Kapitel 18 - Familie
Fünfzehn Minuten später stand er vor der Wohnungstür seiner letzten Verwandten und zögerte anzuklopfen. Er wusste nicht, wie er ihnen begegnen sollte.
Doch plötzlich wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Die Tür öffnete sich und gab den Blick auf seine Großmutter frei.
„Bahe!"
Ehe er sich regen konnte, fand er sich bereits in einer Umarmung wieder.
„Wie schön, dass du endlich wieder da bist, Bahe", rief seine Großmutter Lin aufgewühlt und drückte ihn in ihrer Umarmung an sich.
Bahe schwieg zunächst, erwiderte die Umarmung jedoch.
Trotz seiner geringen Größe von gerade mal 1,66 m überragte er sie immer noch um einen Kopf. Ihr Haar war jedoch bis ins hohe Alter dunkel geblieben und wies nur ein, zwei graue Strähnen auf. Das Gesicht seiner Großmutter war von vielen kleinen Fältchen durchzogen, trug aber noch immer den warmen Ausdruck zur Schau, den Bahe bei ihrem ersten Kennenlernen wahrgenommen hatte. Zumindest bis das Gesicht in seiner Jacke verschwunden war.
Nach einiger Zeit löste sich seine Großmutter von ihm und sagte: „Komm erst mal mit rein. Dein Großvater und deine Geschwister freuen sich schon dich heute endlich wieder zu sehen."
Sie drehte sich um und stellte ihren Einkaufskorb neben der Wand auf dem Boden ab.
„Einkaufen kann ich gleich immer noch", meinte sie mit einem Lächeln.
Anschließend nahm sie Bahe an die Hand und zog ihn hinter sich her in Richtung des Wohnzimmers. Es schien fast so, als ob sie Angst hätte, dass er im nächsten Augenblick wieder verschwinden könnte.
Im Wohnzimmer angekommen, wurde Bahe sofort von seinen beiden kleinen Geschwistern entdeckt, die freudestrahlend auf ihn zu gerannt kamen.
„Bahe! Bahe!", riefen Liana Xue und Leo Xiao wie aus einem Hals und stürzten sich auf ihren in die Hocke gegangenen Bruder.
„Wo warst du?"
„Bleibst du?"
„Musst du wieder gehen?"
„Bitte bleib diesmal hier!"
Bevor er überhaupt dazu kam seine Geschwister zu begrüßen, wurde er von Fragen gerade zu überhäuft.
„Keine Sorge, ich werde ab jetzt wieder bei euch wohnen."
„Ist besser so, Bahe. Liana war immer traurig, wo du weg warst."
„Stimmt gar nix! Leo war immer traurig!", behauptete Liana Xue schmollend.
Bahe verkniff sich ein Grinsen und sagte: „Das heißt stimmt gar nicht. Und ich habe euch beide auch vermisst."
„Spielst du mit uns?"
„Ja, du musst Leo helfen mix zu retten! Opa ist der Böse und Leo ist der Ritter der mix befreien muss", sagte Liana Xue begeistert.
„Und wer bist du?", fragte Bahe seine Schwester.
„Ix bin Prinzessin Jin Xue Ling, zweite Tochter von Jin Sima Yan."
„Es heißt Ich und mich, Liana und nicht Ix oder mix."
„Ja... Spielst du jetzt mit uns?", verdrehte Liana Xue genervt die Augen.
„Wenn du es noch einmal richtig aussprichst, verspreche ich dir auch mitzuspielen."
„..."
„Ich warte, Liana."
„Ix... Ich bin Prinzessin Jin Xue Ling...", sagte Liana kleinlaut.
„Und wer muss dich retten?"
„Aber das weißt du doch schon!"
„Wer, Liana?"
„Leo."
„Geht das auch als ganzer Satz?"
Liana Xue wollte sich aufregen, gab dann aber doch auf und sprach mit aller Deutlichkeit: „Leo soll... mich... retten."
„Einer Prinzessin, die so gut spricht, kann niemand wiederstehen. Ich werde dem Ritter Leo Xiao Ma gleich im Kampf gegen den bösen Fürsten beistehen."
„Ja! Ja!", riefen seine Geschwister wie verrückt und liefen zum Lego-Schlachtfeld in der Mitte des Raumes zurück.
„Komm schon, Bahe. Sonst gewinnt Opa noch!", rief Leo Xiao und Bahe beeilte sich der Forderung seines Bruders nachzukommen.
Sein Großvater nickte Bahe mit einem Grinsen zu und fiel dann sofort in seine Rolle zurück, indem er verkündete, dass der Ritter Leo auch mit Verstärkung niemals seine Festung erstürmen werde.
Dreißig Minuten später, tischte Bahes Großmutter mit Hilfe seiner kleinen Geschwister gerade das Mittagessen auf. Bahe stand mit seinem Großvater draußen auf dem Balkon und blickte gelegentlich über die Stadt hinweg, während sein Großvater mit ihm redete.
Nach dem Spielen mit seinen Geschwistern, hatte sein Großvater ihn mit auf den Balkon genommen und genauso fest in den Arm geschlossen, wie zu Beginn Bahes Großmutter. Danach hatte Bahe die üblichen Kommentare über seine Statur ertragen müssen. Er esse zu wenig... und sei viel zu dürr... Er wäre doch eigentlich ein Europäer... Bahe war dankbar, dass sein Großvater endlich bei den wichtigen Dingen angekommen war.
„...und sofern alles gut läuft, sollten wir das Haus in zwei Tagen endgültig verkauft haben. Danach können wir Sulins Operation und anschließende Reha-Behandlung endlich bezahlen", schloss sein Großvater seine Erläuterungen ab.
„Den Himmeln sei Dank...", sagte Bahe glücklich mit feuchten Augen.
„Bahe...", sprach sein Großvater ruhig, als Bahe in die Straßen hinab spähte. „Bahe sieh mich an."
Bahe wandte den Blick.
Sein Großvater legte ihm seine rechte Hand auf die Schulter und sagte ernst: „Ich weiß wirklich zu schätzen, welches Opfer du gebracht hast. Wie du für deine Familie gekämpft hast. Du hast offensichtlich selten genug gegessen und die härtesten Jobs über dich ergehen lassen, um deiner Mutter zu helfen und ich habe dich angelogen. Nicht, um dir weh zu tun. Ich hätte schlicht weg niemals gedacht, dass du so viel Verantwortung übernehmen und arbeiten würdest. Bevor ich eine Chance hatte, diese Sache gerade zu stellen, kamst du uns alle paar Wochen besuchen und brachtest jedes Mal Geld mit..." Sein Großvater stockte kurz, ehe er weitersprach: „Ich sah die Freude in deinen Augen, deiner Familie etwas Gutes zu tun und so beschämend es auch für mich ist... Ohne dein Geld hätte deine Mutter längst das Krankenhaus verlassen müssen... Ich musste es annehmen... Und dafür... dafür bitte ich dich um Verzeihung. Bitte verzeih mir, mein Enkelsohn."
Die letzten Worte hatte er fast schluchzend hinaus gestoßen und Bahe liefen die Tränen über die Wangen als er sah, wie sein Großvater die Lippen aufeinander presste und Tränen in seinen Augen glitzerten.
„Ich will, dass du weißt, dass ich verdammt stolz auf dich bin und ich... ich schwöre dir, deine verstorbenen Eltern sind es auch! Verstehst du?"
Bahe nickte mit verschwommenen Augen und fühlte wie er erneut in eine feste Umarmung seines Großvaters hinein gezogen wurde.
Eine Zeit lang standen sie einfach nur so da und schluchzten unterdrückt vor sich hin, bis sie sich schließlich wieder unter Kontrolle hatten.
Sie lösten sich verhalten von einander und schauten in die Stadt hinaus, bis Bahes Großvater ein weiteres Mal zu sprechen begann: „Deine Mutter hat mir von eurer Unterhaltung erzählt. Soviel ich weiß, bekommen wir bald eine Lieferung mir irgendeinem Computersystem oder so. Du willst damit also wieder Geld machen?"
Bahe lächelte: „Ich wollte es zumindest versuchen. Ich meine, ich kann sonst nicht wirklich was. Die Schulen, die wir zur Auswahl haben, sind alle nicht gerade eine Empfehlung für die Universitäten. Ganz zu schweigen davon, dass wir uns das eh nicht leisten könnten."
„Du willst also studieren?", fragte sein Großvater mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Haha... ich habe da bisher noch nicht mal drüber nachgedacht, Opa."
„Solltest du aber."
„Ich werde das sowieso nicht schaffen. Ich war zwar nie schlecht in der Schule, aber auch nicht gut genug, um mich in einer Millionenstadt von der Masse an einfach nur guten Schülern abzuheben."
„Du hast schon Recht, dass es an den lokalen staatlichen Schulen wohl kaum machbar wäre, aber ich habe da noch einen alten Freund, der mir einen Gefallen schuldet. Was würdest du von der Sun Jingsen Schule im südlichen Stadtteil Chengzeng halten?"
„Muss man die Schule kennen?", fragte Bahe leicht zögernd.
Bahes Großvater lachte schallend.
„Nun ja, die Schule ist eine renomierte staatliche Schule mit Anteilen von privater Förderung. Normalerweise würde die Schule einen jungen Schulabbrecher niemals aufnehmen... aber der alte Freund von dem ich gerade sprach, ist dort zufällig der stellvertretende Schulleiter. Ich denke, dass ich es hinbekommen werde dich dort anzumelden."
„Dann fahren wir heute gar nicht die anderen Schulen ab?"
„Also ich könnte drauf verzichten, Bahe. Außer du willst lieber zu einer gewöhnlichen Schule?"
„Nein, wenn es mit der Schule in Chengzeng klappt, wäre das großartig."
„So lobe ich mir das. Sollen wir mal reingehen und schauen, was es zu essen gibt?", fragte Bahes Großvater und öffnete die Balkontür.
Bahe nickte ihm zu und machte sich auf zum Esstisch.
Ma Lin trocknete gerade das gespülte Geschirr ab, das ihr von ihrem Mann gereicht wurde, als sie lächelnd an die letzten Stunden zurückdachte. Es hatte ihr in der Seele weh getan, ihren Enkelsohn in einer solch abgemagerten Verfassung zu sehen. Aber den Himmeln sei Dank schien es ihm noch gut zu gehen. Und da er ab heute wieder bei ihnen leben würde, hatte sie sich bereits vorgenommen, ihm die nächsten Wochen ordentliche Mahlzeiten auf den Tisch zu stellen.
Ihr würde es bestimmt nicht passieren, dass der Junge weiter so vom Fleisch fiel!
Der Junge war schon etwas Besonderes, wie er sich für seine Familie aufgeopfert hatte. Aber leider auch verdammt stur... So stur, dass ihm sein ungesunder Lebensstil auf Dauer den Tod gebracht hätte, wenn sie nicht eingeschritten wäre und ihrem Mann und ihrer Tochter ins Gewissen geredet hätte, sich endlich mal Bahes Treiben entgegen zu stellen.
Heute war der Junge endlich wieder nach Hause gekommen und sie beabsichtigte nicht, ihn noch einmal ziehen zu lassen, ehe er seine Schulausbildung vernünftig abgeschlossen hatte.
Es war so unglaublich gewesen, wie er seine kleine Schwester mit ein paar einfachen Sätzen dazu brachte die Wörter richtig auszusprechen. Kopfschüttelnd konnte sie nur daran denken, wie lange Ihr Mann und sie selbst schon wochenlang daran gearbeitet hatten, dass sich Liana Xue ihrer Aussprache bewusst wurde. Doch die Kleine hatte bei ihnen schlicht weg auf stur geschaltet.
Doch nicht nur Liana hatte seine Rückkehr beeinflusst, auch ihr Mann lächelte fast in einem durch seitdem Bahe zurückgekehrt war. Beim Mittagessen hatten sich die Zwillinge sogar schon gefragt, was denn so lustig sei, dass er solch gute Laune hatte.
Lins Lächeln verstärkte sich bei dem Gedanken, ehe sie erneut zu den Zwillingen schaute. Die beiden spielten gerade im Wohnzimmer und schauten alle paar Minuten unsicher zur Tür. Es war so offensichtlich, dass sie sich Sorgen machten, ob ihr großer Bruder wirklich wiederkommen würde.
Beim Mittagessen hatte Bahe verkündet, dass er sich gerne nach einer Kampfkunstschule umsehen wolle und sich unmittelbar nach dem Essen auf den Weg gemacht. Sie hatte ein sehr ernstes Gespräch mit ihm geführt, dass er auch bloß rechtzeitig zum Abendessen wieder auftauchen würde.
„Na, du freust dich wohl, dass er endlich wieder nach Hause gekommen ist, was?", fragte ihr Mann augenzwinkernd.
„Ja natürlich, du etwa nicht?"
„Ach, für mich war es nur eine Frage der Zeit, bis er wieder zurück kehren würde. Wieso sich Sorgen machen?", meinte er Schulter zuckend
„Ja, klar. Du bist viel zu nah am Wasser gebaut, um hier einen auf Draufgänger zu machen, Feitong!"
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst", schaute ihr Mann verwirrt drein.
„Ach, und was war das vorhin auf dem Balkon?"
„Balkon...?" Lin konnte förmlich sehen, wie ihr Mann nach einer Ausrede suchte. Als er sich plötzlich mehr als offensichtlich aus der Affäre zog: „Ah... Tut mir Leid, Lin. Kannst du den Rest spülen? Ich habe den Zwillingen versprochen mit ihnen auf den Spielplatz zu gehen."
„Danke dir!", rief er noch kurz und war prompt verschwunden.
Also wirklich, zu stolz um Gefühle zuzugeben.
Lin verdrehte die Augen.
Männer...
Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)
RiBBoN
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