Kapitel 13 - Der Kämpfer
Kaiwen stieg erschöpft aus dem Aufzug und betrat das Großraumbüro des Senders, das in letzter Zeit zu ihrem zweiten zu Hause geworden war. Der Raum wurde nur noch stellenweise von den Visualisierungsflächen der letzten Angestellten erleuchtet und verbreitete im Halbdunkeln eine eher triste Stimmung.
Kaiwen legte die letzten Meter zu ihrem Tisch zurück und ließ sich mit einem müden Stöhnen auf ihrem Bürostuhl nieder. Der ganze Tag war umsonst gewesen. Die ursprünglich viel versprechende Story hatte sich nur als plumpe Spinnerei heraus gestellt. Mit der langen Zugfahrt, hin und zurück, hatte sie den ganzen Tag verschwendet. Dabei brauchte sie dringend einen neuen Hit, um ihren wackelig gewordenen Job zu behalten.
PG, war einer der fünf beliebtesten Fernseh-Sender, die sich inzwischen fast ausschließlich mit Computerspielen und deren professionellen Spielern auseinandersetzten. Alle fünf Sender hatten extrem hohe Auswahlkriterien und ignorierten Berufsanfänger üblicherweise. In den meisten Fällen hatte man bei den Sendern frühestens mit fünf Jahren Berufserfahrung eine Chance und die wenigen Plätze die es gab, waren hart umkämpft.
In ihrem Bestreben, sich den Traum zu erfüllen und über die zukünftigen Progamer der beliebtesten Computerspiele berichten zu dürfen, hatte sie etwas Wahnwitziges gewagt und PG ein mögliches Interview mit Li Juan unter die Nase gehalten hatte, sofern der Sender sie einstellte.
Juan war eine Studienkollegin von ihr gewesen, die inzwischen in der Model- und Fernsehbranche Fuß gefasst hatte und in der neusten Realverfilmung des Computerspiels Ret Streets eine Hauptrolle übernehmen würde. Zu Kaiwens großer Freude, hatte sie ihr den Gefallen getan und alle Interview-Angebote ausgeschlagen – mit Ausnahme Kaiwens natürlich.
PG gefiel doch tatsächlich ihre Kaltschnäutzigkeit und hatte sie als Journalistin fest angestellt. Seit ihrer Anstellung waren inzwischen jedoch zwei Monate vergangen und sie hatte keine große neue Story an Land ziehen können.
Angespannt fuhr sie sich mit den Händen über die Augen und schaltete ihren PC ein. Ihr blieb nichts anderes übrig, als in allen möglichen Foren nach etwas Besonderem Ausschau zu halten.
Nachdem sie zwanzig Minuten später immer noch nichts gefunden hatte, öffnete sie resigniert die Dreamworld-Foren, in dem Gedanken danach Schluss zu machen. Doch wer hätte gedacht, dass sie sich vor neuen Threads über die Auktion des Anael-Accounts kaum noch retten konnte!
Verblüfft wühlte sie sich durch die Forenbeiträge und kam schließlich zu dem Schluss, dass sich noch kein Journalist intensiver mit dem Spieler hinter dem Account auseinander gesetzt hatte. Dabei war der Avatar bereits vor mehreren Stunden versteigert worden! Manche Foren-User verlangten sogar explizit nach einen Interview mit dem Spieler und seinen Beweggrund so plötzlich wieder aufzutauchen und den kompletten Account zu verkaufen.
Fieberhaft suchte Kaiwen die Telefonnummer des Spielers im Auktionshaus, musste jedoch feststellen, dass der Account bereits gelöscht war.
„Mist!"
Kurz überlegte sie, ob es die Story wert war, den letzten Gefallen bei ihrem Kontakt in der Herstellungsfirma von Dreamworld einzufordern, entschied sich aber schließlich dafür und wählte sofort die Nummer.
„Wartungsabteilung, Ma Ming Kong am Apparat, was kann ich für Sie tun?"
„Hey Ming Kong, ich bins, Kaiwen-"
„Oh man, ich sehe es schon kommen, was willst du Kaiwen?", wurde sie von einer genervten Stimme unterbrochen.
„Suche mir bitte die Telefon-Nr. vom Spieler des Anael-Accounts raus."
„Der Spieler hat seinen Account bereits gelöscht, Herzchen, da kann ich dir nicht weiterhelfen."
„Ming Kong! Verarsch mich nicht, ich weiß genau, dass eure Server alle Accountdaten noch vierundzwanzig Stunden nach der Löschung aufbewahren, ehe sie vollständig gelöscht werden!"
„Dir ist schon klar, dass es nicht ganz legal ist, wenn ich darauf zu greife, oder?"
„Sonst wäre es ja auch kein Gefallen, Ming Kong", antwortete Kaiwen mit gleichgültiger Stimme.
„Fuck! Ich wusste doch, dass jeder Kontakt mit dir mein Verderben sein wird."
„Ich warte, Ming Kong..."
„Halte die Schnauze, ich bin ja schon dran!"
Nach fünf Minuten hatte sie endlich die Nummer bekommen und wählte hektisch. Der Anruf wurde durchgestellt und es erklang das typische Piepen. Nach einer Minute des Klingeln lassen, wurde sie zunehmend ungeduldig.
„..."
Als nach mehreren Versuchen immer nur die Mail-Box dran gegangen war, gab sie schließlich auf.
Hatte ihr Ming Kong ihr etwa nicht die richtige Nummer gegeben?
Nein, das konnte nicht sein. Er war viel zu froh, endlich alle Schulden beglichen zu haben. Das Ganze würde er nicht mit so einem lächerlichen Trick aufs Spiel setzen wollen. Zudem hatte er ihr nicht nur die Telefonnummer, sondern auch den vollständigen Namen und die letzte Anschrift des Spielers gegeben.
Beim längeren Nachdenken machte es langsam Sinn, wieso noch immer keine Nachrichten dieses besondere Ereignis aufgegriffen hatten. Scheinbar ignorierte der Spieler sämtliche Anrufer.
Kaiwen schaltete schnell ihren PC aus und machte sich auf den Weg nach Hause. Wenn sie den Spieler telefonisch nicht erreichen konnte, musste sie eben zu ihm. Da bisher keine Nachrichten über den Spieler im Umlauf waren, konnte sie davon ausgehen, dass noch keiner Erfolg dabei gehabt hatte, den Spieler zu erreichen.
Morgen würde sie so früh wie möglich bei der Adresse des Spielers aufkreuzen und notfalls das Haus belagern, bis sie schließlich ein Interview mit ihm bekam. Jetzt hieß es noch schnell ein paar Stunden Schlaf bekommen, ehe sie die erste U-Bahn zum Stadtrand nahm.
„Bahe!"
Eine tiefe Stimme hallte in der Dunkelheit.
„Bahe!"
Verwirrt schaute Bahe sich um, entdeckte aber niemanden.
„Bahe...", sprach jemand plötzlich unmittelbar hinter ihm und Bahe machte vor Schreck einen Satz nach vorne.
Als er sich umgedreht hatte, traute er seinen Augen nicht. Vor ihm stand sein Vater!
Sprachlos blickte Bahe ihn an.
„Ich hoffe es geht dir gut. Du musst ein Bisschen mehr essen, Bahe", sagte sein Vater mit warmer Stimme.
Ehe sich Bahe sammeln konnte, fuhr sein Vater fort: „Ich bin leider nur für einen kurzen Zeitraum hier, aber ich würde dir gerne eine Geschichte erzählen... Bevor du damals auf die Welt kamst, haben deine Mutter und ich überlegt, wie wir dich wohl nennen sollen. Es fiel uns gar nicht so leicht, wie wir gedacht hatten. Dein Name sollte irgendeine Bedeutung haben. Aber auch nicht so lang oder geschwollen klingen."
An dieser Stelle musste sein Vater kurz auflachen.
„Natürlich waren wir wie alle anderen Eltern, die sich bei der Geburt ihres ersten Kindes alle möglichen Gedanken machten. In all diesen Gedanken versunken und über die Möglichkeiten nachdenkend, verging die Zeit bis zu deiner Geburt wie im Flug und wir hatten uns immer noch nicht auf einen Namen einigen können", grinste sein Vater. „Aber dann kamst du plötzlich zu früh... Mehrere Wochen zu früh... Wie du inzwischen weißt, war es keine leichte Geburt... Sechs Tage lang hat sich deine Mutter gequält, um dich sicher auf die Welt zu bringen."
Bahe sah seinen Vater kurz pausieren und in die Ferne blicken.
„Es kam zu Komplikationen und während deine Mutter mit dem Tod rang, hast auch du in einem Brutkasten um dein Leben gekämpft. Du hättest mich damals sehen sollen... Die ganze Zeit völlig panisch und wahllos umher irrend", Bahes Vater schüttelte den Kopf. „Du hast es irgendwie geschafft und deine Mutter durfte dich nach einer Woche endlich auf den Arm nehmen. Der Blick mit dem sie dich betrachtete... so voller Liebe aber auch Erfüllung... der Blick, er geht mir bis heute nicht mehr aus dem Kopf."
Bahe sah, wie sein Vater ihn wieder anschaute und fortfuhr: „Sie sagte zu mir, was für ein kleiner Kämpfer du doch seist und das ich einen passenden Namen für dich finden sollte. Dann sagte sie noch, sie liebe uns beide und dass sie immer bei uns sein werde. Danach schloss sie für immer die Augen."
Bahe schluckte schwer. Er konnte nicht in Worte fassen, was er gerade fühlte.
Sein Vater hingegen lächelte und sprach: „Mit der Zeit begriff ich, dass sie die ganze Woche über gewusst haben muss, dass es mit ihr zu Ende ging. Mir zu Liebe hat sie es sich nicht anmerken lassen und still weiter gekämpft, um dich wenigstens einmal, ohne dir zu schaden, auf dem Arm halten zu können."
Wieder setzte sein Vater kurz aus und begann dann von Neuem: „Und was machte ich? Nach einer halben Stunde setzte ich mich mit dir so schnell es ging an einen PC und suchte einen Namen mit der Bedeutung eines Kämpfers. Ich weiß gar nicht mehr auf welcher Seite, aber irgendwo stieß ich auf Bahe. Mein erster Eindruck sagte mir, das ist er und so entschied ich mich, dich Bahe zu nennen, Bahe Dragon."
Bahe blickte seinen Vater verblüfft, woraufhin dieser lachte und weiter erzählte: „Bahe mag vielleicht nicht der schönste Name sein, aber für mein Empfinden besitzt er die wichtigste Bedeutung der Welt, niemals aufzugeben! Dein Name erinnerte mich daran, dass die beiden Menschen, die ich am meisten liebte, beide Kämpfernaturen waren und im Anblick ihres Ziels niemals aufgegeben hatten. Da konnte ich, der es nicht mal eine halbe Stunde am Totenbett seiner Frau ausgehalten hatte, doch nicht weiter Trübsal blasen... Sicher, ich war nach Leanas Tod am Boden zerstört, aber die Botschaft deines Namens und die Tatsache, dass ich mich um dich kümmern musste, halfen mir nicht vollkommen im Selbstmitleid zu versinken."
Bahe liefen leise Tränen über die Wangen, als er den warmen Blick seines Vaters auf sich spürte. Von all den Gefühlen noch immer viel zu überwältigt, war er keiner Worte fähig.
Sein Vater schien dies zu spüren und betrachtete ihn schweigend, bis er schließlich ein letztes Mal zu sprechen begann: „Nun ist es an mir die Worte zu sagen, Bahe. Ich werde immer bei dir sein... Nein... Wir werden immer bei dir sein! Wir lieben dich und wenn selbst ein solcher Trottel wie ich es schafft, sich aufzurappeln, dann schaffst du es auch. Erinner dich an die Bedeutung deines Namens! Du bist ein Kämpfer! Also stehe auf und blicke nach vorne!"
Bahe saß überrascht dar, als sein Vater nach Abschluss seines Vortrags genauso plötzlich verschwand, wie er gekommen war. Er war zurück in vollkommener Dunkelheit.
Dann ließ ein Aufschrei seines Vaters ihn zusammen zucken: „Bahe!"
„Bahe, wache auf!"
„Wache auf und kämpfe!"
Keuchend kam Bahe zu sich und kam nach einem kräftigen Husten auf dem Rücken zum Liegen. Der Regen prasselte ihm ins Gesicht, während er auf dem matschigen Boden des Parks lag. Er glaubte auch warme Tropfen auf seiner Haut zu spüren und führte vorsichtig seine Finger an seine Wangen. Überrascht hielt er inne, Tränen?
War die Begegnung mit seinem verstorbenen Vater ein Traum gewesen? Es hatte sich so unglaublich real angefühlt...
Bahe musste trotz der Schmerzen seines geschundenen Körpers lächeln. Egal ob Traum oder pure Einbildung, es war eine schöne Erfahrung gewesen.
Mühsam stand er auf, blickte ein letztes Mal gen Himmel und machte sich dann auf den Weg nach Hause. Er hatte viel zu tun. Er musste seiner Familie helfen. Seine Mutter und seine kleinen Geschwister brauchten ihn. Er durfte nicht einfach aufgeben. Er war Bahe Dragon! Er war ein Kämpfer!
„Pff...", ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er ein Lachen unterdrückte.
Allein in Gedanken hörte sich das schon komisch an. Glücklicherweise hatte er es nicht laut ausgesprochen.
Mürrisch stapfte Aiguo über die schlammigen Wege des Parks und wechselte die Hand, mit der er seinen Regenschirm hielt. Er war ein Mann in seinem Lebensabend und musste seinen Hund noch ein letztes Mal ausführen. Der Regen, der bis zu dieser späten Stunde, immer noch anhielt, trübte seine Laune jedoch zunehmend. Sein Hund, Ronko, war ziemlich wasserscheu und wuselte ihm seit geschlagenen zehn Minuten nur um die Beine, in der Absicht so wenige Regentropfen wie möglich abzubekommen.
Er war gerade im Begriff Ronko zusammen zu pfeifen, dass er endlich sein Geschäft erledigte, als er keine hundert Meter entfernt einen Jugendlichen entdeckte, der völlig durchnässt, aber dennoch schwungvollen Schritts durch den Park spazierte.
„Was zum...", murmelte Aiguo verdutzt vor sich hin.
Es war augenscheinlich kein Chinese. Hatten alle Ausländer einen an der Klatsche? Wer lief klatschnass und spät abends durch den Regen und hatte dermaßen gute Laune?
Der Jugendliche kam auf ihn zu und Aiguo öffnete schon den Mund, um ihn anzusprechen, als er bemerkte wie klein der Junge war. Verwirrt rieb Aiguo sich die Augen und blickte erneut zu dem Jugendlichen, der gerade an ihm vorbei lief.
Tatsächlich, der Junge war wirklich von kleiner Statur. Hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Von Weitem hatte er viel größer gewirkt...
Unschlüssig sah er dem Jungen noch eine Weile nach und setzte dann seinen Weg kopfschüttelnd fort. Er hatte wirklich besseres zu tun, als sich um einen daher gelaufenen Ausländer zu kümmern.
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