Schultag gleitet diesig an mir vorüber und Pietro merkt an, dass ich ja offensichtlich krank aussehe und diesen Tag noch hätte zu Hause bleiben sollen. Darauf lächele ich nur verkniffen.
Am Nachmittag kommen dann tatsächlich Handwerker, um den Wasserschaden und das undichte Dach zu reparieren, was bedeutet, dass wir wieder duschen und kochen können.
Trotzdem fällt es Kate und mir ziemlich schwer, uns nicht mehr mit Marias Tagebuch und den Elementen zu beschäftigen. Immer wieder reden wir über die Legenden von Pergula und allzu oft ist Kate kurz davor, ihr Element zu benutzen. Aber jedes Mal mahne ich sie rechtzeitig zur Vorsicht. Die Cinquenti sind nicht wieder aufgetaucht und es scheint, als wären sie aus unserem Leben verschwunden. Manchmal frage ich mich sogar, ob sie überhaupt da waren oder ob wir uns die Verfolgung bei den Ruinen nicht nur eingebildet haben. Trotzdem haben sie ein leises Gefühl von Angst in uns hinterlassen.
In meinem Alltag gibt es allerdings genug Ablenkung von den Elementen und den Legenden. Am Freitag nach unserem Ausflug zu den Ruinen muss ich im Restaurant meiner Großeltern kellnern. Lucca gibt mir eine kurze Einweisung und erklärt mir, wie ich die Kasse und den Zapfhahn hinter der Theke benutze. Dann beginnt auch schon meine Schicht. Die ersten zwei Stunden arbeiten Lucca und ich zusammen, aber um zehn hat er Feierabend, sodass ich vollkomen auf mich allein gestellt bin.
„Du schaffst das schon", meint Lucca zu mir, „sehen wir uns morgen?"
„Ja klar", antworte ich. Am darauffolgenden Abend gehen wir in Grosetto zusammen feiern. In einer Bar im Stadtzentrum findet eine Party statt, die von den Abschlussklassen unserer Schule organisiert wird. Stella, Ana und Marietta sind im Orga-Team und haben mir ein Freigetränk versprochen, wenn ich komme. Da Lucca in Grosetto wohnt, habe ich ihn gefragt, ob er mich begleiten möchte, woraufhin er angeboten hat, dass ich ja bei ihm schlafen könnte.
Der nächste Abend wird tatsächlich ganz witzig. Nicht nur Lucca begleitet mich auf die Party, sondern auch Hector, Emma und Ludo, was mir ein skeptisches Stirnrunzeln und böse Blicke von Pietro einbringt. Zum Glück sagt er nichts dazu. Doch während ich mich mit Emma ganz gut verstehe, halten Hector und Ludo noch gehörig Abstand zu mir. Einmal bekomme ich mit, wie sie über mich reden und sie betiteln mich mit Bellucos Freundin oder Klugscheißerin.
Als ich Kate davon erzähle, schüttelt sie nur mit dem Kopf. Natürlich hat sie eine Erklärung für das Verhalten der beiden parat, was fast schon wie eine Rechtfertigung klingt. „Vielleicht finden sie es einfach nur unfair, dass Pietro ein Gerücht über sie in die Welt gesetzt hat. Ich meine, das kann man doch verstehen", überlegt sie.
Dazu weiß ich nichts mehr zu sagen. Sie hat Recht. Ich sollte mich nicht zu sehr über die beiden ärgern.
Während der nächsten Woche laufen in Castiglione della Pescaia die Vorbereitungen für das Fest der Segelregatta, das am ersten Oktoberwochenende ansteht, auf Hochtouren. Die Straßen werden mit Girlanden geschmückt und in den verwinkelten Gassen werden die Laternen kontrolliert. Noch dazu werden an den Hauswänden mehrere zusätzliche Mülleimer angebracht, damit die Straßen sauber bleiben. Aus dem Hafen laufen die meisten Schiffe aus und der Strand ist schon eine Woche vor dem Fest für Badebesucher gesperrt.
Auch in dem Restaurant unserer Großeltern wird viel gearbeitet. Grandpa und Nonna überlegen, wie viel Essen gekauft werden muss und der Schankraum, sowie die Küche werden grundgereinigt. Kate und ich helfen, wo wir nur können. Beinahe jeden Abend übernehmen wir Schichten als Kellnerinnen, was mich ganz schön schlaucht, da wir morgens wieder früh aufstehen müssen. Mittags, wenn wir nach Hause kommen, setzten wir uns sofort an die Schulaufgaben und dann geht es direkt ins Restaurant. Ich bin verdammt froh, wenn wir das Fest der Segelregatta hinter uns gebracht haben. Dann kann ich es endlich wieder ein bisschen ruhiger angehen lassen.
Da ich mein Handy verloren habe, fühle ich mich in manchen Augenblicken ziemlich nackt und schutzlos. Ich beschließe, mich nach einem Job umzusehen, sobald das Fest der Segelregatta vorbei ist, denn ohne ein Handy halte ich es nicht länger aus. Ich vermisse es, mit Maddie, Lucca und Pietro zu texten. Schlimm, wie abhängig ich von der Technik geworden bin. Ich habe allen erzählt, mein Handy sei kaputt, weil es mir ins Wasser gefallen ist. Was wirklich passiert ist, erfährt niemand. Und ganz ehrlich, wer würde mir die Geschichte, wie ich mein Handy verloren habe, tatsächlich glauben?
Am Tag der Regatta sind Kate und ich mit Lucca zum Wandern verabredet. Eigentlich wollten wir noch weiter im Restaurant helfen, aber meine Großeltern wimmeln ab. So lange wir noch jung sind, sollen wir die freie Zeit genießen, meinen sie. Gemeinsam mit Mum und ihren beiden Köchen werden sie die restlichen Vorbereitungen für das Fest schon stemmen.
Zu meinem Missfallen sind Ludo und Hector auch auf unserer Wanderung mit dabei. Zuerst möchte ich Lucca absagen, doch Kate überredet mich, es mir nochmal zu überlegen und so beschließe ich, doch mitzukommen. Wenn wir wegfahren, entkommen wir dem ganzen Stress, der im Restaurant wegen der Regatta herrscht, wenigstens ein bisschen. Lucca und meine Großeltern haben schon darüber gesprochen, wo genau wir hinfahren wollen. Die Wanderroute liegt irgendwo im Apennin.
Noch vor Sonnenaufgang holt Lucca uns ab. Diesmal mit einem Minibus. Serafino, Ludo, Hector und Emma haben schon in dem Fahrzeug Platz genommen. Kate klettert zu ihnen auf eine der Rücksitzbänke, während ich mich neben Lucca auf den Beifahrersitz setze.
„Wo habt ihr den denn her?", frage ich und klopfe auf das Armaturenbrett.
„Von der Firma, in der Hectors Eltern arbeiten", grinst Lucca, „kann's losgehen?"
„Ja", antworte ich und schnalle mich an. Dann startet Lucca den Motor.
Nach ungefähr eineinhalb Stunden lauter Rockmusik und riskanter Überholmanöver kommen wir an unserem Ziel an. Lucca hält auf einem Parkplatz, der ungefähr auf der halben Höhe eines Berges liegt. Von dort aus werden wir zu einer Kapelle wandern, die sich oben auf dem Gipfel befindet. Um die Natur und das außergewöhnlich gute Wetter zugenießen, beschließen wir, einem ausgeschilderten Wanderweg zu folgen.
Der Anfang unserer Route ist ziemlich idyllisch. Ein breiter Pfad schlängelt sich durch eine spätsommerlich-frühherbstlich gelb gefärbte Wiese. Halme und verdorrte Blumen wiegen sich anmutig in einer seichten Windböe. Außer dem weit entfernten Rauschen von Autos und dem Zwitschern der Vögel ist nichts zu hören. Als wäre das hier eine vollkommen andere Welt, in der alles gut ist, fernab der Realität.
Ab und zu säumen Apfelbäume den Weg. Übermütig pflückt Ludo ein paar Äpfel und verteilt sie an den Rest der Gruppe. Dabei grinst er uns zu und neigt leicht den Kopf schief, sodass die dutzenden Ringe in seinen Ohren klirrend gegeneinander schlagen. In diesem Moment sieht er sogar ganz lieb und nicht so miesepetrig wie sonst immer aus.
Schon bald aber trennt sich die Gruppe. Ludo, Hector und Serafino gehen vorneweg, da wir anderen ihnen zu langsam sind. Lucca und ich laufen in der Mitte und Kate und Emma bilden fröhlich schwatzend das Schlusslicht.
Schließlich sind die drei Jungs so weit voraus, dass wir nichts mehr von ihnen sehen. Auch Kate und Emma, die immer wieder stehen bleiben, um die Landschaft zu bewundern oder mit Kates Handy Fotos zu schießen, sind bald aus unserem Blickfeld verschwunden. Ein bisschen fühlt es sich an, als wären Lucca und ich die einzigen Menschen auf dieser Welt. Zwei Abenteurer, die sich ihren Weg durch das einsame, verlassene Gebirge bahnen, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Bei dem Gedanken muss ich grinsen.
„Meinst du, die anderen finden den Weg?", will ich wissen, woraufhin Lucca nickt.
„Wir kommen öfter zum Wandern her. Die müssten sich eigentlich alle auskennen", behauptet er.
Schon bald geht die Wiese in einen Wald über, in dem der Wanderweg fortgeführt wird. Trotz der Nadel- und Laubbäume, die erfrischenden Schatten spenden, ist es warm im Wald. Hinter einer breiten Weggabelung grenzt eine halb verfallene, mit Büschen und Gräsern überwachsene Ruine eines alten Bauernhauses an unseren Weg. Sie besitzt eine geheimnisvolle, beinahe magische Ausstrahlung, weshalb ich Lucca kurzerhand vorschlage, sie zu inspizieren.
Etwas Besonderes finden wir nicht, doch ich spüre trotzdem den Charme des alten Gebäudes. Wie viele längst vergessene Geschichten kleben wohl an diesen Mauern? Welche Menschen haben hier früher gelebt und warum sind sie gegangen? Es ist wie ein großes Geheimnis mitten im Wald.
„Also gefällt es dir doch hier?", erkundet sich Lucca, sobald wir wieder auf dem Wanderweg den Berg weiter hinauflaufen.
„Ist ganz okay", gebe ich zu. Die ehrliche Antwort wäre gewesen, dass ich es wunderbar finde. Niemals hätte ich gedacht, dass es mir hier so gut gehen würde.
Außerdem hat erst seit wir in Italien sind, Kates und mein Abenteuer mit den Elementen angefangen. Doch leider hat diese Magie nicht nur gute Seiten. Auf einmal muss ich wieder an die Gestalten mit den Pestmasken und regenbogenfarbenen Augen zurückdenken, Falcinis Spione, die Cinquenti.
„Alles in Ordnung?", fragt Lucca und sieht mich besorgt an. Scheinbar habe ich gerade nicht besonders begeistert geschaut.
„Ja, klar."
„Woran hast du gedacht?", will er wissen.
„Alles gut", winke ich ab und obwohl ich Lucca ansehe, dass er gerne nachgefragt hätte, bleibt er still. Schließlich wechselt er das Thema und macht sogar ein paar Witze.
Es tut gut, sich mit Lucca zu unterhalten und Spaß zu machen. Dadurch wird die Enttäuschung über Marias Tagebuch und die Legenden von Pergula ein bisschen gemindert. Lucca zeigt mir, dass es im Leben noch so viel mehr gibt, als die Geschichte von den Elementen. Freundschaft zum Beispiel.
Wir albern noch etwas herum, bis sich der Wald schließlich lichtet. Wieder führt der Weg ein kurzes Stück über eine Wiese, dann jedoch schlängelt er sich an einer Felswand hoch. Der Pfad ist vielleicht drei Fuß breit, höchstens vier und nur von der steil in die Höhe ragenden Felswand und dem Abgrund begrenzt. In die Felswand ist ein Drahtseil eingelassen, damit sich Wanderer dort festhalten können und nicht abstürzen, wenn sie stolpern. Was soll das denn? Das kann Lucca doch nicht ernst meinen!
Entsetzt sehe ich ihn von der Seite an, aber er wirkt kein bisschen überrascht von diesem steilen Wanderweg, sondern eher so, als würde er sich auf die Herausforderung freuen. Am liebsten hätte ich erschrocken gelacht. Stattdessen schüttele ich jedoch den Kopf. „Du hättest mir ja sagen können, dass man Wanderschuhe oder so was braucht", murmele ich. Auch wenn weder Kate noch ich so etwas wie Wanderschuhe oder eine alpine Ausrüstung besitzen.
„Hast du Angst?", fragt Lucca. Obwohl ich ihn nicht ansehe, kann ich spüren, dass er wieder seinen belustigten Gesichtsausdruck aufgesetzt hat. Augenblicklich kehrt die alte Feindseligkeit zwischen uns zurück.
„Nur in deinen Träumen!", zische ich in seine Richtung. Ich habe keine Angst. Nicht vor diesem Weg. Wenn ich aufpasse, wo ich meine Füße hinsetze, werde ich schon nicht abstürzen.
Um ihm das zu beweisen, gehe ich voran. Aus Vorsicht drücke ich mich eng an die Felswand und bringe so viel Abstand wie möglich zwischen mich und den steil nach unten führenden Abgrund. Meine Hände legen sich hart und fest um das Metallseil. Nur langsam setze ich die Füße voreinander. Dabei konzentriere ich mich vollkommen auf den Boden unter mir. An einer Stelle spannt sich eine kleine, rutschige, an einem schwachen Wasserfall vorbeiführende Brücke über den Weg. Der Gedanke an Luccas Spott hält mich davon ab, ängstlich aufzukeuchen. Nach einem besonders steilen Felsvorsprung sehe ich aus den Augenwinkeln ein am Wegrand aufgestelltes Kreuz.
„Ist hier jemand gestorben?", erkunde ich mich. Meine Stimme schwankt mehr, als mir lieb ist. Besser, ich hätte gar nichts gesagt. Jetzt hört Lucca bestimmt meine unterschwellige Angst und das gönne ich ihm nicht!
„Ja, ein Bergsteiger. Vor etwa fünfzig Jahren. Aber der war auch Freeclimber und hat versucht, ganz ohne Sicherung hier hoch zu klettern", erklärt er.
„Na toll!"
„Hast du doch Angst?" Das verschmitzte Lächeln auf Luccas Lippen kann ich förmlich hören. So ein Arsch! Bestimmt hat er sich diese Strecke mit Absicht ausgesucht. „Ich habe keine Angst, aber du solltest welche haben, wenn ich dich gleich hier runterstoße."
„Willst du das versuchen?" Noch immer liegt das Lächeln in seiner Stimme. Verärgert drehe ich mich zu ihm um und schenke ihm einen meiner bösesten Blicke, sage aber nichts.
Zum Glück habe ich im Gegensatz zu Mum keine Höhenangst. Trotzdem schwitzen meine Hände. Jedes Mal, wenn mein Blick zum Abgrund wandert, wird mir ganz anders zumute. Meine Beine fühlen sich ganz weich und zittrig an. Schnell versuche ich, dieses Gefühl weit weg zu schieben.
Dementsprechend erleichtert bin ich, als der steile, schmale Pfad wieder auf eine Wiese übergeht. Von dort aus ist es nicht mehr weit bis zu unserem Ziel, der Kapelle. In einiger Entfernung sehe sie schon auf dem Berggipfel thronen. Trotzdem dürfte es bis dorthin noch gut eine Stunde zu laufen sein. Ich erkenne Serafin, Hector und Lugo als drei kleine Punkte auf dem Weg zu unserem Ziel.
„Ich habe Wasser dabei. Willst du was trinken?", fragt Lucca und klopft auf seinen Rucksack.
Ich nicke. Als er mir die Wasserflasche reicht, berühren sich unsere Hände. Erneut fällt mir auf, wie unglaublich weich seine Haut ist. Am liebsten würde ich seine Hand noch länger halten, aber ich will nicht, dass er diese Geste missinterpretiert.
Vorsichtig trete ich einen Schritt zurück. Lucca zieht währenddessen seine Jacke aus, breitet sie auf dem Gras aus und setzt sich hin. Ich nehme noch einen Schluck aus der Wasserflasche, dann setze ich mich neben ihn. Für einen Moment betrachten wir stumm die Landschaft und genießen schweigend die Stille um uns herum. Vorsichtig legt Lucca einen Arm um mich. Es geschieht wie von selbst, ohne dass ich mich dagegen wehre.
Mein Atem stockt. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Viel schneller als noch auf dem schmalen, gewundenen Pfad, der direkt an den Abgrund grenzte. Irgendwie fühle ich mich auch unwohler als auf dem Pfad. Aber gleichzeitig ist da auch eine angenehme Wärme in mir. Die italienische Oktobersonne scheint für einen Moment viel zu hell und viel zu heiß.
Dann schließe ich die Augen und atme einmal tief durch. Es ist, als würde ich auf einer Klippe stehen und auf das Meer unter mir schauen, in der festen Absicht, zu springen. Nur weiß ich nicht, ob das Wasser unter der Oberfläche steinig und flach ist oder tief genug, damit ich mich nicht verletze. So oder so wird der Aufprall atemraubend sein und mich für einen Moment in dunkler Ungewissheit schwimmen lassen.
Ich öffne die Augen wieder und lasse meinen Oberkörper ganz langsam nach hinten sinken, bis ich Luccas Brust in meinem Rücken spüre. Die Nähe fühlt sich angespannt und trotzdem richtig an. Mit schnell klopfendem Herzen bleibe ich vor ihm sitzen.
Wie von selbst verhaken sich unsere Finger. Zunächst bemerke ich gar nicht, was passiert. Erst als ich auf unsere Hände hinabsehe, stelle ich fest, dass sie gefaltet ineinander liegen und dass Lucca mit dem Daumen über meinen Handrücken streicht. Es scheint mir absurd, doch ich genieße die Berührung sogar.
„Mein Vater hat mir diesen Wanderweg gezeigt", sagt Lucca. Erschrocken zucke ich zusammen und rücke ein Stück von ihm weg. Die Nähe zwischen uns verwandelt sich in Distanz. Luccas Worte kommen unerwartet, einfach so. Um ehrlich zu sein, will ich gar nicht, dass er von seinem toten Vater erzählt.
Nachdem er Kate und mir gesagt hat, dass er gestorben ist, hat er nicht mehr über ihn gesprochen. Darüber war ich auch einigermaßen froh, denn ich weiß nie, wie ich auf solche Geschichten reagieren soll. Was sagt man, wenn Menschen von ihren toten Familienangehörigen erzählen, man selbst aber nicht weiß, wie sich ein solcher Verlust anfühlt?
„Es war bei einem Autounfall vor fünf Jahren. Er kam damals nicht von der Arbeit nach Hause und wir haben uns gewundert, wo er wohl bleibt. Bis die Polizei plötzlich vor unserer Tür stand." Obwohl Lucca nicht besonders detailliert von seinen Erlebnissen erzählt, huscht ein leiser Schauer über meinen Rücken. Jeremys Mutter ist ebenfalls bei einem Unfall verunglückt und als er mir davon erzählte, war es, als müsste ich ihn ganz fest umarmen und zugleich so weit wegrennen wie möglich.
„Man könnte sagen, das war der Moment, in dem ich erwachsen wurde. Wir haben damals in Schottland gelebt, weil mein Vater dort arbeitete. Nach seinem Tod sind wir nach Italien zurückgekehrt und meine Mutter musste ständig arbeiten, um uns zu ernähren. Also habe ich mich um meine Geschwister gekümmert." Er lacht vorsichtig und pflückt dann eine verwelkte Blume, die er zwischen Daumen und Mittelfinger einklemmt. In Gedanken versunken dreht er sie hin und her. „Mir ist so gut wie nichts von meinem Vater geblieben. Außer den Geschichten, die er mir erzählt hat und die Orte, die er mit mir besucht hat, als ich klein war."
Wieder muss ich daran denken, wie ich schlecht über seine Eltern redete, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben. Kein Wunder, dass ihn das verletzt hat und dass er sich danach mir gegenüber wie ein Kotzbrocken verhalten hat.
„Es tut mir so leid", sage ich und ich meine und fühle jedes Wort, das ich sage.
Daraufhin sieht er mich an und schüttelt sachte mit dem Kopf. „Dir muss doch gar nichts leidtun."
„Doch... als ich...", beginne ich, doch er unterbricht mich, in dem er die Hand hebt.
„Es ist gut. Weißt du, was das Absurde daran ist?", will er wissen, „er ist nicht mal... also meine Eltern sind... ich bin..."
Bevor er weiter sprechen kann, ertönt jedoch ein gellender Schrei. Er zerreißt den Moment wie brüchiges Papier. Augenblicklich setzen Lucca und ich uns kerzengerade auf. Eben diesen Schrei haben wir beide schon einmal gehört. Es ist lange her, um genau zu sein fast dreizehn Jahre, und trotzdem erinnern wir uns noch genau an den Moment, in dem er zum letzten Mal erklungen ist.
Meine Lippen formen tonlos einen Namen.
Kate!
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