Mavie - Die Hütte
Helles Licht drang aus der Tür und blendete sie für einen Augenblick. Dann sahen sie einen großen Schatten, der aus der Tür fiel - und ein deutlich kleinerer Schatten, der in der Tür stand. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Mavie und Luan wollten zurückweichen und sich verstecken. Aber die Neugier hielt sie fest. Sie starrten die Gestalt an und versuchten zu erkennen, was genau sie war.
Für einen Menschen war sie nämlich etwas zu klein. Und ihr Kopf war sehr seltsam geformt. Vor allem nach oben hin - da war er lang und spitz.
Mavie zuckte zusammen, als sie ein lautes Krächzen über ihr hörte. Krächz ließ sich mit einer harten Landung auf seinem angestammten Platz nieder - ihrer rechten Schulter.
Auf einmal fasste die Gestalt sich an den Kopf und hob einen Teil ihres Kopfes herunter. Übrig blieb ein deutlich kleinerer, runder Kopf.
"Bei meiner Mütze, das ist sie!", rief die Gestalt. "Twix, komm her, das ist sie!"
Eine zweite Gestalt tauchte schwerfällig hinter der ersten auf. Sie hatte einen ebenso spitzen Kopf.
"Das ist wer, Trix?"
Von der zweiten Gestalt konnten sie ebenfalls nur einen dunklen Umriss sehen. Doch es wirkte so, als rückte sie ihre Brille zurecht.
Sie hatte eine eher dünne, zittrige Stimme, während die erste eine laute, kräftige hatte.
"Das ist sie! Die, wegen der wir jetzt hundert Jahren hier gewartet haben!"
"Ach diieeee... Was?! Das soll sie sein? Bist du dir sicher, Bruder?"
"Sie hat den Raben! Auf ihrer Schulter! Genau wie er es gesagt hat! Kannst du das fassen, Twix?"
"Hm... ist das etwa tatsächlich ein Rabe? Ich habe schon wirklich lang keinen mehr gesehen, ich weiß nicht mehr genau, wie sie aussehen..."
"Es waren schwarze Vögel. Und sie haben gekrächzt wie der hier gerade! Da bin ich mir ganz sicher! Diesen Klang werde ich nie vergessen, egal, wie alt ich werde. Sie haben mir immer die besten Kirschen weggepickt!"
"Ach, du und deine Kirschen! Aber ja, ich erinnere mich. Du hattest immer Alpträume davon. Weil du zu viele gegessen hast!"
"Das stimmt gar nicht... Ich fand sie einfach nur unheimlich."
"Und du meinst wirklich, das ist sie? Nach all den Jahren?"
"Das muss sie sein, Bruder!"
Mavie starrte die beiden an, als stammten sie von einer anderen Welt. Und sie war sich nicht ganz sicher, ob das nicht sogar stimmte. Was waren das für Wesen?? Und auf wen hatten sie gewartet? Auf sie etwa? Nein, da musste ein Irrtum vorliegen.
Sie räusperte sich.
"Ähhh... Es tut mir sehr leid, Sie zu unterbrechen, aber..."
Die Beiden fuhren herum und verstummten.
"Ähm, also, es tut mir sehr leid, Sie... Euch zu unterbrechen, aber ich wollte fragen, ob wir vielleicht, ähm, hier schlafen könnten..."
Zu ihrer großen Überraschung verneigten sie sich vor ihr. Einer nach dem Anderen machten sie beide eine ungeschickte Verbeugung.
"Aber natürlich!", rief der Eine. "Eine größere Ehre könntet ihr uns nicht machen, Gesandte des Adlers!"
Mavie und Luan wechselten einen Blick. Welcher Adler? Sie waren sich beide relativ sicher, dass sie keinen Adler kannten. Aber wenn es ihnen zu einer warmen Unterkunft verhalf - warum nicht? Ein herrlicher Duft stieg ihr in die Nase. Zögerlich bückte sie sich und zwängte sich durch die Tür hindurch - in die Hütte hinein.
Luan folgte ihr. Aber im Gegensatz zu ihr, schien er den duftenden Braten auf dem Ofen nur halb so interessant zu finden, wie das Gespräch der ...naja, im Licht, das ihre riesigen Köpfe als Zipfelmützen enttarnte, sahen sie ehrlich gesagt ziemlich aus wie zwei Zwerge. Mit klassisch weißen, langen Bart, der bis zum Boden reichte. Ja, sogar noch weiter. So weit, dass Mavie sich dachte, dass sie den Boden bestimmt nie putzen mussten...
Sobald sie die Tür wieder geschlossen hatten, drehte er sich um und sah die Beiden mit unverhohlener Neugier an. Sein Gesicht lief leicht rot an, als er den Mund öffnete.
"Warum wartet ihr seit hundert Jahren auf ein Mädchen mit einem Raben?", fragte er interessiert.
Die beiden Zwerge sahen sich an. Sie schienen angestrengt nachzudenken. Schließlich räusperten sie sich.
"Das ist", begann der eine.
"Eine äußerst, äußerst lange Geschichte", beendete der Andere.
"Kommt, nehmt Platz an unserem Tisch. Dann können wir euch alles erzählen"
"...was wir noch wissen", fiel der Andere seinem Bruder ins Wort. Und in seinen Bart hinein murmelte er: "Ich befürchte nur, dass das nicht mehr allzu viel sein wird."
Das ließen die beiden sich nicht zweimal sagen. Erschöpft ließ Mavie sich auf die niedrige hölzerne Bank fallen und stützte den Kopf auf die Arme. Nach all den Tagen auf dem Boden kam ihr die Bank eng und unbequem vor. Aber sie war einfach nur froh, zu sitzen. Von hier unten aus konnte man die Hütte ein wenig besser betrachten als im Stehen. Denn hier war alles sehr klein: Das Bett in der Ecke (in dem zwei Kissen und zwei Decken lagen, ordentlich gefaltet und aufgeschüttelt), der Schrank an der gegenüberliegenden Wand (der äußerst altmodisch aussah, elegant und mit vielen Schnörkeln gemacht und von oben bis unten sauber poliert), der Besen und der Wischmob in der Ecke, daneben die Tür. Und noch der pechschwarze Ofen, dessen Rauch durch eine Klappe über der Tür abzog. Mavie hatte noch nie zuvor einen Ofen gesehen, sie kannte sie nur aus Erzählungen. Aber das Feuer, das darin hinter der kleinen Tür loderte, und der Braten, der oben drauf stand, machten es offensichtlich, dass das hier ein Ofen sein musste. Neben dem Braten stand ein Topf mit blubberndem Gebräu, das eine goldgelbe Farbe hatte. Das Licht kam von einer großen Lampe, die an der Decke baumelte. Und überall, unter dem Bett, unter dem Tisch, unter der Bank und sogar unter dem Schrank, waren unzählige Kisten und Gegenstände verstaut. Mavie wunderte sich, wie viel in dieser engen Hütte Platz hatte.
Und dann waren da natürlich noch die beiden Zwerge selbst. Der eine stand am Ofen und rührte in dem Gebräu. Dabei wich er immer wieder Spritzern aus, die zischend auf der Herdplatte verdunsteten. Der andere griff in den Schrank und deckte den Tisch mit Tellern und Tassen aus feinem Porzellan und Silberbesteck. Die beiden Kinder bekamen runde Augen, als sie das sahen.
Mavie hatte sich nicht gemerkt, welcher welcher war. Auf den ersten Blick sahen sie auch absolut gleich aus. Es schien kein Haar an ihrem Bart, keine Wimper, keine Falte im Gesicht zu geben, durch die sie sich unterschieden. Sie trugen dieselbe rote Zipfelmütze, dieselbe runde, goldene Brille, denselben roten Mantel, dieselbe rote Hose und dasselbe blaue Hemd.
Aber wenn man ganz genau acht gab, erkannte man, dass es doch einen Unterschied gab:
Während beim einen Zwerg der Bart gekämmt war, die Mütze gerade saß, die Brille ordentlich auf der Nase hockte, die Schuhe sauber, ja, sogar der Gehstock poliert war - saß beim anderen Zwerg die Mütze schief und ihr Zipfel hing nach unten, im langen Bart klebte an den verschiedensten Stellen Honig und es zeigten sich Ansätze der Verfilzung ähnlich wie bei Luans Haaren, die Brille hing schräg im Gesicht und war so verbogen, dass man sich wunderte, weshalb sie noch nicht heruntergerutscht war, die Hose war zerknittert und das Hemd ungebügelt. Und wenn man noch ein wenig genauer hinsah, hatte er vielleicht sogar hier und da die eine oder andere Lachfalte mehr um die Augen und seine Nase wirkte ein bisschen so, als sei sie schon einmal gebrochen worden - vor sehr, sehr langer Zeit.
"Wieso habt ihr denn vier Teller, wenn ihr nur zu zweit lebt?", fragte Luan, als der Tisch fertig gedeckt war.
"Als wir uns überlegten, was wir auf unsere Reise mitnehmen sollen, dachten wir noch, dass wir schon bald Besuch bekommen von dieser Person mit dem Raben, auf die wir warten sollten. Und es gehört sich schließlich, dass man seinen Besuch großzügig bewirtet. Also haben wir noch einen dritten Teller eingepackt. Und dann dachten wir uns, wenn dieser Person mit einem Raben auftaucht, dann muss das ein sehr ehrwürdiger Rabe sein, dem kann man keine Schüssel mit Wasser auf den Tisch oder gar den Boden stellen, da müssen wir noch einen Teller mitnehmen."
Mavie warf Krächz einen Blick zu. Sie fand an dem zerzausten kleinen Wesen nichts besonders ehrwürdiges. So wie sie ihn kannte, wäre er mit ein paar Nüssen und einer Schüssel Wasser auf dem Boden mehr als zufrieden gewesen...
Der zweite Zwerg stellte den Topf auf einen Untersetzer und hängte den Topflappen über den Ofen. Mit einer Schöpfkelle verteilte er das Gebräu in den Tassen. Und dann den Braten auf den Tellern. Es sah noch herrlicher aus, als es duftete. Echter Braten! Mit echter Soße! Ein Pech nur, dass die Teller und Tassen so klein waren! Und leider auch die Töpfe.
Die Zwerge nahmen ihr Messer mit spitzen Fingern und schnitten den Braten in kleine, feine Stücke, bevor sie ihn mit der Gabel sorgfältig aufspießten. Mavie musste sich sehr zusammenreißen, sich nicht einfach auf das Fleisch zu stürzen und es mit ihren dreckigen Händen zu essen. Sie versuchte, sich die Technik der Zwerge irgendwie abzuschauen, aber die Gabel fühlte sich seltsam an in ihrer Hand und sie konnte sie längst nicht so elegant zwischen den Fingern halten. Luan kämpfte ähnlich. Er stellte sich sogar noch ein wenig schrecklicher an als sie. Aber die Arbeit lohnte sich. Noch nie in ihrem Leben hatte ihr etwas so gut geschmeckt.
Irgendwann konnten sie dann beide nicht mehr anders, als zu schmatzen, bis ihr Mund von Soße umrahmt war.
"Hmmm! Was ist das für ein Getränk?", fragte Luan mit vollem Mund.
"Honigmet", sagte der linke Zwerg (und versuchte, seine Pikiertheit zu verbergen). Der rechte Zwerg lächelte ihnen nachsichtig zu. "Schmeckt so gut, dass man ein ganzes Fass trinken könnte, oder?"
Luan nickte heftig.
"Alte Zwergenkunst."
Mavie nippte vorsichtig an dem dampfenden Getränk - und verbrannte sich prompt die Zunge. Wie konnte Luan das nur in einem Zug herunterstürzen? Aber als es endlich abgekühlt war, stellte sie fest, dass es tatsächlich lecker schmeckte. "Fässer" war fast noch untertrieben gewesen. Sie hätte eine ganze Regentonne davon trinken können!
Es war süß, ein wenig klebrig, und heizte einem sofort den Magen auf. Ganz anders als das trockene Bitterbier von Windenbach.
Eine Weile lang waren sie nur auf das Essen und trinken konzentriert, und obwohl sie sich am Rande ihres Bewusstseins ein klein wenig für ihre Gier schämten, hatten sie am Ende alles aufgegessen. Dann saßen sie eine Zeit lang nur da, noch müder als zuvor, und verdauten.
Erst als Mavie kaum noch den Kopf gerade halten konnte, rang sie sich dazu durch, die Frage doch noch zu stellen. Ihr voller Magen zog sich unangenehm zusammen dabei.
"Also, warum wartet ihr jetzt hundert Jahren hier im Wald?", fragte sie. Das "auf mich" wollte sie nicht so wirklich aussprechen. Obwohl sie zugeben musste, dass die Wahrscheinlichkeit klein war, dass es noch jemanden mit Raben auf der Schulter im Wald geben könnte, der irgendwann hier auftauchen würde. Na gut, es war eigentlich eher unmöglich.
Wieder sahen sich die Zwerge an. Sie seufzten unisono. "Das wissen wir nicht", murmelte Twix.
"Wie - das wisst ihr nicht?", fragte Luan - und lief abermals rot an. "Ihr könnt doch nicht hundert Jahre hier warten, ohne zu wissen, wieso!"
"Wir wissen es nicht mehr", berichtigte der linke Zwerg. "Ach, wärt ihr nur etwas früher gekommen. Früher, als unsere Bärte weniger weiß und unser Verstand noch jünger war. Dann könnten wir nun unseren Auftrag erfüllen!"
"Welchen Auftrag?", fragte Mavie und lehnte sich ein wenig vor.
"Den Auftrag, euch mitzuteilen... nun ja, das, was wir euch eben mitteilen sollten."
Mavie rieb sich über die Stirn. Sie war viel zu müde, um noch den Nerv für so ein Gespräch zu haben. Nun hatte sie endlich die getroffen, die ihr wahrscheinlich das Geheimnis von Krächz offenbaren hätten können - und sie hatten es vergessen. Einfach vergessen.
Sie war die ganze weite Strecke durch den Wald gezogen, um rein gar nichts zu erfahren.
Den Zwergen schien es ähnlich zu gehen, jedenfalls blickten sie nur betreten zu Boden.
Nur Luan wirkte nicht so resigniert, wie der Rest von ihnen. Er blickte nachdenklich in Richtung Schrank.
"Habt ihr es nicht vielleicht irgendwo aufgeschrieben?", fragte er nach einer Weile.
"Aufgeschrieben!" Der rechte Zwerg sprang auf - wobei seine Mütze noch ein Stück weiter verrutschte. "Das ist die Lösung! Natürlich! Bestimmt haben wir das! Du hast doch immer alles aufgeschrieben, oder, Twix?"
Twix nickte eifrig. Er sah sich um. "Nur wo?"
"Es könnte im Schrank sein, oder unter dem Ofen oder in einer der Kisten..."
Der andere Zwerg, der Trix sein musste (der Unordentliche), sah sich aufgeregt um.
"Können wir nicht morgen suchen?", unterbrach Mavie. Selbst im Sitzen bemerkte sich bereits, wie alles um sie herum schwankte. Sie sah zu dem weichen Bett in der Ecke hinüber. Ein echtes Bett... mit Decken und Kissen...
Luan warf ihr einen Blick zu und nickte. "Wir haben eine weite Reise hinter uns", erklärte er. "Wenn es jetzt eh schon hundert Jahre gedauert hat, kommt es auf einen Tag mehr nicht mehr an, oder?"
"Hoffentlich habt ihr recht", murmelte Twix. Er sah zu Krächz hinauf, der immer noch auf der Lampe hockte und mit ihr hin und her baumelte. Er krächzte. Aber ob das nun ein Zeichen von Zustimmung war oder das Gegenteil, wussten sie nicht. Mavie hatte für diesen Abend keine Lust mehr, auf Manieren acht zu geben. Als Twix und Trix ihnen anboten, in ihrem Bett zu schlafen, ließ sie sich ohne Diskussion einfach hineinfallen. Die beiden waren alt, aber sie hatten genug Felle, um für eine Nacht lang auch bequem auf dem Boden zu schlafen...
Das hoffte sie jedenfalls, denn sie würde es sicherlich nicht mehr schaffen, aufzustehen und mit ihnen Platz zu tauschen. Sie hatte nie geahnt, wie bequem ein Bett war. Und diese warme Decke...
Bevor sie den Gedanken zu Ende denken konnte, war sie bereits weggedämmert.
Als sie wieder aufwachte, konnte sie eine Weile lang überhaupt nicht zuordnen, wo sie gerade war. Zuerst glaubte sie, sie träume noch und läge in einer Wolke. Allerdings einer weißen, nicht einer der schwarzen über dem Himmel von Endiar.
Aber langsam wurde ihr klar, dass es keine Wolke war und es auch weit und breit keine weißen Wolken gab.
Dann dachte sie, sie müsse irgendwie in das Bett des großen Bauern gelangt sein und Unz läge neben ihr. Oder ein Reiter habe sie in das Schloss entführt.
Sie musste lange in ihrem noch dämmrigen Verstand kramen, bis sie dahinter kam, wie sie hierher gelangt war.
Stimmt. Da war dieser Rabe und dieser Höhlenjunge, mit denen sie durch den halben Wald gezogen war, nur um in einer winzigen Hütte mit zwei vergesslichen Zwergen zu landen, die angeblich seit hundert Jahren dort warteten, um ihr etwas mitzuteilen, von dem sie nicht wussten, was es war. Die Wolken- und die Schloss-Theorie schienen ihr wesentlich weniger verrückt zu sein.
Sie blinzelte, noch nicht ganz gewillt, den Tag hereinzulassen und sich all dem zu stellen, was außerhalb dieses wunderbaren Bettes auf sie wartete. All die unlösbaren Fragen und nicht erklärbaren Problemen.
Das Licht war noch exakt dasselbe wie am Abend: Gelblich und warm. Auch draußen im Wald hätte man den Unterschied zwischen Nacht und Tag kaum bemerkt. Aber man hörte das Rascheln von Pergament am Tisch und roch den Duft von frischem Kräutergebräu - und etwas Süßlichem, was am Abend noch nicht dagewesen war.
Mavie hatte keine Wahl mehr als wach zu werden, als Luan neben ihr sich aufsetzte und gähnend die Arme in die Luft streckte. Fröhlich wandte er sich an die beiden Zwerge.
"Es tut mir leid, aber ich habe schon wieder vergessen, wer von euch wer ist."
Twix und Trix saßen am Tisch, neben dampfenden Tassen und Tellern mit bestrichenem Brot. Sie blätterten je in einem riesigen Stapel aus Pergament, überwacht von Krächz, der sich einen neuen Platz auf dem Schrank gesucht hatte.
Trix drehte sich zu Luan um und lächelte ihm freundlich zu.
"Oh, das macht gar nichts. Uns haben schon immer alle verwechselt, weißt du, das hat eine lange Tradition. Ja, ich kann mich noch vage erinnern, da gab es einmal einen Morgen, da haben wir selber vergessen, wer von uns wer ist. Wie lange ist das jetzt her, Twix?"
Mavie setzte sich müde auf und schwang ihre Beine über die Bettkante, sodass sie sich ihren übrigen Stiefel anziehen konnte. Luan setzte sich neben sie.
"Ich glaube, eine Woche", antwortete Twix, ohne sich von seinen Blättern abzuwenden. Seine gepflegten Barthaare strichen über das Pergament.
"Es war gar nicht so leicht herauszufinden. Wir mussten unsere Sachen mühsam auseinanderklamüsern und hoffen, dass wir die richtige Mütze anhaben! Sah das nicht komisch aus, als du zuerst meine Mütze aufhattest, Bruderherz?"
Twix kniff die Lippen zusammen und versuchte, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Aber es war ihm anzusehen, dass er das für deutlich weniger witzig hielt.
"Und beim Frühstück wussten wir auch nicht so recht, wie wir uns ansprechen sollten..."
Mavie und Luan tauschten einen Blick. Das konnte ja heiter werden mit den Beiden...
Sie aßen zusammen ein kurzes Frühstück. Kurz war es deshalb, weil sie dabei so viel erzählten, dass sie kaum zum Essen kamen, obwohl das seltsame bestrichene Brot wirklich lecker schmeckte.
Sie erzählten sich gegenseitig ihre Geschichten: Mavie und Luan schilderten die Wanderung durch den Wald und die Zwerge erklärten, weshalb sie vor hundert Jahren aufgebrochen waren, um hier auf eine Person mit einem Raben zu warten.
Was noch viel länger dauerte, weil sich alle Vier ständig ins Wort fielen und die Zwerge hin und wieder etwas doppelt erzählten, weil sie vergessen hatten, dass sie es bereits berichtet hatten. An vielen Stellen stockten sie auch, weil ihre Erinnerung dort eine Lücke hatte.
Ich glaube, ich muss nicht alle Einzelheiten dieses verwirrenden Gesprächs wiedergeben - ihr wisst ja bereits, wie Mavie und Luan zur Hütte gelangt waren. Aber die Geschichte der Zwerge zu erzählen, lohnt sich, denke ich. Solange man sie ein klein wenig abkürzt...
"Ihr habt gestern gesagt, dass ihr den Auftrag habt,... Mavie etwas mitzuteilen. Von wem habt ihr diesen Auftrag denn eigentlich bekommen?", fragte Luan und stopfte sich einen Bissen Brot in den Mund. Etwas von dem süßen Aufstrich, den die Zwerge "Marmelade" nannten, tropfte aus seinem Mund auf die Tischplatte. "Von eurem Anführer? Oder dem König von Endiar? Oder von wem?"
"Von keinem der Beiden. Sondern von einem ganz anderen, den wir bisher nicht gekannt hatten." Trix unterbrach sich und dachte kurz nach. "Das waren wirklich seltsame Umstände. Ich glaube, ich muss ganz vorne anfangen, wenn ich von dieser Begegnung berichten will."
Luan und Mavie stützten beide ihre Ellenbogen auf die Tischplatte und lehnten sich nach vorne. Für einen Moment wurde selbst das Marmeladenbrot unwichtig.
"Wir waren zwei Zwerge wie alle anderen auch", begann Trix redselig. Ein Rascheln übertönte ihn zwischendrin, weil Twix daneben seine Blätter ordnete.
"Wir wohnten am Rande eines ruhigen Zwergendorfs, in unserer eigenen Höhle am Hang, die uns unsere Eltern vermacht hatten, nachdem sie frühzeitig gestorben waren an einer seltsamen Krankheit. Dort wohnten wir schon seit einigen Jahren. Wir mochten die Abgelegenheit, denn wie unsere Eltern waren wir ruhige Gelehrte, nie geschickt mit der Axt, aber geschickt mit Zahlen und Rechnungen und so berechneten wir die Tiefen der Tunnel und andere Dinge für die anderen Zwerge. Manche besuchten uns, wenn sie etwas wissen wollten, was im Dorf sonst niemand wusste. Aber an ihren Blicken merkten wir immer, dass sie uns im Grunde für zwei komische Kauze hielten. 'Zwerge zwischen Pergament!', murmelten sie hinter unserem Rücken, wann immer wir das Dorf besuchten, um Hammelfleisch zu kaufen oder unsere Kleider nähen zu lassen. 'Männer allein unter sich, ohne eine Frau! Kein Wunder, dass sie so seltsam sind!' Aber das machte uns nicht viel aus, denn wir mochten unsere Höhle und unsere Aufgabe und das alte Wissen unseres Volkes und den Sonnenaufgang im Westen sehr. Unsere Großmutter, die uns großgezogen hatte, hatte immer gesagt: 'Es ist die Aufgabe unserer Familie, die Wurzeln zu bewahren, wie es die Aufgabe der Zwerge ist, die Axt zu schwingen und den Stamm zu fällen. Wir müssen uns an das Geschehene erinnern, wenn es sonst niemand tut.' Und da wird die Letzten aus unserer Familie waren, haben wir das getan."
"Bis zu diesem einen Tag, an dem sich alles veränderte", murmelte Twix gedankenverloren und blätterte weiter.
"An diesem Tag geschah etwas, was wir nicht erwartet hatten. Wir waren auf Wanderschaft und wanderten durch die Berge und Täler, um Dörfer und Städte der Bergvölker zu besuchen, neues Wissen zu erlangen und Höhlen zu durchforschen. Da gerieten wir in einen Sturm und kamen vom Weg ab. Der Wind um uns herum schleuderte Felsen durch die Luft und wir fürchteten um unser Leben. Da fanden wir auf einmal eine Höhle, die zwischen den Felsen verborgen war. Der Eingang war so eng, dass wir ihn fast nicht gesehen hätten. Mit viel Mühe zwängten wir uns hinein, ich zuerst und mein Bruder hinter mir. Ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen."
"Als ob du noch wüsstest, was gestern gewesen war", murmelte Twix leise (wahrscheinlich in der Annahme, dass ihn niemand hörte).
"Als wir die Höhle betraten, war es, als befänden wir uns auf einmal in einer anderen Welt. Drinnen war es hell und friedlich und warm und kein Windhauch war mehr zu hören. Ja, es wirkte gar nicht wie eine Höhle, sondern wie ein riesiger Garten, in der der Frühling nur so strahlte. Und mitten drin - da war er."
Trix schwieg ein paar Sekunden. Er schien in Erinnerungen zu versinken, bis er ganz vergessen hatte, dass Mavie und Luan hier waren.
"Wer war da?", fragte Luan und lehnte sich noch ein Stück weiter vor.
Trix fuhr hoch.
"Er!", sagte der Zwerg. "Er, der Große, der Unbeschreibliche. Ich kann euch nicht schildern, wie es war, ihm zu begegnen, denn dafür gibt es keine Worte, weder in der Sprache der Menschen noch in einer anderen. Sobald wir ihn sahen, konnten wir nicht anders, als auf die Knie zu fallen, noch bevor er ein Wort gesagt hatte. Wir wussten sofort, das ist er. Der König von Endiar."
"Der König von Endiar?"
"Der wahre König von Endiar. Der große Adler."
"Ihr habt den großen Adler getroffen?"
Mavie rutschte ihre Tasse aus der Hand (die zum Glück nicht hoch über der Tischplatte war).
"Es gibt ihn tatsächlich?"
Der Adler, von dem Maidl immer erzählt hatte? Der angeblich Endiar beschützt hatte in all den guten Zeiten, und der die Jäger in den Wald geschickt hatte? Der existierte echt?
Jetzt hatte auch Twix seine Notizen beiseite geschoben. Er nickte. "Ja, es gibt ihn. Wir haben ihn in der Höhle gesehen vor hundert Jahren. Wir haben genauso drein geblickt wie ihr jetzt. Aber da stand er vor uns und hat uns angesehen."
"Was hat er dort in der Höhle gemacht?"
"Ich weiß es nicht. Vielleicht auf uns gewartet. Vielleicht war es auch seine Höhle, auch wenn er bestimmt nicht durch den Eingang gepasst hätte. Aber so hat es sich irgendwie angefühlt, wie seine Höhle."
"Hat er etwas gesagt?", fragte Luan.
"Ja. Er hat uns gesagt, dass ein Sturm über Endiar kommen würde, größer als der, der da draußen wütete. Und dass er uns in eine sichere Höhle führen würde, bevor es passierte. Aber dass es einen Tag geben würde, da müssten wir dann wieder in den Sturm hinaus. Wir haben kein Wort davon verstanden, aber wir wagten es nicht, nachzufragen. Dann hat er uns gesagt, dass wir in den Wald ziehen müssten, um dort auf jemanden mit einem Raben auf der Schulter zu warten. Dieser Person sollten wir etwas Wichtiges auftragen. Wenn ich nur wüsste, was es gewesen war!" Trix schlug mit seiner Faust wütend auf die Tischplatte.
Kurz gesagt, sie wussten also noch alles, außer den entscheidenden Teil. Mavie hätte am liebsten auch auf die Tischplatte geschlagen. Aber sie hatte Angst um ihr Brot, das von Trix Schlag immer noch ein wenig zitterte.
"Wieso könnt ihr euch an den Rest denn noch so genau erinnern?", fragte sie stattdessen müde.
"Eine Begegnung mit dem großen Adler vergiss man nicht, glaub mir. Auch nach hundert Jahren nicht. Und das mit dem Sturm haben wir uns gemerkt, weil es draußen so stark gestürmt hatte und wir solche Angst hatten. Und dass wir in den Wald ziehen müssen, das haben wir uns gemerkt, weil wir wegen diesem Satz unser ganzes Leben umgekrempelt haben. Und das mit dem Raben... das ist gerade noch so hängen geblieben. Warum, weiß ich auch nicht."
"Und wie ist es dann weitergegangen?", fragte Luan
"Wir haben eine Weile in der Höhle gewartet, glaube ich", erzählte Twix. "Wohin der Adler verschwunden ist, weiß ich nicht mehr. Aber dann, irgendwann, haben wir unseren Kopf durch den Eingang gesteckt. Der Sturm war weniger geworden, sodass wir auf einen sicheren Pfad zurückkehren konnten. Aber wie wir nach Hause gefunden haben, habe ich vergessen. Jedenfalls haben wir ganze sieben Tage lang erst Mal überlegt, was wir tun sollen."
"Diesem Adler müssen wir gehorchen", fuhr Trix fort. "Das wussten wir tief in uns. Aber einfach alles zurück lassen, um in den Wald zu ziehen? Der letzte Ort, an den ein Zwerg einen Fuß setzen will, selbst in friedlichen Tagen? Zwerge brauchen Bergluft! Und das alles aufgeben, unsere Höhle hinter uns lassen, nur weil ein Adler es uns gesagt hat? Was, wenn wir im Sturm ohnmächtig geworden waren und uns das alles nur eingebildet hatten? Schließlich wäre es nicht das erste Mal in der Zwergengeschichte, dass Zwillingszwerge dasselbe geträumt hätten. Sechs Tage lang sind wir nur auf und ab und auf und ab gegangen und haben herumgerätselt. Und am siebten Tag haben wir dann unsere Sachen gepackt. Na wenn schon!, haben wir uns gesagt. Sollen sie uns alle für verrückt erklären! Vielleicht sind wir das auch, haben wir uns gesagt. Aber wir mussten einfach das tun, was der Adler uns befohlen hat. Also haben wir mir nichts dir nichts die Höhle leer geräumt, das meiste verkauft und den Rest in Rucksäcke verschnürrt. Hammer und Meißel und unsere Äxte und all die alten Schriften unserer Vorfahren haben wir natürlich mitgenommen. Und dann sind wir schwer beladen losgezogen. Das halbe Dorf hat sich um unsere Höhle herum versammelt, um uns dabei zuzusehen, wie wir unser altes Leben verließen. Sie haben ihre Köpfe geschüttelt, in ihre Bärte gemurmelt, die Jüngeren haben einen Spalier gebildet und in Chören Spottsprüche gerufen. 'In den Wald wollen sie ziehen! Mit Hammer und Meißel, um ein Haus aus Holz zu bauen, wie es die Menschen haben!' Und: 'Verrückt waren sie schon immer - jetzt sind sie auch noch übergeschnappt!' Wieder haben wir uns gefragt, ob sie nicht recht haben.
Aber wir zogen los und die Sorgen eines Reisenden lenkten uns von unseren Bedenken ab. Unsere Last war schwer und unterwegs mussten wir Stück für Stück fast die Hälfte zurücklassen, um es über die Berge zu schaffen. Dann standen wir auf einmal vor den ersten Bäumen. Wir haben uns angesehen und tief geseufzt. 'Wie konnten wir uns nur auf so etwas einlassen?', hat mein Bruder gefragt 'In den Wald zu ziehen! Ausgerechnet!' Und ich habe geantwortet: 'Umkehren können wir nicht mehr. Da machen wir uns noch mehr zum Gespött! Ich verwette meinen Bart darauf, dass sie sich in unserer Höhle eingenistet haben, kaum, dass wir um die erste Kurve gebogen sind.' Deshalb sind wir in den Wald gezogen. Immer weiter und weiter und tiefer und tiefer, ohne zu wissen, wohin wir gingen. Immer auf der Suche nach der finstersten Stelle."
"Warum nach der finstersten Stelle?", fragte Mavie. Das wäre der letzte Ort, nach dem sie gesucht hätte.
"Das hatte ich doch erwähnt, oder nicht?" Trix kratzte sich am Bartansatz.
Mavie und Luan schüttelten den Kopf.
"Ach, dann habe ich das vergessen. 'Geht bis zur finstersten Stelle. Dort lasst euch nieder und wartet, bis euch ein Mensch mit einem Raben begegnet.' So hat dieser Adler es damals befohlen. Irgendwann kamen wir in diese Gegend. Eine finsterere konnten wir nicht finden im ganzen Wald und wir waren auch schon müde vom suchen. Außerdem stand dort dieser riesige, unbehauene Felsen, der wirkte, als hätte man ihn extra für uns dort hingestellt. Also begannen wir, ein Haus daraus zu hauen. Und als wir fertig waren, sind wir eingezogen. Voller Erwartung haben wir gewartet, haben jeden Morgen die Türe aufgerissen, um nachzusehen, ob dort draußen jemand zu sehen war. Aber wir warteten und warteten und nichts geschah. Jahr für Jahr für Jahr. Immer öfter fragten wir uns, ob wir uns doch alles nur eingebildet hatten. Es gab Wochen, da öffneten wir unsere Tür tagelang kein einziges Mal, saßen einfach nur in unserer Hütte und bereiteten Essen für die nächsten Monate zu. Aber wir haben dennoch lange gehofft, dass eines Tages noch jemand kommt. In den letzten Jahren war dann kaum noch was von der Hoffnung übrig. Wir haben immer wieder komplett vergessen, wieso wir warten sollten. 'Twix, was machen wir eigentlich hier?', habe ich oft gefragt. Und mein Bruder hat seinen Bart gekämmt und überrascht aufgeschaut und hatte nicht die geringste Ahnung. Erst gestern ist es uns dann wieder eingefallen, ein paar Stunden, bevor ihr kamt. Ich glaube, manchmal sind wir nur weiter hier geblieben, weil wir nichts anderes mehr kannten, und weil wir uns schon so daran gewöhnt hatten. Wären wir nicht schon so alt, wir wären bestimmt wieder zurück zu den Bergen gewandert und hätten euch verpasst. Ach, Twix, seit hundert Jahren warten wir schon! Was ist das eine lange Zeit gewesen! Und doch kommt es mir wieder vor wie gestern, dass er vor uns stand und..."
"Seit hundert Jahren..." Luan rieb sich nachdenklich über die Stirn. "Da müsst ihr ziemliches Glück gehabt haben. Ihr seid der großen Vertreibung wahrscheinlich gerade so entkommen."
Twix rückte seine Brille zurecht und sah Luan interessiert an. "Der großen Vertreibung?"
"Habt ihr nichts davon mitbekommen? Alle Zwerge und alle alten Völker und die ganzen magischen Wesen sind vor genau hundert Jahren aus den Bergen vertrieben worden! Niemand weiß, wohin."
Mavie runzelte die Stirn. "Woher weißt du das?"
Luan wich ihrem Blick aus. "Ach, das hört man so hie und da."
Er hatte also doch nicht schon immer alleine gelebt. Das war interessant.
"Die Zwerge sind vertrieben worden?" Twix schlug entsetzt die Hände vor dem Gesicht zusammen.
"Und die ganzen alten Völker? Auch die Wimbots? Und die Meneatin? Alle?"
Luan nickte. "Sogar die Jungerlinge. Jetzt gibt es nur noch Gämse, Wölfe, Löwen, Bären, Flugziegen, Murmeltiere, Steinböcke, Luchse, Salamander, Mufflons und so. Und Vögel natürlich. Jede Menge... sagt man."
Mavie runzelte die Stirn. Sagte man wo? Sie hatte in ihrem Leben noch nie etwas von den Tieren in den Bergen gehört. Vielleicht hatte Luan einmal näher an ihnen dran gelebt, in einem ganz anderen Teil des Waldes, rätselte sie. Oder er kam doch aus der Stadt... Dort wusste man wahrscheinlich allerlei über die Welt. Sie hatte öfter aus ihrem Versteck heraus Reiter über die Wiesen oder das Meer reden hören... Aber was tat ein Stadtjunge mitten im Wald?
Vorerst gab es ein wichtigeres Rätsel zu lösen. Mavie rutschte ungeduldig auf ihrem Platz herum und warf Krächz einen durchdringenden Blick zu. 'Kannst du uns nicht zumindest einen Hinweis geben?' Natürlich blickte er wieder nur geheimnisvoll zurück.
Mavies Aufmerksamkeit wurde wieder auf das Gespräch gezogen.
"...Scharen über Scharen sind in den Wald geflohen und haben sich zwischen den Bäumen versteckt. Sie zogen in Strömen an uns vorbei. Wir hatten gerade unsere Hütte fertig gebaut - das ist eine Arbeit gewesen! Als wir sie sahen, sind wir nur vor der Tür gestanden und haben staunend zugesehen. Manchmal haben wir ihnen Fragen zugerufen. Aber alle riefen nur wieder und wieder etwas von einer Hexe in der Stadt. Dass sie hier waren, hat dem Wald genauso wenig gefallen wie unsere Ankunft. Eine Weile lang hat er sie bekämpft bis aufs Äußerste. Doch es waren zu viele. Jetzt leben sie in alle Richtungen verstreut und sind schon fast Teil des Waldes. Genau wie wir. Ich wette, ein Flughörnchen könnte unsere Bärte nicht einmal mehr vom Moos der Bäume unterscheiden, so sehr sind wir Teil des Waldes geworden."
Trix schwieg einen Moment.
"Aber Zwerge haben wir damals keine gesehen, oder, Twix?"
Twix schüttelte den Kopf, den Blick wieder auf seine Blätter gerichtet.
"Keinen einzigen."
"Wir haben nie wieder welche von unserem Volk gesehen, seit wir ausgewandert waren. Jetzt wissen wir wohl, wieso."
"Dem Wald hat eure Ankunft nicht gefallen?", fragte Mavie neugierig.
"Nein, zuerst ganz und gar nicht. An den ersten Tagen hier sind wir so vielen Blindschleichen, Flughörnchen, Dohlen, Randaleren und Finstermulchen begegnet, wie seitdem nie wieder. Sie haben uns von allen Seiten ins Gesicht gefaucht, unser Werkzeug gestohlen, mit Steinen auf uns geworfen, Äste auf unseren Kopf krachen lassen und sogar im Schlaf unsere Bärte verknotet."
Trix lachte. "Zum Glück waren sie damals nur ein Viertel so lang wie heute. Und wir haben nicht aufgegeben, bis unsere Hütte stand. Auch wenn wir uns oft gefragt haben, ob das eine gute Idee ist. Aber wir sollten ja nach der finstersten Stelle suchen. Und das haben wir getan. Fast ein Jahr lang mussten wir uns täglich gegen Mulche in unseren Betten und Schlangen in unseren Dielen wehren, und beim Wasserholen aufpassen wie zwei Luchse. Aber dann haben sie sich mehr und mehr an uns gewöhnt. Die Randaleren haben uns schon fast gar nicht mehr wahrgenommen, wenn wir an ihrem Nest vorbei sind, um aus dem Bach zu trinken. Damals war sein Wasser noch klar... Hin und wieder haben uns sogar die Flughörnchen besucht und mit ihren Kindern spielen lassen. Irgendwann gehörten wir einfach dazu.
Aber mit den Jahren spürten wir mehr und mehr, wie sich etwas verdunkelte. Der ganze Wald verdunkelte sich. Und auf einmal wurde die Hütte einsamer und einsamer. Oh, wie habe ich manchmal nach fliegenden Steinen und geklautem Werkzeug gesehnt! Es wäre so viel leichter zu ertragen gewesen wie diese düstere Stille. Irgendetwas Schreckliches musste in der Welt passiert sein, dass den Wald vergiftet und die Dunkelheit verdüstert hatte."
Ja, das traf es wohl ziemlich gut. Die ganze Welt hatte sich verfinstert. Zum tausendsten Mal wünschte Mavie sich, sie lebte in der alten Zeit.
Die warme Hütte und die ganzen alten Geschichten erinnerten sie schmerzhaft an das Feuer von Windenbach. Plötzlich stieg ein seltsames Gefühl in ihr auf bei dem Gedanken an Windenbach. Ähnlich wie das, das sie gehabt hatte, kurz, bevor sie in den Wald gehen musste. Als würde dort etwas geschehen. Oder bald geschehen. Etwas Schreckliches. Das erschreckte sie so sehr, dass sie den Schluss von Trix Geschichte verpasste.
Auch das, was Luan von ihrer Reise berichtete, hörte sie nur mit halbem Ohr. Erst, als er zu der Stelle mit ihren geklauten Sachen kam, horchte sie auf. Das hätte sie schon beinahe verdrängt. Doch, selbst wenn sie das Rätsel lösten, wie sollte sie je ohne Felle und Beutel und Messer nach Windenbach zurückkehren? Mit nichts als Luans Steinschleuder... Aber viel schlimmer noch war es, dass sie nicht wusste, ob Luan selbst überhaupt mit ihr zurückkehren würde. Was, wenn er lieber im Wald blieb? Wenn er etwas dagegen hatte, dass sie wieder unter Menschen leben wollte und sie verließ? Sie hatte ihn mindestens so gern wie ihre Brüder. Sich zwischen ihrer Familie und ihm zu entscheiden, war das Letzte, was sie wollte.
Aber für Kenja trug sie eine Verantwortung. Luan konnte auf sich selbst aufpassen. Sie musste zu ihm zurück. Sie hatte sich nicht einmal von ihm verabschiede...
"Hast du deshalb nur einen Stiefel, Mädchen?", fragte einer der Zwerge laut. Mavie riss den Kopf hoch. Twix hielt ihren übrigen Stiefel in die Höhe und sah sie durch seine eklatant gerade sitzende Brille fragend an. Mavie schüttelte den Kopf. "Den haben mir Flughörnchen geklaut."
"Was machen die nur immer mit unseren Sachen?", murmelte der alte Zwerg kopfschüttelnd.
"Ich nähe dir einen neuen!", erklärte Trix und begann, eine Weile lang vergeblich nach seinem Nähzeug zu suchen. Bis ihm einfiel, dass er es noch gestern in eine der Kisten unter der Bank gelegt hatte. Naja, eigentlich eher achtlos hineingestopft, sodass es einige von Twix Pergamentblättern darin zerknickt hatte. Woraufhin Mavie und Luan zum ersten Mal Zeugen eines Streites unter Zwillingszwergen wurden (selbst so kultivierte Zwerge können streiten, dass ihnen die Bärte davonflatterten und ihre Gesichter rot wurden wie runzlige Tomaten. Aber wie Tomaten aussahen, das wusste Mavie selbstverständlich nicht).
Am Ende des Streits fragten sie sich, bärtekratzend, worum sie sich noch Mal gestritten hatten - und da Luan die Kiste unauffällig unter dem Tisch verschwinden hatte lassen, fiel es ihnen nicht mehr ein. Und deshalb machte Trix sich daran, den Stiefel aus einem Stück Leder zu fertigen, während Luan in allen Details schilderte, wie sie schließlich ihre Hütte gefunden hatten. Genau wie am Anfang, als Mavie ihn kennengelernt hatte, redete Luan nun wieder wie ein unaufhaltsamer Wasserfall, weshalb Trix schon beinahe fertig war (er war ein geschickterer und flinkerer Schuster, als es unter den Menschen je einen gegeben hatte), als der Junge die Geschichte endlich beendet hatte.
"Wir sollten uns nun endlich alle auf die Suche machen!", drängte Twix mit einem Blick in Krächz Richtung. "Ich kann mich nicht auf das Lesen konzentrieren, wenn ihr ständig erzählt! Außerdem sind meine Augen die schwächsten hier im Raum. Hilf mir mal, Bruder!"
"Ja, ja, Bruder, wir fangen gleich an!", sagte Trix kleinlaut. Er räumte hastig das Geschirr und das Nähzeug vom Tisch und holte einen Stapel Pergament, der kräftig Staub im Raum verteilte, als der Zwerg ihn auf den Tisch krachen ließ.
Twix hüstelte ein wenig pikiert, aber seine Aufmerksamkeit war zu sehr von der verblassenden Schrift auf dem Blatt vor ihm gefesselt. Blatt für Blatt legte er ordentlich neben sich auf den Tisch, wenn er es von oben bis unten entziffert hatte, und dabei feststellte, dass es nicht das richtige gewesen war.
Luan beugte sich über den Tisch und spähte neugierig auf die geschwungenen, hellblauen Lettern hinab. Ob Stadtjungen wohl alle das Lesen lernten? Aber Luan wirkte nicht so, als könne er die Zeilen entziffern. Er interessierte sich nur für die seltsamen kleinen Zeichen.
Trix brauchte zuerst mal eine ganze Weile, um seine Brille zurechtzurücken. Und weil sie immer wieder runter rutschte, klebte er sie irgendwann mit einer klebrigen Paste an seiner Nase fest. Dann beugte er sich wieder über den Stapel, aber seine Aufmerksamkeit blieb nur einige Sekunden bei der Schrift, bevor er wieder aufsah.
"Hier, ihr könnt etwas von meinem Stapel haben!", sagte er, als er bemerkte, dass Luan und Mavie ihnen untätig zusahen.
"Wir können leider nicht helfen", sagte Luan und zuckte bedauernd mit den Achseln. "Wir können nicht lesen."
"Ihr könnt nicht lesen?" Trix stand der Mund offen und sogar Twix sah kurz überrascht auf.
"Wieso denn das nicht? Bringen sie das den Kindern nicht mehr bei?"
Mavie zuckte mit den Schultern. Weil Luan schwieg, antwortete sie. "Es gibt Wichtigeres, was Kinder heute lernen müssen. Holz hacken und Knollen finden, Dächer reparieren und Mäntel flicken... und es gibt auch kaum noch jemanden, der die Zeit hätte, uns das Lesen zu lehren. Und selbst unter den Ältesten kann es fast keiner mehr."
Mavie erinnerte sich, dass Tanjo einmal gesagt hatte, die alte Maidl hätte früher lesen können - als ihre Augen noch funktionierten. Sie musste eine der letzten gewesen sein, die es gelernt hatte.
"Wenn wir nicht etwas anderes dringend erledigen müssten...", begann Trix. Und Mavie war insgeheim erleichtert, als Twix laut seufzte und Trix sich wieder dem Pergament zuwandte, wobei er die Augen zusammenkniff, um die Buchstaben zu entziffern. Sie hatte keine große Lust, ihre Zeit damit zu verschwenden, lesen zu lernen. Zu oft hatte sie Unz dabei zuhören müssen, wie er sich über den Lese-und-Schreib-Unterricht seines Vaters beklagte.
Twix hatte bereits einen hohen Stapel an gelesenem Pergament neben sich aufgetürmt, während sie gelesen hatten. Mavie und Luan sahen zu, wie seine Augen unermüdlich durch die Zeilen huschten. Im Lesen waren sie so flink wie Trix Hände beim Schustern.
Nach einer Weile stand Mavie - möglichst geräuschlos - auf, um ihren neuen Stiefel anzuprobieren. Dazu setzte sie sich auf das Bett. Er sah anders aus, als ihr anderer Stiefel, da er aus einem helleren Leder gemacht war. Aber er sah so perfekt aus, wie ein Stiefel nur aussehen kann: Geschmeidig, glatt und anschmiegsam, mit stabilem, festen, eng anliegenden Leder. Als sie ihn jedoch über den Fuß zog, stellte sie fest, dass es ein linker Stiefel war und kein rechter. Es drückte ein wenig am Fuß. Enttäuscht versuchte sie, darin herumzurutschen. Mist. Es wäre auch zu schön gewesen. Am Bein passte er wie angegossen.
Aber sie hatte keine Lust, sich bei Trix zu beschweren. Der Stiefel musste eben so passen.
Nachdem das im Schuh Herumrutschen auch langsam langweilig wurde, beschäftigte Mavie sich damit, leise auf und abzugehen. Und schließlich wusch sie mit Wasser aus einem Krug draußen das Geschirr ab, bis es wieder sauber und trocken im Schrank stand. Dann begann sie, die zahlreichen neuen Löcher in ihrem Mantel zu zählen. Trix erlaubte ihr, sein Nähzeug zu benutzen, sodass sie sie Stück für Stück stopfen konnte. Und dann auch noch die von Luan. Und dann die ihrer Hosen. Aber irgendwann fand sie nichts mehr, womit sie sich beschäftigen könnte. Sie setzte sich aufs Bett. Ihre Gedanken kehrten wieder und wieder nach Windenbach zurück. Es wurde Mittag, Nachmittag, Abend, ohne dass die Zwerge sich von den tausenden Blättern, die sie immer wieder aus neuen Kisten herauskramten, abwandten. Sie aßen nichts und tranken kaum etwas. Luan hatte sich der Aufgabe angenommen, die durchgesehenen Blätter zu ordnen, zu stapeln, in Kisten zu schichten und sie in einer Ecke zu stapeln. Wann immer Twix mal wieder zum letzten Blatt griff, stand er sofort mit einem neuen Stapel bereit. Aber nie fanden die Zwerge etwas, was ihnen auch nur den kleinsten Hinweis gab auf das, was der Adler damals gesagt haben könnte.
Am Abend waren sie alle Vier müde, als hätten sie einen Tag lang Holz gefällt.
"So!", sagte Trix und schob entschlossen seinen Stapel beiseite. Er rieb sich die Augen, die ganz rot waren vom vielen Lesen. "Für heute reicht es! Wir gehen ins Bett und machen morgen weiter!"
Und auch Twix, der doppelt so viele Kisten geleert und wieder gefüllt hatte wie sein Bruder, legte seufzend sein Blatt auf den Tisch. Mavie und Luan boten den Zwergen an, wieder im Bett zu schlafen, da sie schließlich einen anstrengenden Tag hinter sich hätten. Doch die beharrten darauf, dass ihnen der Boden nichts ausmache. Und so legten sie sich wie am Vortag wieder an dieselben Plätze - nur nicht so zufrieden und satt, sondern müde und hungrig.
Am nächsten Morgen gab es nur ein kurzes Frühstück, bevor die Zwerge sich wieder an die Arbeit machten. Bis zum Nachmittag spazierte Mavie abwechselnd in der winzigen Hütte auf und ab oder setzte sich auf das Bett und versuchte, nicht an Windenbach zu denken. Am Nachmittag hielt sie es nicht mehr aus.
"Ich gehe in den Wald", beschloss sie (obwohl ihr alles andere als wohl zumute bei dem Gedanken war, allein in den finsteren Wald zu gehen). "Vielleicht finde ich etwas zu essen."
Twix und Trix erklärten ihr, wie man in dieser Gegend Essen und Wasser fand und worauf man dabei achten musste.
"Nimm die Laterne mit, die am Türstock hängt", riet Twix. "Aber häng sie wieder ordentlich hin, wenn du zurück kommst!"
Mavie nickte brav. Dann verschwanden sie erleichtert aus der Hütte.
Allein in der Dunkelheit wäre sie nach ein paar Schritten gerne wieder umgekehrt. Trotz der hellen Laterne, die die dicht stehenden, hohen Tannen mit ihren wenigen Zweigen und Nadeln einige Astlängen weit sichtbar machte, war ihr hier nicht wohl zumute. Aber sie wollte nicht wieder zurückkehren in die Hütte, nachdem sie erst kaum ein paar Sekunden weg gewesen war. Deshalb tastete sie sich zögernd voran durch die Dunkelheit. Astlänge für Astlänge. Sie fühlte sich hier einsam und beobachtet zugleich. Aber so weit sie ihre Augen auch aufriss und so oft sie sich auch umschaute, war nicht das kleinste Tier zu sehen. Twix und Trix hatten recht gehabt: hier lebte außer ihnen niemand. Mavie sah sich überall nach den Rindenpilzen und den Mooskräutern um, die ihr Twix detailgetreu beschrieben hatte. Aber sie fand unterwegs nur ein einziges Kraut, und das sah ziemlich verkümmert aus. Wie fanden die Zwerge hier nur etwas zu essen? Dabei war sie ständig bedacht, nur gradeaus in eine Richtung zu gehen, um sich nicht zu verirren. Wenn wenigstens Krächz bei ihr wäre...
Irgendetwas war da. Sie bemerkte es wieder einmal nur schleichend. Irgendwas war da im Wald. Ein Geräusch. Nein, eine Melodie. Diese Melodie, die sie an jedem Abend im Wald gehört hatte, auch wenn sie ihr meist nicht wirklich aufgefallen war. Das Lied des Abends. Es musste also Sonnenuntergang sein über ihnen.
Hier, in dieser völligen Stille, klang die Melodie auf einmal klarer und lauter als sonst. Woher kam sie? Aufmerksam lauschte sie ihr.
Plötzlich hörte Mavie ein leises, hallendes Knacken. Sie erstarrte. Schnell weg hier! Sofort machte sie sich auf den Weg zurück zur Hütte. Sie war furchtbar erleichtert, als der Schein der Laterne sie streifte. Hier draußen hielt sie es keine Sekunde länger alleine aus. Noch weniger als drinnen.
Die Anderen saßen so konzentriert über ihren Pergamenten, dass sie nicht einmal aufsahen, als sie hereinstürmte. Luan saß vor einem Blatt mit ein paar großen Buchstaben und starrte, als würde er versuchen, sie sich einzuprägen. Lernte er nun tatsächlich das Lesen? Besonders erfolgreich schien er dabei aber nicht zu sein, denn sein Gesicht sah ungewöhnlich unglücklich aus.
Mavie warf den Kisten einen Blick zu. Die Hälfte hatten sie jetzt durch. Wie konnte man nur so viel aufschreiben? Was stand denn da alles? Das Wetter der letzten hundert Jahre? Oder Abenteuer? Alte Zwergengeheimnisse? Und wenn es tausend Jahre gewesen wäre, wäre das immer noch viel gewesen...
Diesmal war es Twix, der müde die Blätter zur Seite schob (natürlich so, dass sie ordentlich gerade im Stapel lagen). "Morgen finden wir es sicher!", sagte er entschlossen.
"Falls wir es überhaupt aufgeschrieben haben." Trix ließ erschöpft seinen Kopf auf die Tischplatte sinken.
"Natürlich haben wir das!" Twix spritzte sich ein wenig Wasser aus dem Eimer ins Gesicht. "Ich jeden Tag alles wichtige notiert! Da werde ich ausgerechnet das vergessen haben!"
"Vielleicht dachtest du ja, dass wir uns daran eh erinnern würden?"
"Ach was! Wir haben nur einen Fehler gemacht: Wir hätten mit den hintersten Kisten anfangen sollen. Wo die ältesten Schriften drin sind."
"Die ältesten Schriften sind doch im Schrank... oder waren sie unter dem Bett?"
"Nein, die waren ganz hinten..."
Mavie war zu müde, um dem Gestreite der Zwerge zuzuhören. Ohne sich zu waschen, fiel sie ins Bett. Doch als sie die Augen schloss, hörte sie noch eine ganze Weile lang diese seltsame Melodie. Und weil sie so müde war, dauerte es eine ganze Weile, bis sie realisierte, dass sie gar nicht wirklich hörte. Sie war... in ihr drin.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro