Kapitel 37 - Ein Geruch
Als Bahe die Stadt verließ, ging er in Gedanken all seine letzten Schritte durch. Inzwischen hatte er die Tutorials III-V mehr oder weniger abgeschlossen. Tutorial I hatte er bereits in Angriff genommen, es würde bis zum erfolgreichen Beenden allerdings noch ein Bisschen dauern.
Damit blieb nur noch Tutorial II, welches er erst beginnen konnte, wenn er das erste Tutorial abgeschlossen hatte.
Im Grunde bauten alle Tutorialmissionen aufeinander auf. Doch gerade die ersten Beiden beschäftigten sich gleich mit Waffenfähigkeiten und dem Kampf gegen Monster. Kein Spielanfänger hatte zu Beginn eine Chance die Missionen innerhalb eines Tages zu absolvieren, sofern er sich nicht im realen Leben mit Kampfsport auseinander setzte oder Berufssoldat war.
War man schlau, konnte man dieses Problem umgehen und sich direkt den einfacher abzuschließenden Tutorialmissionen III-V widmen. Genau das, hatte er mit Erfolg getan.
Die nächsten Tage würden sich hauptsächlich darum drehen, die Forderungen Fenrirs zu erfüllen, um das Bogenschießen endlich zu erlernen.
Mit Brocken hatte er glücklicher Weise eine Möglichkeit Wildwurzelkaninchen zu fangen, ohne zwingend eine bessere Waffe zu benötigen.
Insofern machte es nichts, dass Bahes Ausbilder noch nicht mit ihm zufrieden war. Sicher, er war zunächst verdammt genervt gewesen. Wer wäre das nicht?
Mittlerweile wusste er Fenrirs Aufgaben jedoch zu schätzen. Bahe war sich im Klaren darüber, dass es zwei Möglichkeiten gab Spiele wie Raoie anzugehen.
Entweder man machte sich ans Speedleveln und versuchte beständig so schnell wie möglich im Level aufzusteigen oder aber man suchte nach jeder sich bietenden Gelegenheit seine Attribute zu verbessern.
Er hatte sich ohne zu zögern der zweiten Methode zugewandt.
Es war für ihn in näherer Zukunft unmöglich bei den Spielern mitzuhalten, die bereits vor einem halben Jahr gestartet waren. Level technisch waren sie ihm einfach viel zu weit voraus und konnten sich in Regionen vorwagen, die bei seinem geringen Level noch ein Ding der Unmöglichkeit waren.
Allein daher lohnte sich die erste Methode nicht. Es gab aber noch ein Problem.
Da die ersten Spieler und andere Progamer halt schon so viel weiter waren und ständig auf Entdeckungsreise gingen, nahm die Möglichkeit neue Geheimnisse und Artefakte zu finden zunehmend ab.
Daher blieb ihm nur die Möglichkeit, jede Gelegenheit zu nutzen und gerade die Kleinigkeiten mitzunehmen, die gewöhnliche Spieler oft verachteten oder ihrer überdrüssig waren.
Denn wer wollte schon stundenlang Pfeile auf einen Übungsheuhaufen schießen?
Bahe war sich sicher, dass sein Ausbilder aufgrund seiner mageren Statur und den mangelnden Attributwerten so hart mit ihm war.
Andere wären vielleicht ausgerastet und hätten das Tutorial von neuem begonnen. Bahe wusste es jedoch besser.
Das Spiel gab ihm nicht nur eine Möglichkeit sich zu verbessern. Sollte er dieses Training wirklich absolvieren, würde er an anderen Spielern mit seinem Attributwerten sogar vorbei ziehen.
Raoie gab ihm schließlich die Möglichkeit eines Trainings, dass seine Stats für immer erhöhen würde. Sofern er nebenbei auch noch in der realen Welt trainierte und sich richtig ernährte, so würde er seine lausigen Anfangsstatistiken über kurz oder lang zum Normalstatus oder sogar darüber hinaus aufwerten.
Dann würde er eines Tages die Bonuspunkte des Trainings in Raoie besitzen als auch die Standardwerte, die jedem körperlich gesunden Spieler zugeschrieben wurden.
Da er sowieso noch zwei Wochen auf Level 0 verweilen musste, hatte er auch genügend Zeit zu trainieren. Er hatte sogar schon überlegt, nachdem Tutorial I abgeschlossen war, es für eine Bezahlung mit anderer Waffe erneut zu beginnen.
Auf diese Weise konnte er seine Attribute kontinuierlich verbessern, während er darauf wartete das Tutorial V endlich endete.
Sollte er dann eines Tages einem, vom Level her, höheren Spieler begegnen, hätte er immer noch Chancen diesen zu besiegen, sofern ihre Attributwerte nicht zu sehr voneinander abwichen. Das Level war nicht alles.
Und schlussendlich hatte er mit dem Tutorial IV seine Nahrungsquelle decken können. Wasser konnte man für die nächste Zeit schlicht weg aus einem Bach oder See trinken.
Die wichtigsten Dinge waren so für den Anfang endlich geregelt.
Nur, indem er mehrere Dinge gleichzeitig vollbrachte, hatte er die Chance den großen Vorsprung anderer Gamer einzuholen.
Ein paar Minuten später kam Bahe endlich an den Wiesen der Wildwurzelkaninchen an und schaute sich um.
Nicht weit entfernt tollten seine Elementare zwischen einigen Büschen umher.
Bahe musste grinsen, als er unwillkürlich an seine kleinen Geschwister dachte. Auf ihre kindliche Art ähnelten Limona und Brocken ihnen schon sehr.
Zügigen Schrittes ging er auf sie zu und wollte zu sprechen ansetzen, als Limona ihm mal wieder zuvor kam.
„Da bist du ja endlich!", Schimpfte sie regelrecht. „Hast du eigentlich eine Ahnung wie lange wir gewartet haben?!"
„Ähm... Ja, ziemlich genau", sagte Bahe belustigt.
„Du... du...", stotterte Limona vor plötzlich aufbrodelnder Wut.
„Auch jetzt lass gut sein, Limona", unterbrach Bahe sie ungeduldig. „Oder wolltest du nicht mehr von der umliegenden Gegend sehen?"
„Ja, wir wollten... mehr... sehen", mischte sich Brocken ein.
„Brocken!", rief Limona aufgebracht.
Doch Bahe ließ sie diesmal nicht weiter zu Wort kommen.
„Ich habe versprochen, euch umher zu führen und ich halte mein Wort. Können wir sofort los?"
„Ja!", rief Brocken freudig.
„Brocken!", knirschte Limona zwischen zusammen gepressten Zähnen hervor.
„Limona, du kannst dich gerne weiter aufregen... oder du kommst mit und genießt die Natur", sagte Bahe mit bedeutungsschwerer Pause. Danach wandte er sich zum Gehen und Brocken folgte ihm.
Aus den Augenwinkeln beobachtete er noch, wie Limona genervt eine Grimasse zog und vor Wut mit den Füßen auf dem Boden stapfte, ehe sie über ihren Schatten sprang und ihnen letztlich nachlief.
Bahe schüttelte erleichtert den Kopf. Scheinbar hatte seine Methode funktioniert. Er war sich nicht sicher gewesen, ob Limona ihm wirklich folgen würde. Dauerhaft beschworener Elementar hin oder her.
Die Loyalität von 1/100 machte ihm wirklich zu schaffen.
Aber vielleicht würde sich dies bald ändern. Limona war ein Wasserelementar, was lag da näher, um ihre Loyalität ihm gegenüber zu steigern als ein besonders reines und mystisches Gewässer?
Bahe war der Überzeugung, dass ihm der Katharsee erneut von Nutzen sein konnte.
Da er den Weg bereits zum dritten Mal beschritt, fiel es ihm schon wesentlich leichter den Weg auszumachen, auch, wenn es keine Wege zur Orientierung gab.
Ein wirkliches Problem war Limona. Sie brabbelte einfach unterbrochen in einer Lautstärke, dass es Bahe inzwischen schon verwunderte, noch nicht auf irgendwelche gefährlichen Kreaturen gestoßen zu sein.
„Mal ganz ehrlich, Brocken. Guck ihn dir doch an", rief Limona schnell. „Ein gebrechlicher, kleiner Wicht, soll unser Seelenbund sein."
„Das hast... du... schon mal gesagt", antwortete Brocken.
„Aber es ist doch wahr!"
„Wenn du meinst..."
„Brocken!"
„Ja...?"
„Grrr..."
„Könntest du nicht einfach mal den Mund halten, Limona?!", zischte Bahe verzweifelt. „Wir sind hier in einem ziemlich gefährlichen Gebiet. Sobald uns irgendeine der hiesigen Kreaturen bemerkt, sind wir nichts anderes als Frischfleisch."
„Siehst du, was ich meine?!", wandte sich Limona, Augen verdrehend, an Brocken.
„Du könntest es ihm auch sagen...", erklärte Brocken.
„Wieso sollte ich? Hmpf!"
„Moment mal...", mischte sich Bahe ein und schaute seine Elementare mit zusammen gekniffenen Augen an. „Was genau meint ihr damit? Was verheimlicht ihr mir?"
„Komm schon... sag es ihm... Limona. Sonst... mache ich es", brummte Brocken.
„Du bist ein Spielverderber, weißt du das? Wieso muss ich immer von solchen Idioten umgeben sein..."
„Limona, wovon weiß ich nichts?", fragte Bahe Zähne knirschend.
„Es werden keine Kreaturen in unsere Nähe kommen", sagte sie schlicht.
„Wieso nicht?", fragte Bahe verwirrt.
„Sie trauen sich nicht."
„...", Bahe war sprachlos, ob ihrer knappen Antworten. „Kannst du das nicht mal etwas ausführlicher erklären? Wieso trauen sich die gefährlichen Kreaturen dieses Waldes nicht in unsere Nähe?"
„Du bist wirklich schwer von Begriff, was?", fragte Limona hochnäsig, worauf Bahe sich bemühen musste, seine aufkeimende Wut unter Kontrolle zu halten. „Um es genau zu formulieren, fürchten sich die Kreaturen nicht vor uns, sondern von etwas, dass noch immer an dir ist."
„Und was wäre das?", fragte Bahe mit einem gefährlich zuckenden Lächeln.
„Ein Geruch."
Hä? Bahe verstand immer noch nichts. Soweit er wusste, stank er nicht, was ganz davon abgesehen, sowieso kein Grund für entsprechende Monstrositäten gewesen wäre, von seinem Fleisch abzulassen.
Doch Limona fuhr bereits fort: „An dir haftet noch immer ein Geruch nach Drachen."
Jetzt dämmerte es Bahe...
„Ich habe keine Ahnung, wie du eine Begegnung mit zwei Drachen überleben konntest, aber der Geruch lässt keinen Trugschluss zu. Du hattest scheinbar ziemlich engen Kontakt mit diesen Wesen."
Engen Kontakt?
So konnte man es wohl auch auslegen...
Nur, leider hatte er die Begegnung nicht überlebt...
„Dein einfältiges Menschendasein kann den Geruch wohl kaum wahrnehmen. Aber die Kreaturen des Waldes können es. Solange sie diesen Geruch an dir auch nur erahnen, werden sie dir alle aus dem Weg gehen wollen", erklärte Limona bedeutungsschwer. „Hast du wirklich geglaubt, dass du sonst einfach so durch diese Wälder wandern könntest? Weit erfahrenere Leute als du, würden sich normaler Weise noch nicht mal in die Nähe dieser Wälder wagen. Dafür sind die Kreaturen hier viel zu mächtig."
Langsam bekam vieles einen Sinn. Bahe hatte sich schon gefragt, wieso die Wälder oberhalb Waldenstadts so verschrien waren. Er selbst hatte schließlich noch nie Probleme beim Durchqueren gehabt. Aber wenn es stimmte, was ihm Limona sagte, hatte er unglaubliches Glück gehabt...
Soweit er von seinen Online-Quellen wusste, waren Kreaturen hier im Schnitt ab Level 30 aufwärts angesiedelt. Eine Auseinandersetzung mit ihnen hätte seinen sicheren Tod bedeutet.
„Verstehst du jetzt, wieso wir uns durchaus unterhalten können?"
Bahe nickte nachdenklich.
„Ihr wusstet also die ganze Zeit Bescheid?", fragte er schließlich.
„Ja", antwortete Brocken schlicht.
„Und ihr habt mich lieber in dem Glauben gelassen, dass wir durch den Wald schleichen müssen, um diesen Kreaturen zu entgehen?"
Während verhalten Brocken anfing zu kichern, prustete Limona los und konnte sich vor Lachen kaum noch halten.
Bahe Mundwinkel zuckte verdächtig in seinem Bemühen ruhig zu bleiben.
„Hast du denn wirklich geglaubt, dass du solch mächtigen Kreaturen durch ein Bisschen hin und her schleichen, einfach so aus dem Weg gehen kannst?", fragte Limona immer noch kichernd. „Die können dich doch schon mindestens aus einem Kilometer Entfernung wahrnehmen, ganz zu schweigen davon, dass dein Getrampel nicht gerade als Schleichen zu bezeichnen ist!"
Limona lachte erneut schallend los.
Bahe schluckte seine aufgestaute Wut derweil runter und versuchte sachlich zu bleiben: „Aber wieso haben sie mich dann nicht angegriffen, als ich das erste Mal in diese Wälder gerannt bin? Damals war ich den Drachen noch nicht begegnet..."
„Wieso warst du denn so blöd in dieses Gebiet zu laufen?", fragte Limona irritiert.
„Nun ja, ich wurde von einer Vielzahl von anderen Monstrositäten verfolgt und mir blieb nichts anderes über...", wich Bahe Limonas Frage zum Teil aus.
„Meinst du etwa... die Wildwurzelkaninchen?", fragte Brocken kichernd.
„Äh...", als Bahe nicht wusste wie er darauf antworten sollte, lachte auch Limona los.
„Das erklärt es", rief Limona nach Atem ringend. „Die meisten mächtigen Kreaturen betrachten es unter ihrer Würde, die Beute von Tieren zu stehlen, die soweit unter ihnen in der Nahrungskette stehen."
Danach fing sie erneut an zu Lachen. Selbst Brocken war immer noch am Kichern, was Bahes Laune nicht wirklich verbesserte.
Aber zumindest hatte seine Elementare ihm gerade einige Fragen beantwortet, die er die ganze Zeit mich sich geschleppt hatte. Es hatte ihn nämlich gewundert, dass er doch tatsächlich der erste Spieler war, der den Katharsee gefunden hatte.
Gut, er hatte bereits gewusst, dass die Kreaturen in den Wäldern nördlich von Waldenstadt ganz schlechte Beute abgaben, da man von ihnen wohl kaum Artefakte oder besondere Ausrüstungsgegenstände bekam und sich der Aufwand daher nicht lohnte.
Aber normalerweise wurden selbst solch unwirtschaftliche und gefährliche Gebiete von dem ein oder anderen Experten aufgesucht.
Soweit er wusste, hatte es tatsächlich einen Spieler gegeben, der bis zur Drachenschlucht gekommen war und dort umdrehen musste, weil er damals keinen Weg besessen hatte, die Schlucht zu überqueren. Im Zusammenhang mit der schlechten Beute und dem scheinbar hohem Schwierigkeitsgrad hatten sich die Spieler wohl wirklich hauptsächlich den anderen Himmelsrichtung zugewandt und waren nicht weiter nach Norden vorgedrungen.
Letztlich löste er sich aus seinen Gedanken und wandte sich ein letztes Mal an seine Elementare: „Nun, da ich anscheinend immer noch nach Drachen rieche, sollten wir die Zeit lieber nutzen, anstatt hier rum zu stehen. Folgt mir."
Damit drehte Bahe sich um und lief im regelrechten Laufschritt zum Katharsee.
Nach zwanzig Minuten kam Bahe oben an den Erhöhungen an, die zum See hinunter führten. Limona und Brocken trafen kaum einen Moment später auch ein.
„Ein Katharsee!", rief Limona aufgeregt und selbst Brocken schaute verblüfft aus dem Häuschen.
Bahe grinste und wollte schon stolz zu einer Erwiderung ansetzen, als Limona sich kreischend hinab stürtze.
„Los, wir müssen da runter!", schrie sie dabei aus Leibeskräften und ehe Bahe sich versah, wurde er von Brocken unsanft nach vorne gestoßen.
Vollkommen entsetzt, ruderte Bahe mit den Armen und fing sich halbwegs in der Luft, bevor er unsanft auf dem schrägen Boden landete der zum See hinunter führte.
Mehr stolpernd als rennend, schaffte er es schließlich auf den Beinen zu bleiben und keuchend auf dem weichen Rasen vor dem See zum Stehen.
„Was zum...", wollte er seiner Wut schon lauthals Luft verschaffen, als ein zorniges Brüllen durch die Umgebung hallte.
Entsetzt riss Bahe seinen Kopf herum und entdeckte keine fünfzehn Meter von ihm entfernt eine neue Wächterkreatur des Katharsees, die in voller Geschwindigkeit heran stürmte.
„Oh, nein..."
Ich hoffe ihr hattet Spaß beim Lesen des Kapitels.
RiBBoN
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