Kapitel 38 - Die Schriftrolle
Bahes Gedanken überschlugen sich in der Hoffnung einen Ausweg zu finden.
Im See würde er seine Berufsklasse verlieren, der Fluchtweg war ihm versperrt.
Den Hügel hinauf?
Das Monster hätte ihn eingeholt, ehe er oben angekommen wäre...
Was blieb noch? Dem ersten Hieb ausweichen und im Zick-Zack durch die Büsche das Weite suchen?
Er hatte bei seiner letzten Flucht so unglaublich viel Glück gehabt und zudem war der Vorsprung viel größer gewesen. Inzwischen trennten ihn und die Kreatur nur noch wenige Meter...
Bahe glaubte nicht mehr an ein Entkommen.
Die Pranken der Wächterkreatur fielen donnernd auf den Waldboden, während Bahe sich darauf vorbereitete, jeden Moment zerfleischt zu werden.
Noch drei Meter...
Zwei...
Bahe schloss die Augen und erwartete das Unvermeidliche...
„Stop!", zerriss ein Schrei die gefährliche Atmosphäre und brachte alles zum Stillstand.
Es passierte... nichts.
Bahe hielt jedoch noch immer den Atem an.
Nach einem weiteren kleinen Moment öffnete er vorsichtig die Augen und erstarrte.
Keinen Schritt vor ihm stand Limona und hatte sich vor der merkwürdig drein blickenden Kreatur groß aufgebaut.
Das wolfsähnliche Geschöpf hatte wohl gerade zum Sprung auf ihn ansetzen wollen, als es von Limona überrascht wurde. Welche sich Aufmerksamkeit heischend dazwischen geworfen hatte.
Mittlerweile standen sie sich Auge in Auge gegenüber und die Kreatur schien unschlüssig zu sein, wie sie weiter vorgehen sollte.
„So ist es gut", meinte Limona und zeigte auf Bahe und erklärte weiter. „Nur, damit das klar ist. Du wirst ihn nicht anrühren. Hast du mich verstanden?"
Die Wächterkreatur ließ sich in keinster Weise anmerken, dass sie vernommen hatte, was Limona von sich gegeben hatte und machte sich viel lieber daran an ihr vorbei zu kommen, um zu Bahe zu gelangen.
Doch das wollte Limona sich offensichtlich nicht gefallen lassen. Mit der rechten Hand, fasste sie die Kreatur an ihrem Horn auf der Stirn und zog es mit einem Ruck zu sich heran.
„Schau mich gefälligst an, wenn ich mir dir rede!" rief Limona aufgebracht und brachte sich erneut vor der Kreatur in Stellung.
Die Wächterkreatur fing an zu knurren, was Limona dazu veranlasste dem Wesen sofort einen Klaps gegen das Maul zu verpassen.
Sichtlich schockiert und den Kopf zurück ziehend, blickte die Kreatur Limona ungläubig an. Während Bahe nicht weniger überrascht dreinschaute. Er wusste nicht, worüber er sich mehr wundern sollte, Limonas plötzlicher Tatendrang oder das merkwürdige Verhalten der Wächterkreatur.
„Ich habe dir gesagt, dass du ihn nicht anrühren sollst, verstanden? Und wehe, du knurrst mich nochmal an. Weißt du eigentlich wer ich bin?", machte sich Limona Luft.
„Setz dich da vorne hin", sagte sie im Anschluss und zeigte auf ein Fleckchen Rasen drei Meter von ihnen entfernt.
Doch die Kreatur dachte gar nicht daran ihrer Aufforderung nachzukommen und wollte gerade erneut ansetzen an Limona vorbei zu kommen.
„Wag dich!", sprach diese aber schon mit zusammen gepressten Zähnen ihre Warnung aus.
Was die Wächterkreatur veranlasste in ihrer Haltung zu verharren.
„Setz dich da vorne hin!", wiederholte Limona ihre Anweisung bestimmt.
Bahe traute seinen Augen kaum, als die Kreatur tatsächlich Limonas Worte befolgte und den entsprechenden Rasenbereich aufsuchte.
Nur Hinsetzen wollte die Wächterkreatur sich offensichtlich nicht.
Doch Limona ließ nicht locker, zeigte mit einem Finger nach unten und rief: „Sitz!"
Widerwillig ließ sich die Kreatur nieder und blickte bösartig in Bahes Richtung.
Bahe ließ sich derweil mit einem Seufzen erleichtert auf den Hintern fallen. Er war heilfroh noch einmal mit seinem Leben davon gekommen zu sein.
Wieso Limona ohne seine Aufforderung geholfen hatte, war ihm im Moment auch völlig egal.
Die plötzliche Bewegung Bahes hatte die Wächterkreatur jedoch wieder aufspringen lassen. Sie begann erneut zu knurren und verlagerte sich in eine Angriffsstellung.
Limona ließ ihren Körper währenddessen zerfließen, floss die paar Meter in Windeseile hinüber und bildete ihren Körper vor der Schnauze des Wesens erneut aus.
Die Wächterkreatur war noch im Begriff große Augen zu kriegen, als Limona dem Maul der Kreatur den nächsten Schlag verpasste und die Kreatur anschrie, dass diese regelrecht zurück zuckte.
„Ich habe dir gesagt, du sollst dich hinsetzen! Wehe, du wagst es dich noch einmal von diesem Platz zu rühren, oder ich schwöre dir, du wirst es bereuen mir jemals begegnet zu sein! Haben wir uns verstanden?"
Die Kreatur verharrte geschockt an Ort und Stelle. Einzig das Knurren war dem Wesen scheinbar im Hals stecken geblieben.
„Ich habe gefragt, ob du mich verstanden hast...", erklang Limonas Stimme Wut verzerrt.
Als Antwort ließ sich die Kreatur in eine liegende Position nieder und senkte den Blick.
„Dachte ich es mir doch", rümpfte Limona genervt die Nase und wandte sich an Brocken. „Pass du auf, dass sie sitzen bleibt."
„Mache ich", antwortete Brocken, ging um Bahe herum und setzte sich zwischen ihn und die Wächterkreatur.
Limona grinste und rief freudig: „Ab ins Wasser!"
Danach lief sie zum Wasser und sprang mit einem Satz hinein.
Bahe saß währenddessen immer noch verdutzt am Boden. Er konnte die Geschehnisse noch nicht so ganz fassen.
Er atmete ein, zweimal tief durch, um sich zu beruhigen und überlegte dann, was gerade passiert war.
Wieso hörte die Wächterkreatur auf seine Elementare?
Das seine Elementare ein merkwürdiges Eigenleben hatten und wie wirkliche Persönlichkeiten agierten wusste er ja schon, aber er hatte noch nie darüber nachgedacht, wann und vor allem wie sie wirklich angreifen würden. Normalerweise musste ein Spieler selbst dafür sorgen, dass seine Kampfgefährten angriffen. Sie taten es nicht von selbst. Andererseits würde sowas nicht mit den Persönlichkeiten seiner Elementare zusammen passen. Und konnte man überhaupt von einem Angriff sprechen, wenn sie nur mit der Kreatur gesprochen hatte?
Wohl eher nicht... Das alles verwirrte Bahe nur noch mehr.
Er schaute Limona an und murmelte: „Überprüfen!"
An Limonas Charakterprofil hatte sich nichts verändert... Sie war immer noch Level 0.
Hier stand er auch direkt von dem nächsten Problem... wie verhalf er eigentlich seinen Elementaren zu einem höheren Level?
Fragen über Fragen...
„Überprüfen!", sagte er diesmal Brocken anschauend.
Auch hier gab es nichts Neues, wenn man mal von dem minimal gesteigerten Treuewert absah. Sein Einsatz mit dem Wildwurzelkaninchen hatte nichts gebracht... Andererseits hatte Brocken die Viecher ja auch nicht getötet.
Es gab die verschiedensten Systeme, wie Kampfgefährten an Erfahrung gewannen. Sie konnten selbst kämpfen oder halfen in Auseinandersetzungen aus. Entweder bekamen sie auf diese Weise Erfahrung oder der Spieler teilte sogar die eigene Erfahrung auf seine Kampfgefährten auf.
Aber er bekam rein gar keine Informationen darüber, wie er vorgehen sollte... Wie zum Henker, soll man in so einem Spiel erfolgreich sein?!
Bahe schüttelte abwesend den Kopf... Er musste unbedingt rauskriegen, wie mit seinen Elementaren umzugehen hatte. Seine nächste Online-Recherche würde auf jeden Fall damit zu tun haben.
Ein leichtes Grollen schreckte ihn aus seinen Gedanken und ließ seinen Blick blitzschnell zur Wächterkreatur wandern.
Sie hatte ihren Kopf im Liegen an Brocken vorbei geneigt und knurrte Bahe feindselig an.
Als Brocken den Blick auf sie richtete, zog sie ihren Kopf schnell wieder zurück und stellte das Grollen ein.
Anschließend sah Bahe, wie Brocken seine Aufmerksamkeit wieder einigen Grashalmen vor sich widmete und prompt lugte die Kreatur erneut an Brocken vorbei und knurrte Bahe an.
Brockens Blick flog erneut zu der Kreatur, welche sich sofort wieder unschuldig gab, bevor er sich abermals seinen Grashalmen zuwandte.
Während Bahe am Anfang noch nervös war, musste er wenig später grinsen, als sich dieser Vorgang noch mehrere Male wiederholte.
Der Wächterkreatur war er offensichtlich ein Dorn im Auge, aber im Beisein seiner Elementare traute sie sich nicht, sich vom Fleck zu rühren.
Irgendwie sah die Kreatur sogar seltsam niedlich aus, als sie sich so verhielt. Vielleicht sollte er aber lieber nicht so denken. Raubtiere in der realen Welt mochten durchaus auch so niedlich wirken, bis sie zu dem Schluss kamen, dass man die perfekte Beute darstellte.
Bahe schaute auf den See und sah Limona noch immer vor Freude jauchzend durch das Wasser schwimmen. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus.
Mal kindlich, mal geheimnisvoll, mal Nerv tötend... eine seltsame Mischung von Charaktereigenschaften.
Nun, er war am Katharsee. Jetzt hieß es abzuwarten. Entweder würde sich die Umgebung auf die Loyalität seiner Elementare auswirken oder nicht. Da direkt zu Beginn noch nichts passiert war, würde es entweder noch Zeit brauchen oder ihre Anwesenheit hier war nutzlos.
So oder so, daran konnte er jetzt nichts mehr ändern.
Da er aber noch etwa vierzig Minuten Spielzeit über hatte, entschloss er sich diese besser zu nutzen und ein paar andere unerledigte Dinge anzugehen.
Zunächst war da die Schriftrolle mit dem Zauber, der es Spielern ermöglichen sollte, sich mit Freunden zu unterhalten. Laut Feiying sollte ein einfaches Vorlesen zum Erlernen reichen.
Bahe hoffte inständig, dass er sich nicht irrte. Sonst würde er wahrscheinlich warten müssen, bis er sich mit Magie auskannte. Was gelinde gesagt... noch ewig dauern konnte...
Bahe entrollte die Schriftrolle und las mit zuckendem Mundwinkel den Text. Meinten die Spielentwickler das ernst?
Kopfschüttelnd begann er den ungewöhnlichen Text laut aufzusagen.
„Willkommen neues Spielerlein,
tritt herein und betrachte dein neues Heim.
Du willst mit deinen Schwestern und Brüdern reden können?
Raoie wird dir dies sehr gern gönnen.
Ein Mana pro Sekunde für jede Unterhaltung,
hab Acht vor der plötzlichen Unterbrechung bei Nichteinhaltung.
Sei gewarnt, denn Mana ist spärlich,
Worte jedoch manchmal unentbehrlich."
Zu Bahes Erstaunen erstrahlte die Schriftrolle plötzlich in einem weißen Licht und wurde so hell, dass er für einen kurzen Moment nicht mal mehr ihre Umrisse ausmachen konnte.
Dann nahm das Leuchten wieder ab und er stellte verblüfft fest, dass die Schriftrolle verschwunden war und vor ihm eine kleine, weiße Lichtkugel schwebte.
Eine Weile bewunderte er die Schönheit des Lichtes, bis er wieder an die Schriftrolle dachte und überlegte, was er als nächstes zu tun hatte.
Vorsichtig führte er schließlich seine rechte Hand unter die Lichtkugel und merkte wenig später, dass sie tatsächlich nicht nur aus Licht bestand. Seine Hand stieß gegen einen Widerstand!
Vollkommen perplex wollte er seine Hand schon wieder wegnehmen, als die leuchtende Kugel plötzlich blitzschnell mit seiner Hand verschmolz.
Verblüfft hielt er inne und prompt klappte ein Benachrichtigungsfenster auf:
Freude strahlend schloss Bahe das Fenster und wollte schon das Kommando rufen, als ihm einfiel, dass er noch gar nicht den Avatarnamen von Feiying kannte...
Leicht genervt fasste Bahe sich an den Kopf und beschloss es Morgen direkt als erstes in Erfahrung zu bringen.
Da er in dieser Hinsicht nicht weiter kommen würde, beschloss er kurzerhand sich der anderen Problematik zu widmen. Er musste unbedingt lernen, wie man Magie einsetzen konnte. Nicht die fertigen Konstrukte, wie die Schriftrolle vielleicht eins gewesen war, sondern wie man Magie mit Gedankenkraft lenkte.
Es wurmte ihn tierisch, dass sein Meister ihm im Grunde nichts verraten hatte. Er musste meditieren und sollte seine Energie erspüren, so viel wusste er. Das war es aber auch schon.
Gut, sein Meister hatte noch Wert darauf gelegt, dass er Mana als Energie sah, aber wirklich mehr war nicht dabei heraus gekommen.
Mürrisch begab er sich in eine aufrechte Sitzposition, schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Damit war sein Wissen zur Meditation auch schon erschöpft. Noch eine Sache, zu der er sich Morgen schlau machen würde, dachte er für sich und atmete ein paar weitere Male tief ein und aus.
Es tat sich jedoch nichts.
Machte er etwas falsch?
Nein, wohl eher nicht. Ilias hatte ihm gesagt, dass es wohl sehr lange dauern würde. Entschlossen blieb Bahe die letzten Minuten seiner Spielzeit so sitzen und lauschte seinem eigenen Atem.
Kurz vor dem Ende seiner Spielzeit öffnete er enttäuscht die Augen und schaute ein letztes Mal zu seinen Elementaren hinüber. Sie waren immer noch beide auf ihre Weise beschäftigt und beachteten ihn nicht weiter.
Was wohl passieren würde, wenn er sich wieder einloggte?
Es war das erste Mal, dass er sich beim Ausloggen außerhalb der Stadt aufhielt. Normaler Weise sollte man am gleichen Standort wieder materialisiert werden. Außer man befand sich in potenzieller Lebensgefahr, dann wurde der nächste sichere Standort für die Materialisation ausgewählt.
Bahe war sich nicht sicher, ob die Anwesenheit der Wächterkreatur als gefährlich eingestuft werden würde. Aber egal, Morgen würde er es eh erfahren.
Mit einem kurzen Befehl bestätigte er den Prozess des Ausloggens und die Welt um ihn herum wurde schwarz.
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