Kapitel 9 - Kletterpartie
Bahe verdrehte angesichts des unnötigen Benachrichtigungsfensters genervt die Augen und tastete die Frucht behutsam ab.
Die Frucht fühlte sich viel weicher als eine Mango an. Eher vergleichbar mit einer Khaki.
Mit der Frucht in der Hand setzte er sich vorsichtig auf den Boden und gab den Befehl: „Identifizieren!"
„Wofür ist die Fähigkeit „Identifizieren" überhaupt von Nutzen..."
Es war ja nicht so, als ob er etwas anderes erwartet hätte. Üblicherweise brauchte man in dieser Art Computerspiele zusätzlich eine extra Identifikations-Fähigkeit, um unbekannte Gegenstände identifizieren zu können. Einfache und alltägliche Gegenstände konnten durchaus noch von normalen Scan-Funktionen erkannt und identifiziert werden. Umso seltener oder ungewöhnlicher die Gegenstände jedoch waren, umso eher waren spezielle Identifikations-Fähigkeiten von Nöten. Auch hier kam es auf die verschiedensten Bedingungen an. So spielten neben dem Rang der entsprechenden Fähigkeit, auch das Level der jeweiligen Person, sowie die Seltenheit bzw. die Klasse des Gegenstandes eine Rolle. Identifikations-Fähigkeiten waren keineswegs allmächtig.
Da Bahe so oder so keine weiteren Informationen herausfinden konnte und ihm seine HP regelrecht davon liefen, biss er schließlich in die Frucht hinein. Sie war angenehm saftig und schmeckte leicht süßlich.
Nachdem er einen Bissen runter geschluckt hatte, wartete Bahe kurz ab. Als ein paar Augenblicke später immer noch keine Schadensmeldung kam, machte er sich eifrig daran die Frucht zu verspeisen und strich sich die klebrigen Finger an den Fetzen seiner Hose ab.
„15/100, huh?"
Allzu lange würde auch das nicht reichen. Aber wenigstens hatte er den stetigen HP-Verlust unterbrechen können. Ohne die schöne Pflanze noch länger zu betrachten, ging er vorsichtig den Felsvorsprung ab und suchte nach der bestmöglichen Stelle sich hinab zu lassen.
Zu seiner Freude fand er, der Seite von der ursprünglich gekommen war gegenüber liegend, lianenartiges Gewächs an der Felswand. Es wirkte zudem relativ dick und stabil an das Felsgestein gewachsen.
Bahe musste zunächst zwei Meter horizontal über den nackten Fels klettern und ließ sich diesmal Zeit. Er war viel zu erschöpft. Ein weiterer Fehltritt würde ihn vermutlich das Leben und somit den Level-Abstieg kosten.
Trotzdem kam er mit einer knappen Minute relativ schnell an dem Gewächs an und atmete erleichtert auf, als seine Hände die lianenartigen Pflanzen ergriffen. Zum ersten Mal in seiner Kletterpartie konnte er mit seinen Händen vernünftig zugreifen und fühlte sich gleich viel sicherer.
Mit neuer Zuversicht kletterte er so zügig er sich traute an den Pflanzen hinunter. Dennoch war es ein langwieriger Prozess und Bahe musste zwischendurch kurze Pausen einlegen. Ab und an fand er eine Stelle, an der die Pflanzen etwas vom Fels weggewachsen waren und nutze die Gegebenheit, um seinen Ellenbogen um das Gewächs zu haken und so seine Finger entlasten zu können.
Es ging eine ganze Weile so weiter. Die lianenartigen Gewächse nahmen in ihrer Zahl an der Felswand auch stetig zu und ermöglichten Bahe es ab und an sogar zu einer leichteren Route zu wechseln.
Nach gut zweihundert Metern, die Bahe wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, stieß er plötzlich auf ein Problem und musste anhalten.
Die Lianen unter ihm waren allesamt durchtrennt!
Zwischen dem Endstück seiner jetzigen Pflanze und den Gewächsen unter ihm befand sich eine ca. drei Meter breite Einkerbung im Fels, die sich in schräger Form soweit er sehen konnte über die Felswand erstreckte.
Der Fels unter ihm war merkwürdig glatt und wirkte seltsam unnatürlich. Bahe würde sich niemals an dem Felsbereich festhalten können. Ihm blieb nur die Option sich fallen zu lassen und nach einer der unteren Lianen zu greifen.
In der Hoffnung, dem Boden wenigstens ein Bisschen näher zu sein, machte er sich Mut und schaute nach unten.
Ah, diese Höhen!
Bahe tat sein Bestes, um die aufkommende Panik zu unterdrücken. In etwa fünfzig Metern bahnte sich wieder eine undurchsichtige Nebelwand an. Zumindest ersparte ihm diese Tatsche einen womöglich noch schlimmeren Blick in die Tiefe.
Die Felswand schien unter ihm jedoch in eine Art Überhang überzugehen, so dass er nicht genau beurteilen konnte, wie groß die Entfernung wirklich war.
Tief durchatmend brachte er sich schließlich in Position, schaute nach unten, um sein Ziel anzuvisieren und ließ sich fallen.
Die Luft rauschte kurz in seinen Ohren, dann griff er auch schon nach seiner anvisierten Pflanze und kam mit kurzem Rutschen an dem Gewächs zum Stillstand.
„Perfekt!", jubelte Bahe.
Oder doch nicht! Schrie er im nächsten Augenblick innerlich. Mehrfaches Knacken und verschiedene Reißgeräusche kündigten sein kommendes Unheil an und ehe er nach einem Ersatz greifen konnte, löste sich das lianenartige Gewächs von der Felswand.
Hektisch griff er bereits im Fallen an der Liane um und vermied so zumindest kopfüber an der Pflanze zu baumeln, als es auch schon hinab ging.
Mit lautem Geschrei fiel Bahe schräg nach hinten rechts. Die Liane spannte sich mit einem Ruck und im nächsten Moment schwang Bahe, an der Liane baumelnd, mit zunehmender Geschwindigkeit in den Abgrund hinunter.
„Oooh, Scheeeeeeißeeee!"
Er schrie sich förmlich die Seele aus dem Leib, während er sich krampfhaft an der Pflanze festhielt. Der Nebel kam unfassbar schnell näher und einen Moment später war er praktisch blind. Die Luft zischte an seinen Ohren vorbei, während er sich innerlich auf einen harten Aufprall vorbereitete. Er fürchtete jeden Moment gegen harten Fels zu prallen, als er plötzlich spürte, wie sich Schwungrichtung änderte und er wieder nach oben pendelte.
Im Nu schoss er wieder aus der Nebelbank heraus und erhaschte so einen Blick auf das andere Ende seiner Rettungsleine. Die Liane hing noch gerade eben mit vier Metern an der Felswand an einem enormen Überhang, der es überhaupt erst möglich gemacht hatte, dass er nicht unmittelbar gegen die Felswand geprallt war.
Der Schwung, den er inne gehabt hatte, ebbte aus und Bahe fiel mit der Pflanze wieder zurück zur Nebelbank. In den folgenden Nerven zerrenden Minuten pendelte Bahe stetig hin und her, bis er irgendwann fast zum Stillstand kam.
Anfangs hatte er noch erkennen können, dass er mit fast zwanzig Metern verdammt weit von der Felswand entfernt war. Die letzten beiden Male, bei denen er über der Nebelbank eine klare Sicht gehabt hatte, ließen ihn zu seiner Bestürzung feststellen, dass die Liane inzwischen nur noch mit zwei Metern an der Felswand hing. Schlussendlich bedeutete dies, dass er inzwischen jeden Moment abstürzen konnte. Abgesehen davon ging seine Kraft zur Neige. Schwung zu holen, um einen Abstand von zwanzig Metern zu überwinden schien ihm in Anbetracht der Tatsachen irrsinnig.
Die andere Möglichkeit bestand darin, an der Liane wieder empor zu klettern und am Überhang entlang die Felswand weiter hinab zu klettern. So sehr es sich Bahe auch durch den Kopf gehen ließ, dort standen seine Chancen nicht viel besser...
Andererseits, was blieb ihm sonst schon übrig? Er musste es versuchen!
Bahe holte vorsichtig mit seinen Beinen Schwung, als ein Rück durch die Liane ging und er schockiert feststellte, dass er sich im Fallen befand!
Schreiend ließ er die Liane los und ruderte hektisch mit den Armen, um nicht kopfüber in den Abgrund zu stürzen. Der freie Fall dauerte zwei Sekunden, ehe seine Füße auf einen Widerstand trafen und sein Hintern unsanft auf einen harten Untergrund prallte.
Für einen kurzen Moment verlor er jegliche Orientierung, bis er merkte, dass er auf einem starken Gefälle gelandet war und über den Boden rutschte. Im Reflex fuhr er seine Arme aus und versuchte mit Händen und Füßen seine Rutschpartie zu stoppen. Durch die starke Neigung des Untergrunds wurde dies jedoch zunehmend schwieriger. Panisch presste er seine Füße mit aller Kraft auf den Boden und machte sich so schwer, wie es ihm möglich war.
Nach einigen qualvollen Sekunden verlor er endlich an Geschwindigkeit und kam in halb sitzender Position zum Ruhen. Seine hektische Atmung legte sich langsam wieder und ließ ihn seine unmittelbare Umgebung näher in Augenschein nehmen.
Der Nebel beschränkte seine Sicht noch immer enorm und verhüllte hinter der drei Meter Grenze alles mit zunehmender Dichte. Der Untergrund war sehr abschüssig. Bahe vermutete die Neigung bei ca. fünfunddreißig Grad. Die Oberfläche des Bodens war eindeutig felsigen Ursprungs, allerdings so unnatürlich glatt, dass Bahe sich noch immer bemühen musste an Ort und Stelle zu bleiben. Wie war so etwas zu Stande gekommen?
Bahe verwarf den Gedanken schnell wieder und machte sich daran Stück für Stück den Abhang hinunter zu rutschen. Die Kletterei zuvor war schon eine langwierige Arbeit gewesen, stellte aber keinen Vergleich zu Bahes momentaner Situation dar. Die geringen Distanzen, die Bahe sich vorschieben konnte ohne ins Rutschen zu geraten, raubten ihm aber allmählich den letzten Nerv. Sowohl der Nebel als auch der felsige Abhang schienen kein Ende zu nehmen. Zwischendurch checkte Bahe vor Langeweile sogar sein Charakterprofil und musste zu seinem Leidwesen feststellen, dass sein Hungerbedürfnis nur noch zu zwölf Prozent gestillt war. Es war erschreckend wie stark sich Bahes Verletzungsstatus auf sein Hungerbedürfnis auswirkte.
Bahe kämpfte sich für unzählige Minuten stetig im gleichen Trott weiter voran. Es war ermüdend und einige Male ertappte Bahe sich dabei, wie er zu nachlässig die Füße nach vorne schob und ein paar Meter unkontrolliert hinunter rutschte.
Einige Minuten später lichtete sich endlich der Nebel und gab den Blick auf die endlose Schlucht frei. Trotz des Nebels drang noch immer genügend Licht nach hier unten vor, um in der Ferne die Biegungen der Schlucht auszumachen. Allerdings wirkte alles relativ diesig wie an einem stark bewölktem Sommertag.
In zwanzig Metern endete der Abhang und gab den Blick auf eine weite Ebene am Fuße der Schlucht frei. Große Erleichterung machte sich in Bahe breit. Der ganze Aufwand hatte sich gelohnt!
Aufgeregt legte er so schnell es ging die letzten Meter zurück und kam am Rande des Hangs zum Ruhen. So nah der Boden zunächst auch gewirkt hatte, so befand er sich noch immer knappe hundert Meter über den Boden. Die Felswand unter ihm verlief senkrecht nach unten. Bahe machte sich keine Illusionen. Seine Hände und Unterarme waren noch immer leicht verkrampft, ein Abstieg an dieser Stelle war für ihn unmöglich.
Zu Bahes Rechten befand sich jedoch vielleicht eine Möglichkeit zum Boden zu kommen. Der Fels verlief am Boden mit einer flachen Neigung, die sich mit zunehmender Höhe stetig steigerte, bis die Felswand wieder eine senkrechte Form annahm. Mitten drin, grub sich am Erdboden eine gigantische Höhle in die Felswand und ragte knappe fünfzig Meter in die Höhe. Über der Höhle war die Felswand brüchig und von zahlreichen Vorsprüngen und Einbuchtungen durchzogen. Dort würde sein Abstieg die besten Erfolgsaussichten haben.
Trotz der Freude, endlich einen Ausweg gefunden zu haben, ließ sich Bahe Zeit und näherte sich langsam dem Bereich oberhalb der Felsvorsprünge. Mit äußerster Vorsicht ließ er sich schließlich auf den ersten Vorsprung hinab, setzte sich auf die leicht unebene Fläche und atmete tief durch.
„Den schlimmsten Teil habe ich geschafft!", motivierte er sich selbst und suchte nach der besten Route für seinen Abstieg.
Keine Minute später schüttelte er seine Hände kurz aus und ließ sich zum nächsten Felsvorsprung hinab. Von dort aus sprang er einen Vorsprung weiter und kletterte in einer Felsspalte weiter nach unten.
Der gleiche Prozess wiederholte sich immer wieder, stets mit kleinen Pausen, in denen Bahe seine nächsten Schritte plante. Zwischendurch wagte er sogar mal den ein oder anderen Sprung nach unten.
Insgesamt stellte dieser Teil die schnellste Etappe in seiner langwierigen Reise zum Grund der Schlucht dar.
Nach kaum fünf Minuten kam er bereits unmittelbar über der Höhle an und kletterte daraufhin am rechten Rand der Höhle weiter hinab.
Mit zunehmender Neigung des Felsen gewann Bahe an Sicherheit, bis er schließlich ab und an die Hände von den Felsen löste und in einer Mischung aus Sprüngen und schnellen Klettereinlagen hinunter eilte.
Vier Meter über dem Boden sprang er zu einem Felsen, der neben der Höhle vier Meter in die Höhe ragte, um dort den letzten Rest des Weges zurück zu legen. Von Oben hatte er gesehen, dass sich die Seite des Felsens hervorragend zum Festhalten eignete und so ersparte er sich die letzten zweihundert Meter über blanken Fels zu steigen.
Mit einem Satz war er drüben und einige Handgriffe später kam er endlich am Erdboden der Schlucht an.
Bahe brauchte einen Moment, um seinen Erfolg zu verdauen, doch dann brachen all seine Dämme.
„Ich hab es geschafft!", schrie er aus Leibeskräften, während er erfolgstrunken seine Hände in die Luft streckte.
„Letztendlich habe ich dich doch bezwungen", meinte Bahe glücklich, während er zweimal mit der linken Hand auf den Fels klatschte und sich anschließend umdrehte. Vor ihm erstreckte sich der Boden der Schlucht als eine weite Ebene.
Er wollte gerade anfangen sich genauer umzuschauen, als der Boden unter seinen Füßen mit einem lauten Grollen zu beben begann.
Ein Erdbeben?! Schoss es ihm durch den Kopf, als die Erde abrupt zum Erliegen kam. Das Beben war genauso schnell verschwunden, wie es gekommen war.
Misstrauisch drehte sich Bahe um und wollte die Felswand über ihm mustern, als sein Blick schockiert am Felsen vor ihm hängen blieb! Er blickte mitten in ein grünes Auge der Größe seines Torsos!
Vor Schreck machte er unwillkürlich einen Schritt zurück und blieb dann wie angewurzelt stehen. Ihm schwante langsam, dass der Felsen vor ihm gar keiner war...
Das Auge blinzelte zweimal und fokussierte sich dann auf Bahe. Ihm lief ein eisiger Schauder über den Rücken, als er den Blick der gigantischen Kreatur auf sich spürte.
„Ähm... hi?"
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