Kapitel 29 - Ein Titel!
„Hast du schon mal davon gehört, wie man seinen Manapool erhöhen kann?", fragte Ilias.
„Hmm... durch Meditation?", stellte Bahe recht sicher eine Vermutung an.
„Ganz genau, aber die Meditation dient nicht nur der Manapoolerweiterung, sondern hilft dir auch dein bereits vorhandenes Mana spürbar zu machen", erklärte Ilias. „Wir Magier meditieren, um uns mit der Energie des Lebens vertraut zu machen. Schließlich musst du dein Mana erst spüren können, um irgendwann darauf zugreifen zu können."
„Also, wird meine Aufgabe sein zu meditieren?"
„Unter anderem", grinste Ilias und kramte ein unscheinbares Armband aus Stoff aus einer seiner Hosentaschen. „Weist du was das hier ist?"
„Ein Armband...?", zuckte Bahe hilflos mit den Schultern.
„Du siehst genauso viel, wie du sehen sollst", sagte Ilias und grinste immer noch. „Nach außen hin, sieht es nur nach einem alten Armband aus billigem Stoff aus. Ein Schmuckstück der armen Leute, mehr nicht. In Wirklich ist es aber ein Speichergegenstand, der zwanzig Kubikmeter fasst und etwa eine Kristallmünze wert ist."
Bahe riss geschockt die Augen auf.
„Wie du vielleicht schon weißt, sind Speichergegenstände äußerst teuer. Allein für den Gürtel den du trägst, könnte man schon zwei bis drei Goldmünzen bekommen."
Bahe nickte nur beklommen. Er hatte es bereits in Foren gelesen, dass er verdammt gut auf seinen Gürtel aufpassen musste. Als der Mehrheit der Spieler klar geworden war, wie wertvoll dieser Startgegenstand war, den jeder Spieler zu Beginn von Raoie bekam, war eine regelrechte Hetzjagd auf die Schwachen ausgebrochen.
Drei Wochen lang beschwerten sich nahezu ununterbrochen irgendwelche Spieler die von ganzen Raubtrupps angegriffen worden waren, die sich nur zum Ziel gesetzt hatten, die Gürtel anderen Spielern abzujagen.
Viele Spieler brauchten Wochen, um sich davon zu erholen. Nicht nur, dass sie ihre ganzen Ersparnisse dort hinein gelegt hatten, auch ihre Nahrungsmittelvorräte waren plötzlich verloren. Das Schrecklichste an der ganzen Geschichte war, dass die Täter noch nicht mal allzu schlimme Konsequenzen fürchten mussten, da sie ihre Opfer in Raoie ja gar nicht töteten. Raoie war schlicht zu lebensecht. Ein paar Leute reichten locker, um einen Spieler festzuhalten, während ihm jemand anderes die wertvollen Gegenstände abnahm.
Der schlechte Ruf der Räuber dauerte zwar eine Weile an, wirkte sich aber auf den Verkauf der Gegenstände eher sogar positiv aus, weil die Händler Angst vor den Spielern hatten und sich nicht trauten sie über's Ohr zu hauen...
Insgesamt ein verdammt lukratives Geschäft.
Es hörte erst auf, als die übrigen Spieler nur noch in großen Gruppen unterwegs waren, um sich der Raubüberfälle erwehren zu können. Von da an lohnte sich für die Täter schlicht weg der Zeitaufwand nicht mehr, um die Wenigen, die noch einzeln unterwegs waren, aufzuspüren.
Trotzdem musste man noch immer, gerade als Spielanfänger mit geringem Level, stark aufpassen, wem man sich näherte.
„So im Großen und Ganzen steigert sich der Wert eines Speichergegenstands pro Kubikmeter um etwa 2-3 Goldmünzen. Nach dieser Regel müsste das Armband einen Wert von etwa fünfzig Goldmünzen aufweisen. Wieso ist dieser schäbig wirkende Speichergegenstand dann noch so viel wertvoller als dein Gürtel?"
„Ich habe keine Ahnung, Meister."
„Jetzt denkst du nicht mit, was?"
„Ich weiß einfach nicht, worauf sie hinaus wollen...", meinte Bahe ratlos.
„Du trägst ihn an einer anderen Körperstelle."
„Das... ist alles?", fragte Bahe verwirrt.
„Überleg mal, was musstest du gerade tun, um einen Gegenstand deinem Gürtel zu entnehmen?"
„Ich habe die Hand in diese andere Dimension ausgestreckt und nach dem Stück Brot gegriffen...", Bahe brach ab, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. „Ich musste nach unten greifen!"
„Ah, jetzt hast du es", lächelte Ilias. „Also, zähl mir mal die Vorteile auf."
„Also abgesehen davon, dass der Gürtel sehr offensichtlich ist und mein Gegenüber sofort weiß, was ich dort trage, muss ich die Hände nach unten in diese andere Dimension bewegen, um etwas daraus hervor zu holen", sagte Bahe eifrig. „Wenn ich richtig liege, fällt das bei einem Armband weg und besser noch, die Zwischendimension befindet sich um die Hand herum, so dass alle möglichen Gegenstände praktisch nur mit einem Gedanken plötzlich in der eigenen Hand erscheinen können!"
„Perfekt, die Vorteile für jegliche Kampfsituation oder Auseinandersetzung muss ich dir mit Sicherheit nicht erklären, oder?"
Bahe schüttelte grinsend den Kopf.
„Der Wert von Speichergegenständen lässt sich also nicht nur an dem Fassungsvolumen messen, sondern hängt also auch noch von der Position ab, wo er am Körper getragen wird", sagte Ilias und erläuterte weiter. „Es gibt noch zwei weitere Kriterien, wovon du eins im Grunde schon benannt hast, die Tarnung. Wenn man mal vom Adelsstand absieht, wird bis auf ein paar Vollidioten, die ihr Können überschätzen, keiner besonders edle und mit Edelsteinen verzierte Speichergegenstände tragen, da die Gefahr ihrer beraubt zu werden, viel zu groß ist. Dein Gürtel ist allseits bekannt, also solltest du gut drauf aufpassen."
Bahe wusste die guten Intentionen des Magiers zu schätzen und nickte fleißig, damit Ilias seine Ausführungen fortsetzte.
„Bei der letzten Sache handelt es sich um die Qualität des Gegenstandes. Es gibt Speichergegenstände, die nur begrenzte Zeit ihre Funktion beibehalten werden. Gründe dafür können die verschiedensten Sachen sein. Der Magier, der den Gegenstand hergestellt hat, versteht nichts von seinem Handwerk, der Gegenstand ist mehrere Jahrhunderte alt oder auch Abnutzung und Beschädigung. Speichergegenstände sind erheblich widerstandsfähiger als die allgemeine Kleidung. Sieh dich nur selbst an, sitzt hier in Lumpen, aber dein Gürtel hat nur ein paar Kratzer davon getragen. Soweit alles verstanden?"
Bahe nickte ein weiteres Mal.
„Gut, aber du fragst dich sicherlich, wozu ich dir das alles erzähle, was?"
„Ja, Meister", antwortete Bahe gespannt, wenn er auch insgeheim froh darüber war, dass sich der Magier so viel Zeit genommen hatte, um ihm die Unterschiede der Speichergegenstände zu erkären.
„Hier", schockte ihn Ilias erneut und warf ihm das Armband rüber.
Reflexartig fing Bahe das Armband und starrte seinen Meister ungläubig an.
„Meister, meint ihr damit, dass ich es behalten kann?"
„Wofür hätte ich es dir sonst zugeworfen...?", fragte Ilias und verdrehte die Augen. „Sofern du dich entschließt mein Schüler zu bleiben, wird deine erste Aufgabe sein, einen Speichergegenstand selbst zu binden. Da die Dinger so teuer sind, musste ich dir ja einen zur Verfügung stellen."
„Vielen Dank, Meister!", bedankte sich Bahe begeistert und stellte eine Frage, die Ilias dumm aus der Wäsche gucken ließ: „Wie bindet man einen solchen Gegenstand nun?"
„Sag mal, bist du auf dem Kopf gefallen? Ich hab es dir doch schon erklärt! Meditation um dein Mana zu erspüren, dann musst du lernen dein Mana zu bewegen und schließlich dein Mana in den Speichergegenstand einfließen lassen."
„Ja und wie soll das gehen? Meister, ihr habt mir dazu doch noch nichts erklärt!", empörte sich Bahe.
„Ja, das musst du schon selbst herausfinden. Meine Schüler sind allesamt hoch intelligent und scheuen sich vor keiner Aufgabe. Ein Genie, wie es meine Schüler nun mal alle sind, würde sich von solchen Vorgaben doch nur eingeengt fühlen. Also, was ist jetzt? Nimmst du meine erste Aufgabe an und findest einen Weg einen Speichergegenstand an dich zu binden?"
WTF?!
War das ernst gemeint? Der Magier brachte ihm absolut gar nichts über Magie bei?
Innerlich wollte Bahe ausrasten, doch das nächste Fenster schockte ihn so sehr, dass jegliche Wut augenblicklich verpuffte.
Wie zum Henker, hatte er diese Quest auslösen können? Sicher, Interaktionen mit NPCs konnten des Öfteren die verschiedensten Aufträge und Quests auslösen, aber was hatte es bloß damit auf sich ein Schüler zu werden? Hatte er dem nicht schon einmal zugestimmt...?
Doch das Bemerkenswerteste war der Rang der Quest. Egal wie genervt Bahe gerade war, er stimmte augenblicklich zu.
„Selbstverständlich Meister, ich werde einen Weg finden und euch nicht enttäuschen!", rief er nervös und verbeugte sich.
„Sehr gut!", lachte Ilias laut auf und blickte ihn dann ganz direkt an. „Alle meine Schüler haben einen Titel und werden so von mir gerufen. Deine herausragenden Fähigkeiten sind deine Affinitäten zu den Elementen Erde und Wasser... hmm... ein Titel der dazu passt..."
Ilias versank für einen Moment im Schweigen, ehe er plötzlich laut aufschrie: „Ha! Ich habe es!"
Bahe zuckte vor Schreck zusammen, doch der alte Magier ließ sich davon nicht beirren und redete weiter.
„Du wirst Morgentau heißen! Wasser das sich am frühen Morgen über der Erde sammelt. Der Morgen steht gleichzeitig auch noch dafür, dass du dich am Anfang deiner Reise befindest und noch viel zu lernen hast. Perfekt! Ein guter Name!", grinste Ilias über beide Ohren und schaute ihn glücklich an.
Bahe verstand die Welt nicht mehr.
Ruhm +500?
Ein Titel?
Wer war Ilias wirklich?!
„Nun denn, mein Schüler, wenn uns das Schicksal gnädig ist, werden wir uns wiedersehen. Ich habe lange genug in dieser Einöde verweilt!", rief Ilias aus und murmelte weiter. „Und all das nur wegen diesem bescheuerten Orakel..."
„Ihr müsst gehen, Meister?", fragte Bahe, als er aus seinen Gedanken gerissen wurde.
„Ganz genau, Morgentau. Och, wie sich das reimt! Als ob auch gleich die Sonne scheint!"
Ein weiteres Mal erklang das volle Lachen des alten Magiers und ohne jede Regung löste er sich plötzlich in Luft auf.
Sein Lachen hallte noch nach und Bahe blieb vollkommen verdutzt auf der Erde sitzen und blickte sich um.
„Mach es gut, mein Schüler", verklang ein letztes Flüstern und damit jeder Hinweis darauf, dass vor Bahe mal ein alter Mann gesessen hatte.
Bahe brauchte einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen und lächelte dann leicht vor sich hin.
Glich die ganze Situation mit Ilias nicht einem ausgefallenen Fantasyroman? Ein alter Mann, von dem man keine Ahnung hatte, wer er war, geschweige denn welche Kräfte er besaß, nahm einen unter irrsinnigen Bedingungen als Schüler an?
Für einen kurzen Moment musste Bahe an den alten Trunkenbold denken, der ihn in der Realität dazu verdonnert hatte zwei Wochen lang vor seiner Haustür zu knien... Dann schüttelte er den Kopf, er hatte Besseres zu tun als in Tagträumen zu versinken.
Sein Meister hier in Raoie musste jedenfalls eine bedeutende Persönlichkeit sein. Anders war der enorme Zuwachs an Ruhm nicht zu erklären. Soweit Bahe wusste, hatte es bisher nur einen Spieler gegeben, der auf einen Schlag mehr Ruhm erlangt hatte als er selbst. Der Spieler hatte allerdings auch im Auftrag eines Lehnsherren Soldaten befehligt. Ein Konzept, von dem Bahe noch weit entfernt war.
Ruhm verbesserte nicht Bahes Fähigkeiten, erhöhte aber sein Ansehen beim Adel und allen Nobelleuten, die etwas auf sich hielten. Im späteren Spielverlauf konnte der Ruhm-Wert sogar eine gewisse Grenze überschreiten und ihn in der gesamten Welt von Raoie berühmt machen. Dadurch ergaben sich viele unschätzbare Vorteile in den alltäglichen Auseinandersetzungen mit NPCs und bei der Questsuche.
Mit dem Titel konnte er andererseits noch überhaupt nichts anfangen... Morgentau...
Hörte sich das nicht ein Bisschen zu weiblich an?
Unschlüssig wanderten seine Gedanken lieber zu Sache, die ihn vorhin eiskalt erwischt hatte. Er hatte eine Quest mit dem [S]-Rang angenommen!
In jedem Online-Rollenspiel gab es natürlich verschieden schwere Quests. Das war auch in Raoie nicht anders. In Raoie wurden die leichtesten Quests als [H] eingestuft. Aufsteigend über [G], [F], [E], [D], [C], [B] zu [A] wurden die, in der Quest gestellten Aufgaben, zunehmend schwerer. Dafür wurde man beim erfolgreichen Abschluss der Quests, jedoch zu gleichen Teilen auch besser belohnt!
Abgesehen von den Standardklassifikationen gab es dann noch den Rang [S] für Sonderquests. Die Missionen dieser Quests konnten die unterschiedlichsten Schwierigkeitsgrade haben. Es ging bei ihnen viel mehr darum, dass sie vom Aufbau ihrer Aufgaben einem ungewöhnlicheren Muster folgten. Zudem handelte es sich bei S-Rang-Quests nahezu ausschließlich um Reihenquests! Sprich, eine Teil-Quest führte, nach erfolgreichem Abschluss, zur Nächsten, wobei sich auch der Schwierigkeitsgrad verändern konnte.
In Bahes Fall war die erste Teilquest bereits außergewöhnlich gewesen. Sie wies den Schwierigkeitsgrad des [D]-Ranges aus!
TNL pflegte online eine Informationsseite über besondere Ereignisse und anonyme Daten der besten Spieler von Raoie. Dazu gehörte auch eine Darstellung darüber, welcher Rang von Quests bisher erfolgreich abgeschlossen wurde. Der [D]-Rang war erst vor Kurzem erfolgreich abgeschlossen worden!
Das hieß, dass Bahe eine Möglichkeit hatte aufzuholen! Er hatte endlich mal mit einer Sache Erfolg gehabt. Natürlich war die Quest alles andere als einfach. Bahe regte sich immer noch über den alten Magier auf, der ihm erst so viel erzählte und dann plötzlich entschied, dass es genug gewesen war. Aber irgendwo musste der Schwierigkeitsgrad ja begründet sein.
Wirklich viele Anhaltspunkte hatte er nicht bekommen. Er musste meditieren, soviel war klar. Alles andere würde sich hoffentlich mit der Zeit ergeben. Glücklicher Weise gab es für die Quest kein Zeitlimit, was einiges vereinfachte.
Schlimmsten Falls konnte er die Quest einfach wochenlang links liegen lassen und später darauf zurückkommen.
Immer noch in Gedanken versunken, stand Bahe auf und machte sich auf den Rückweg. Er bemerkte gar nicht, dass er sich diesmal nicht der Büsche bediente, sondern einem der Parkwege zum Flussufer folgte.
Als Bahe hinter der nächsten Wegbiegung verschwand, kräuselte sich oben in den Ästen des Apfelbaumes kurz die Luft, bis die Gestalt des alten Magiers plötzlich erschien.
„Verzeih mir, mein Schüler. Aber bei so viel Macht wirst du selbst einen Weg finden müssen, sie zu kontrollieren", Schüttelte Ilias mit einem schiefen Lächeln den Kopf. „Ich frage mich, was seine Reaktion wäre, wenn ich ihm erzähle würde, dass es keine bekannte Technik gibt so viel Mana als Anfänger zu bändigen..."
Nach einer Weile wurde sein Blick jedoch nachdenklich und er murmelte vor sich hin: „So viel Macht, das sie quasi schon wieder kontraproduktiv ist... und dann auch noch diese Affinitäten mit zwei Elementen... Irgendwo habe ich schon mal von solchen Fällen gelesen... Es ist aber lange her... Orakel, ist er derjenige, weshalb du mich hierher geschickt hast?"
Letztlich kehrte wieder ein Lächeln auf Ilias Gesicht zurück.
„Zeig mir, dass ich mich nicht in dir geirrt habe, Morgentau..."
Dann verschwand er mit einem letzten Rascheln der Blätter des Apfelbaumes.
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