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Dilara - Ein Sprung ins kalte Wasser


Prinzessin Dilara war nun wirklich keine Prinzessin mehr. Oder zumindest war sie kaum noch eine. 

Sie ging nicht mehr wie eine Prinzessin: aufrecht, mit erhobenem Kopf. Sie schlurfte mehr dahin wie ein ziemlich elendes Schlossgespenst. Sie redete auch nicht mehr wie eine Prinzessin. Ihre Sprache hatte sich wie von selbst dem herben Ton von Le und den Menschen aus der Stadt angepasst. Nur hin und wieder entfuhr ihr noch ein Ausdruck aus der Sprache der Lords und Ladys - etwa Worte wie "vorzüglich" oder "reiche mir bitte".

Sie dachte nicht einmal mehr wie eine Prinzessin. Denn eine Prinzessin dachte keine Dinge wie: hoffentlich werde ich diesen Tag überleben (es sei denn, sie muss in einer Ratssitzung reden). Eine Prinzessin dachte über ihr Kleid, über den Krieg und die Frechheit der Aufständischen nach - ohne sich dabei zu fragen, wie es wohl sein würde, bei ihnen zu leben.

Kaum zu glauben, dass es kaum mehr als eine Woche her war, seit sie das Schloss hinter sich gelassen hatte, um in die weite Welt zu fliehen. Sie hatte das Gefühl, dass seitdem mehr passiert war als in ihrem gesamten Leben zuvor. Weshalb sie das getan hatte - weshalb sie ausgerechnet mit einem Rebellen durchgebrannt war - das verstand sie immer noch nicht so ganz.

Konnte es denn überhaupt irgendeinen vernünftigen Grund geben, weshalb eine Prinzessin ihr Leben im Überfluss wegwerfen würde, um sich täglich in Lebensgefahr zu begeben, das ganze Land nach ihr jagen zu lassen, auf dem Boden zu schlafen und von Les - eher spärlichen - essbaren Errungenschaften zu leben?

Sie konnte das nicht wissen. Schließlich war sie ja wie gesagt keine Prinzessin mehr. 

Immer noch suchte ihr müdes Gehirn nach neuen Worten - nach neuen Bezeichnungen, die das Wort „Prinzessin" ersetzen könnten. Da sie ihr ganzes Leben lang nie jemand anderes gewesen war als die Prinzessin, fiel es ihr immer noch schwer, sich in einer anderen Rolle zu sehen.

Geflohene. Flüchtling. Ausreißerin. Das waren die Worte, die ihr in den Sinn kamen. Aber eines hatte sich schleichend immer mehr in ihr festgesetzt, seit sie aus dem Schloss ausgebrochen war wie aus einem Käfig. Es schien auf ihrer Haut zu brennen wie das Brandmal, das Sklaven erhielten. Und es war ihr, als müsse jeder es sehen können, sobald er sie nur ansah. 

Verräterin. Sie war nun eine Verräterin.


Diese Gedanken waren das Einzige, was Dilara an diesem Tag wachhielt. Zwei Tage waren sie über die Mauer gewandert – ohne Schlaf, ohne Essen, ohne etwas zu trinken. Selbst Le ging nur noch gebeugt und erschöpft vor sich hin. Dilara aber schaffte es kaum mehr, einen Fuß vor den anderen zu setzen. 

Schlafen hätten sie dort oben sowieso nicht können. Sie hätten sich nur einmal zu weit zur Seite drehen müssen, und schon wären sie über hundert Meter in die Tiefe gestürzt. Deshalb waren sie die ganze Nacht lang durchgewandert. Am nächsten Nachmittag hatte Le dann beschlossen, dass sie von der Mauer herunterklettern mussten. 

Zu dem Zeitpunkt hatte Dilara gerade noch die Kraft gehabt, sich ein paar Gedanken darüber zu machen, dass sie nun den Wald betreten würden und was sie alles Unheimliches über den Wald gehört hatte. Aber nach dem Abstieg (einem riskanten und anstrengenden Hinuntergleiten zwischen Ästen und Mauersteinen) war von dieser Kraft nichts mehr übrig geblieben. Sie taumelte zwischen Wurzeln und Ästen hindurch, bemüht, die Augen offen zu halten. Die düsteren, hohen Bäume und die seltsamen Geräusche um sich bemerkte sie kaum. Der einzige Grund, weshalb sie nicht einfach zu Boden sank und einschlief, war der, dass Le einen Fluss erwähnt hatte, den sie suchen mussten. Ihre Kehle brannte vor Durst.

So wenig Dilara sich in diesem Moment als Prinzessin fühlte, gab es eben doch noch einiges, was sie lernen musste, wenn sie die nächsten Tage überleben wollte. Zum Beispiel durchzuhalten, auch wenn der ganze Körper nach Schlaf und Wasser schrie. Und auf ihre Füße zu achten. Sie stolperte bei jedem zweiten Schritt über eine Wurzel oder über ihr Kleid. Hin und wieder fiel sie der Länge nach zu Boden. 

Hier sieht es nicht so aus, als hätte in letzte Zeit jemand gekehrt, wunderte sich der letzte Rest ihres Verstandes müde, als sie die vertrockneten Blätter vor ihrer Nase betrachtete. Eigentlich sah es nicht so aus, als hätte hier überhaupt schon einmal jemand gekehrt.

Aber der unebene, ungekehrte Boden war nicht die einzige Ursache für ihr Stolpern: Auch wenn sie es kaum bemerkte, ihre Beine zitterten noch immer von den Tagen auf der Mauer und von dem abenteuerlichen, anstrengenden und langwierigen Herunterklettern. Die Mauern waren gerade breit genug gewesen, um darauf zu gehen. Aber an einigen Stellen musste man meilenweit balancieren, während einem von beiden Seiten die Äste ins Gesicht oder gegen die Beine schlugen. Und das, obwohl einem vor Durst und Hunger beinahe schwindelig wurde und der Wind dort oben brauste wie ein Sturm. Kein Wunder also, dass ihre Knie weich und wackelig waren.


Wie viele Stunden würde es noch dauern, bis sie endlich ankamen? Es zählte nicht. Es zählte nur, dass sie ankamen. Denk an das Wasser, beschwor sich Dilara. Kaltes, klares, wundervolles Wasser...

"Hier ist er!"

Dilara fuhr hoch. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie Le sich immer weiter von ihr entfernt hatte. Seine Stimme kam von irgendwo hinter einer Reihe von Büschen.

"Hier ist der Fluss!"

Fluss? Ihr Verstand wurde ein kleines bisschen wacher. Mit frischer Hoffnung begann sie zu rennen. Die kratzigen Zweige des Gebüsches waren ihr egal. Wenn sie nur endlich etwas trinken konnte...

Und dann sah sie es. Tatsächlich - da war ein Fluss! Unmengen von Wasser rauschten in wenigen Sekunden in einem tiefen Graben an ihr vorbei. So viel Wasser, dass sich das ganze Schloss daran hätte satt trinken können! Felsen ragten aus dem Fluss empor, der fast so klar war wie die Luft selbst. Keine schwarze Brühe und auch kein brauner Sumpf. Klares, glitzerndes Bergwasser. 

Dilara drückte sich zwischen den letzten Büschen zum Ufer hindurch. Dann erst fiel ihr auf, wie tief unten der Fluss lag. Viel zu tief, um daraus zu trinken. 

Enttäuscht sank sie zu Boden. Das bedeutete, dass sie noch weiter gehen mussten.


Sie sah sich nach Le um. Als sie ihn entdeckte, stellte sie fest, dass er gerade sein Hemd abstreifte. Dann auch Hose und Schuhe. Als er fertig war, machte er einen beherzten Satz in die Fluten hinein. 

Staunend sah Dilara ihm zu. Ein paar Sekunden lang war nichts von ihm zu sehen. Dilara begann bereits, sich Sorgen zu machen, da tauchte direkt unter ihr sein Kopf auf.

„Komm endlich, spring rein!", rief er. „Oder willst du warten, bis das Wasser warm ist, Prinzessin?"


Dilara sah entgeistert zu ihm hinab. „Ich kann nicht schwimmen!" Sie musste schreien, um das Brausen des Wassers zu übertönen. Ängstlich beobachtete sie, wie ein Ast von der Strömung davongerissen wurde. Was für eine Geschwindigkeit!

„Was sagst du? Jetzt zieh dich endlich aus! Ich will nicht zusehen, wie du verdurstest!"

Dilara zögerte eine Weile. Aber Le hatte recht. Sie musste dort hinein, wenn sie trinken wollte.

„Sieh wenigstens weg!", murmelte sie. Aber Le war schon wieder untergetaucht.

Es dauerte eine Weile, bis sie das Kleid von ihrem Körper zerren konnte. Schweiß und Schmutz hatten es an ihr festgeklebt wie eine zweite Haut.

Dann setzte sie sich an den Rand des Grabens und rutschte vorsichtig, Stück für Stück weiter nach unten. Als ihr Zeh das Wasser berührte, zuckte sie zurück. Es war eisig kalt! Wie konnte Le dort drinnen schwimmen? Nein, da würde sie niemals hineinspringen! Es musste irgendwie anders gehen. Vielleicht, wenn sie sich umdrehte... sie könnte mit ihren Händen...

In dem Moment zog etwas an ihrem Fuß.

Mit einem Schrei stürzte sie in die Fluten hinein.

Eisige Kälte brach über sie herein. Sie stach wie tausende Messer und brannte wie Feuer. Wasser schwappte in ihr Gesicht und raubte ihr den Atem. Verzweifelt suchte sie mit ihren Armen nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Mit viel Mühe schaffte sie es, ihren Kopf über Wasser zu bringen.

"Das war dringend nötig!", rief Le fröhlich. „Ich habe noch einen Menschen gesehen, der dringender ein..."

Mehr hörte Dilara nicht. Eine kalte Welle schwappte über ihren Kopf und riss sie davon wie den Ast. Panisch schlug sie um sich, doch es half nichts. Egal, wie sehr sie kämpfte, weiter und weiter trieb die Strömung sie davon. „Hilfe!", wollte sie schreien. Aber da war nur Wasser in ihrem Mund.

"Halt dich irgendwo fest!", rief Le ihr zu. Dilara hörte es nicht. Aber selbst, wenn sie ihn verstanden hätte, hätte sie nichts gefunden, woran sie sich hätte festhalten können. Sie wurde herumgewirbelt und ruderte wild mit den Armen. Wann immer ihre Ohren über Wasser über die Oberfläche gerieten, hörte sie, wie sich das Platschen von Les Armen weiter und weiter entfernte. Le mochte öfter geschwommen sein als sie, aber er war kein Kind des Flusslandes. In dieser reißenden Strömung waren auch seine starken Arme nicht so geschickt, wie er geglaubt hatte. Er kämpfte selbst damit, nicht unterzugehen.

Die Strömung sog sie immer tiefer nach unten und wirbelte sie immer wilder herum. Steine und Felsen streiften sie, aber sie bekam keinen davon zu fassen. Sie waren voller glitschiger Algen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie gegen einen von ihnen geschleudert würde. Und dann... Dilara schloss verzweifelt die Augen.

In diesem Moment fühlte es sich so an, als würde von hinten etwas nach ihr greifen. Eine riesige Hand aus dürren, knöchigen Fingern schloss sich um ihre Hüfte, ihren Bauch und schließlich ihre zappelnden Beine. Dilara riss die Augen wieder auf. Im kalten, klaren Wasser konnte sie das schwarze Flimmern neben ihr genau sehen. Es schien sich im Fluss auszubreiten...

Auf einmal fühlte sie, wie sie langsam hochgehoben wurde. Ihre Stirn tauchte über Wasser. Und auch ihre Nase. Schließlich ihr Mund. Sie prustete und japste nach Luft. Eine Minute lang rang sie nur um Atem. Dann begann sie zu schreien.

Sie schrie und schrie und schrie, dass sich jedem friedlichen Waldbewohner die Härchen aufgestellt hätten bei so einem Lärm. Wäre der alte Luan Höhlensohn, den wir alle aus der Geschichte der Nachtigall kennen, damals dabei gewesen, er hätte ihr entsetzt den Mund zugehalten. Zum Glück war die Strömung, die an ihren Schultern und Füßen riss, so laut, dass niemand sie hörte.

Sie stemmte ihre Hände gegen die riesige Hand - und stellte erschrocken fest, dass sie nicht von Haut überspannt wurde. Sie war aus etwas Hartem, Rauen. Knochen. Vor Entsetzen schrie sie noch lauter - nun so laut, dass selbst die Strömung für einen Moment überrascht innegehalten haben musste. Sie hielt erst inne, als sie so erbärmlich fror, dass ihr davon die Zähne klapperten.

Sie fror, weil die Hand sie langsam weiter und weiter aus dem Wasser gehoben hatte. Nur noch ihre Füße wurden von der Strömung umspült. Das Ufer war nur einen Schritt weit weg. Doch die Hand hielt sie so fest, dass sie kaum ihre Arme bewegen konnte. Dilara wagte es nicht, zu ihr herunter zu schauen, aus Angst vor dem, was sie sehen würde. Vorstellungen von riesigen bleichen Knochen spukten in ihr herum. Zitternd und bibbernd presste sie die Augen zu und wartete, was passieren würde. Erst, als sie auf einmal etwas Weiches unter sich spürte, machte sie vorsichtig ein Auge wieder auf. Gras. Sie lag im Gras. Mit ihrer Hand tastete sie nach ihrer Hüfte. Keine Wurzel zu spüren. Die Prinzessin sprang auf. Ängstlich sah sie sich nach allen Seiten um. Würde die Hand gleich von oben nach ihr greifen?

Aber weit und breit war keine Hand zu sehen. Sie fuhr herum, als sie im Fluss ein lautes Glucken hörte. Überrascht starrte sie in das Wasser. Ohne Zweifel. Die Wurzel dort unten hatte sich bewegt! Als würde sie nach getaner Arbeit wieder ihre Position einnehmen, streckte sie ihre Verästelungen im Wasser aus und verharrte dann stumm, als sei nie etwas geschehen.

"Wie bist du da rausgekommen?"

Dilara fuhr wieder herum. Diesmal in die andere Richtung. Sie war erleichtert, als sie Les Schemen zwischen den Schatten der Bäume erkannte. Am liebsten hätte sie ihn umarmt.

"Die... die Wurzel da unten... hat mich rausgehoben", stotterte sie. Ihre Zähne klapperten noch und bis ihr Schock sich legen würde, würde es bestimmt mindestens ein Jahr dauern. Es kam ihr vor wie ein Wunder, dass sie überhaupt ein Wort herausbrachte.

Le zog eine Braue hoch. Er beugte sich über das Wasser und suchte, bis er die riesige Wurzel unter dem Schaum entdeckte. Dann schüttelte er den Kopf. "Unmöglich. Das kann nicht sein."

Dilara zuckte mit den Schultern. "War... aber so."

Le beugte sich noch tiefer über das Wasser. Sein Gesicht wurde nachdenklich. Dilara konnte es nicht sehen. Aber er betrachtete die Wurzel mit zunehmender Faszination.

Schließlich riss er sich los und drehte sich zu ihr um. Einen Moment musterte er sie mit einem Ausdruck, der Dilara auf einmal sehr verschlossen erschien. "Du musst dich geirrt haben. Komm, beweg dich lieber, damit du warm wirst!"

Erst da wurde Dilara klar, dass sie immer noch nackt war. Ihr Gesicht wurde rot wie eine Tomate. Sie sprang hinter einen Baum.

"Ein bisschen mehr Bewegung als ein einzelner Sprung wird da schon nötig sein."

Aber Dilara kam erst hinter ihrem Stamm hervor, als Le sich seufzend umdrehte. Sie hüpfte auf und ab und rannte dreimal um denselben Stamm herum. Viel wärmer wurde ihr allerdings nicht.

"Hast du zumindest getrunken?", fragte Le müde. Zum ersten Mal bemerkte sie, wie erschöpft er eigentlich wirklich war. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab und seine Stimme schwankte beim Reden.

"Ich hab so viel Wasser geschluckt, ich glaube, ich muss nie wieder was trinken", stöhnte Dilara.

"Zumindest bist du sauber. Wenn du dich sehen hättest können, wie dreckig du warst, Prinzesschin, wärst du wahrscheinlich kopfüber in den Fluss gesprungen vor Scham."

"Wir brauchen etwas zu essen", stellte Le nüchtern fest – nachdem sie zurückgerannt waren und ihre Kleider übergezogen hatten. Da ihre Haut noch feucht gewesen war, klebte ihr Kleid mehr denn je an ihrem Körper. Jetzt, wo sie selbst frisch gewaschen und sauber war, kam es ihr auch noch viel schmutziger vor. Hätte sie nicht so gefroren, sie hätte es am liebsten angeekelt liegen lassen.
Dafür fühlte sie sich ein wenig wacher. Nicht so wach, dass sie nicht trotzdem gerne ohne Umstände ins Moos gefallen wäre. Aber das kalte Wasser schien eine belebende Wirkung zu haben. Und ihre Kehle hatte aufgehört zu brennen. Gut, dass hier unten kein Wind ging. Ihre nassen Haare waren noch immer so kalt wie der Fluss selbst.

"Was isst man denn in der Wildnis?", fragte Dilara und sah sich ratlos um. Die grünen Blätter an den Bäumen sahen nicht gerade nahrhaft aus. Und sonst gab es hier ja weit und breit nichts. Außer vielleicht Dunkelheit und die seltsamen Geräusche um sie herum. Aber nicht einmal den größten Weisheitslehrern dürfte es gelungen sein, sich davon zu ernähren.

Woran auch immer Le dachte, es konnte jedenfalls nicht annähernd so satt machen wie das, was sie im Schloss verspeisten. Oder selbst die Äpfel, die Klee und Fink den ganzen Tag über aßen. Aber den Gedanken an die Beiden schob sie lieber schnell wieder beiseite.

"Die Dinge, die nur ein geschultes Auge zwischen den Zweigen erkennt."

Le nahm einen Stein zwischen die Finger. Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er ihn in den Baum hinein. Dilara riss den Mund auf vor Staunen. Vor ihrer Nase krachte ein schwerer Vogel durchs Geäst und fiel zu Boden. Angeekelt sah sie zu ihm hinunter. Wie hatte Le das gemacht?

Le nahm den Vogel an dessen Füßen und hängte ihn an seinen Gürtel. Dilara sah ihm angewidert zu.

"Komm, wir müssen Holz für ein Feuer sammeln und ihn braten."

"Braten?"

Le verdrehte die Augen über ihre Ahnungslosigkeit. Aber er nahm seine Geduld zusammen und zeigte ihr in den nächsten Stunden genau, welches Holz sie für das Feuer verwenden konnten und worauf sie beim Sammeln achten musste (z.B. dass sie nicht aus Versehen in ein Bewerkerl-Nest griff, was immer das sein mochte). Dann zogen sie in den Wald und sammelten trockene Zweige, nie zu weit voneinander entfernt (wobei Dilara dann nur allzu genau erfuhr, was ein Bewerkerl-Nest war und weshalb man sich davor hüten sollte. Ihre Finger waren danach noch tagelang angeschwollen und schmerzten).


Zum besseren Verständnis muss wohl erklärt werden, in was für einem Teil des Waldes die Beiden sich befanden. Befänden sie sich nämlich tiefer, tief im düsteren Eichhornwald, in dem Mavie damals die Höhle fand, in der Luan Löwensohn lebte, bevor die Geschichte der Nachtigall begann, so hätten sie wahrscheinlich keine zwei Minuten überlebt. Nicht einmal die Rebellen, so geschickt und tapfer sie sein mochten, hätten sich dort zurechtgefunden. Doch sie von diesen Gegenden waren sie zum Glück weit entfernt.

Nein, sie waren in einer Gegend unterwegs, die nicht ganz so wild und gefährlich war, wie die Untiefen des Waldes, von denen wir alle gehört haben. Sie bewegten sich an einem relativ friedlichen Rand des Waldes, der zwischen den ersten Felsen der Berge und der großen Mauer in den letzten hundert Jahren entstanden war. Genau genommen war es nicht einmal ein Teil des Waldes, sondern nur ein kleiner Nebenwald vor den hohen Bergen im Westen. Aber dennoch war er – sozusagen – verwandt mit dem Eichhornwald. Und das war so gekommen:

Die Königin mochte mit allen Mitteln versucht haben, den Wald einzuzäunen und unter Kontrolle zu bringen. Sie hatte die Mauern um ihn herum gezogen und mehr als einmal versucht, Brände zu stiften. Während der Zeit ihrer Regierung ließ sie so viele Bäume fällen, wie nur irgendwie möglich. Nicht, weil sie das Holz brauchte, sondern weil sie hoffte, irgendwann den Wald zu vernichten. Auch einige Beschwörungen und Zaubertricks hatte sie getestet.

Doch es lag eine starke, tiefe Magie in dem Eichhornwald. Es war eine ganz andere Form von Magie, als die Hexerei, die die dunkle Königin kannte. Diese Art der Magie war eher eine langatmige Kraft, die man mit allen Zaubertricks nicht bezwingen kann. Eine Kraft, tiefer verwurzelt und höher gewachsen als alle Mauern. Eine lebendige Kraft, die man nicht berechnen, beschreiben oder vorhersehen kann. Die Kraft des Lebens selbst.

Diese Kraft begann ihr Werk nur langsam. Aber über die Jahre hatte sie sich zwischen die Ritzen der Steine geschlichen und durch sie hindurch auf die andere Seite. Dort, wo man einst alle Bäume gefällt hatte, wuchsen sie mit der Zeit größer und wilder als zuvor, immer weiter in Richtung Berge und über diese hinweg fast bis zu ihren Gipfeln.
Dennoch war der Wald hier friedlicher, lichter als auf der anderen Seite der Mauer. Deshalb begegneten Dilara und Le auf ihrer Reise nur einem Schimmer seiner Macht, nur einem Bruchteil von dem, was sich im Wald alles versteckte und verbarg.

Im Bergfußwald, wie man dieses Stück Land in den Bergen zu nennen pflegte, mischten sich verschiedenste Formen von Leben . Einige Tiere waren aus Neugier über die Mauer geklettert oder hatten sich Tunnel unter ihr hindurch gegraben oder waren auf eine Weise aufgetaucht, die sich niemand erklären konnte. Sie hatte sich dort ein neues Territorium erschlossen und festgestellt, dass sie dort in Frieden leben konnten. Andere Tiere waren von den lange Zeit kahl gewesenen Bergen herabgekommen, um sich zwischen die ersten neu wachsenden Bäume zu flüchten.

Viele dieser Wesen hatten nirgends sonst in Endiar überlebt und man fand sie nur noch hier. Im ganzen Land gab es sonst kein Exemplar mehr von ihnen.

Die Wesen aus dem Wald hatten sich mit diesen Bergbewohnern angefreundet, und weil es hier nicht viele Gefahren gab, hatten sie sich einfach unter sie gemischt. Dabei hatten sie mehr und mehr ihre Gewohnheiten angenommen.

So entstand hier ein seltsamer Mix verschiedenster Tierpopulationen, die hier im Verborgenen zusammenlebten.*


Aber wir wollen zurückkehren zu Dilara und Le. Dilara lernte, nach einiger Mühe und vielen Schweißtropfen, wie man ein Feuer machte. „Wenn wir je getrennt werden, musst du eines anzünden können. Dann kann ich dem Rauch folgen", erklärte Le. Aber Dilara bezweifelte, dass sie das alleine schaffen würde. Allein das richtige Holz zu finden war schwierig genug!

Ich erspare Ihnen, verehrte Leserschaft, nun die Einzelheiten, wie der Rebell der Prinzessin zeigte, wie man einen Vogel rupfte, da es für eine zivilisierte Leserschafft nicht unbedingt sonderlich appetitlich wäre, darüber zu lesen. Es könnte Ihnen den gesunden Appetit auf Fleisch rauben. Für Dilara war es ein geradezu abscheulicher Anblick. Sie fasste das tote Tier nur mit spitzen Fingern an. Es kostete sie einige Überwindung, aber Le ließ sie nicht in Ruhe, bis sie ihm angeekelt die Federn ausrupfte und es auf einen Stock spießte, um es über dem Feuer zu drehen und zu wenden.

Als der Vogel fertig gebraten war, riss Le das Fleisch in zwei Hälften und gab Dilara eine davon. Mit einem Schaudern nahm sie es entgegen.

Zögerlich entfernt sie einen widerlich glitschigen Knorpel. Dann zwang sie sich, geschüttelt von Ekel, einen vorsichtigen  Bissen zu nehmen. Sie versuchte wirklich, ihm eine Chance zu geben. Besonders, da sie so Hunger hatte wie noch nie. Aber selbst nach einigen weiteren Bissen war es immer noch das Widerlichste, was sie je in den Mund genommen hatte. Sie hätte das tote Tier am liebsten in die Büsche geschleudert. 

Es ist nämlich ein falscher Mythos, dass Hungrige alles essen, was ihnen zwischen die Finger kommt. Manche Dinge sind selbst dann noch so ekelhaft, dass man lieber gar nichts gegessen hätte – wenn man nicht wüsste, dass man dann verhungern würde.


Als sie fertig waren, wischte sie sich ihre Lippen gründlich an ihrem schmutzigen Kleid ab, damit nur kein Tropfen von dem Fett des Tieres zurückblieb. In ihrem Magen grummelte immer noch der Hunger. Müde stützte sie die Hände auf den Beinen ab und rutschte näher an das Feuer heran. 

Wurden diese Haare denn nie trocken? Immerhin hatte das Wasser das Pechsud aus ihnen herausgewaschen. Die trockenen Strähnen schimmerten in ihrem alten Blond. Dilara musste sich eingestehen, dass sie erleichtert darüber war. Wie lange es wohl dauern würde, bis sie ihre alte Länge erreichten? Ihre veränderten Haare erinnerten sie schmerzhaft daran, dass sie nun eine Andere war...

"Wir müssen Laub zusammenschaufeln und darunter kriechen", sagte Le. "Für einen Unterschlupf reicht das Licht nicht mehr. Aber ich denke, heute Nacht sollten wir es riskieren, das Feuer brennen zu lassen." Damit war Dilara mehr als nur einverstanden. Im Moment wäre es ihr auch egal, wenn sie deshalb jemand finden würde. Diese Kälte hielte sie nicht aus. Sie sank auf den Boden. Nicht einmal die Kraft zum Gähnen hatte sie mehr. Wenn sie nur endlich schlafen könnte! 

Le schien zu sehen, dass sie keine Kraft mehr übrig hatte. Denn, obwohl es ihm selbst ähnlich ging, schaufelte er einen Haufen trockene Blätter über ihren erschöpften Körper, bevor er sich seinen eigenen Haufen machte, in den er sich müde fallen ließ.


Der Boden unter Dilara war hart, voller Wurzeln und Stacheln. Kaum hatte sie zwei Stunden geschlafen, wachte sie wieder auf. Die Schwärze um sie herum war fürchterlich dunkel. Ein unheimliches Knacken über ihr ließ sie zusammenzucken. Obwohl ihr Rücken fürchterlich schmerzte, wagte sie es nicht, sich zur Seite zu drehen. Zu laut erschien ihr das Rascheln der Blätter in der Stille der Nacht. Wenn es nur wenigstens nicht so eisig kalt wäre! Wie gerne wäre sie näher an das Feuer herangerückt - das nur noch halb so stark brannte wie am Abend zuvor. Aber sie wollte sich lieber nicht bewegen. Selbst ihr Atem schien ihr schrecklich laut zu sein...

Nach einer halben Stunde, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, schlief Dilara wieder ein. Die Flucht forderte nun nach all den Tagen ihren Preis von ihrem Körper ein. Verkrampft und fröstelnd, aber in tiefen Träumen versunken, schlief sie bis in die späten Morgenstunden. Auch Le neben ihr wachte nicht eher auf.

So verliefen ihr erster Tag und ihre erste Nacht in der Wildnis.


Die Wildnis. Dass sie sich nun in der Wildnis befanden, das realisierte Dilara erst so wirklich, als ihr Verstand langsam wieder wach wurde. Ein Strahl helles Morgenlicht drang durch das Geäst zu ihr hinab und blinzelte ihr freundlich ins Gesicht. Mehr als zuvor in der Nacht schmerzte ihr Körper. Die Wurzel unter ihr schien sich geradezu in ihre Rippen hineinzubohren. Mit einem Stöhnen drehte sie sich auf die andere Seite. Ihre Zehen und Finger fühlten sich an, als wären sie vor Kälte abgestorben. Sie fühlte sich überhaupt nicht gut. Schwach und krank, als hätte das Schlafen sie mehr erschöpft als ausgeruht.

Als sie ihre Augen öffnete, erblickte sie nichts als Grün um sich herum. Ein ganzes Dach aus grünen Blättern und Ästen (an denen auch schon einige Blätter eine gelbe Färbung annahmen) spannte sich über ihr auf. Auch das Licht, das auf den Waldboden herableuchtete, war grünlich. Gestern war es viel zu finster gewesen, um etwas zu erkennen. Aber nun hatte sie die Gelegenheit, alles genau zu betrachten. Fasziniert ließ sie ihren Blick von der einen Seite zur anderen wandern, von unten nach oben – von den Pilzen, die unter einer Wurzel versteckt wuchsen bis hin zu dem buschigen Nagetier, das den Stamm hinaufkletterte. Dilara erkannte, dass es ein Fellhörnchen sein musste, denn sie hatte schon viel über Nagetiere gelesen. Gesehen hatte sie allerdings noch nie eines. Wie es sich bewegte! Mit winzig kleinen Schrittchen, immer wieder innehaltend, um seinen langen Hals nach allen Seiten zu drehen und sich mit seinen glänzenden Äugchen umzusehen. Was es wohl suchte?

Ein Geräusch, eine Art leises Stöhnen neben ihr, ließ sie auffahren. Le. Er schlug die Augen auf, erhob sich und wischte die Blätter von seinem Körper. Widerwillig machte es Dilara ihm nach. Da standen sie, mitten im Wald, beide verfroren und steif. 

Le meinte, dass sie ein weiteres Bad im Fluss nehmen sollten. „Das hilft. Und außerdem wird es ein wenig dauern, bis wir zum nächsten Mal etwas zu trinken bekommen."

Obwohl Dilara glaubte, dass sie vor Kälte sterben würde, wenn sie in ihrem verfrorenen Zustand in das Wasser sprang, war das Trinken abermals das stärkere Argument.

Und tatsächlich half es. Das Wasser wusch die Müdigkeit von ihnen ab. Nach einigen Minuten Herumrennen am Ufer, wo das Sonnenlicht sich ungehindert seinen Weg durch das Blätterdach bahnen konnte, wurde ihnen so warm wie seit Tagen nicht mehr. Mit dem Magen voller frischem Bergwasser (es war nämlich einer der wenigen, klaren Bergflüsse Endiars, deren Flusslauf durch den Wald führte) zogen sie weiter.


Dilara konnte kaum drei Schritte weit gehen, ohne etwas Neues kennenzulernen: Ein Tier mit dickem Schwanz und gelblichem Fell, das seinen Kopf zwischen den Sträuchern hervorschob, Gräser mit seltsamen, verzwirbelten Samen, Federn eines Vogels, fast so groß wie sie... Es war eine unbekannte Gegend, voller Steine, Äste, Blätter, Wurzeln, Pflanzen und Lebewesen, durch die man sich mit Händen und Füßen hindurchkämpfen musste. Wie konnte Le bei all diesen Bäumen eigentlich wissen, wohin sie gingen? Hier sah es doch überall gleich aus!

Den ganzen Vormittag lang konnte Dilara kaum den Blick abwenden von den vielen Vögeln und Nagern und Pflanzen auf dem Boden. Hin und wieder musste Le stehen bleiben, um auf sie zu warten und sie dann zur Eile zu treiben. 

Aber dann wurde es Mittag. Der Hunger kehrte langsam zurück und die Schatten das Waldes vertilgten das freundliche Sonnenlicht. Es war, als würde der Wald sich zwischen den zunehmenden Schatten langsam verwandeln - in eine bedrohliche und feindselige Gegend.

Von oben, auf der Mauer, hatten die Bäume den ganzen Tag über freundlich und grün ausgesehen. Hier unten verschleierten sie nun mehr und mehr den Himmel und raubten der Erde alles Licht.

Dilaras Staunen über ihre Umgebung wurde abgelöst vom Versinken in einer ungewohnten, drückenden Stille. Vom schweren Schweigen der Bäume, dem Rascheln der Blätter am Boden und den Schreien der Vögel, begleitet durch den Rhythmus ihrer Schritte und dem regelmäßigen Stolpern über Wurzeln.

Mit jedem Schritt wanderten Dilaras Gedanken weiter in die Ferne. Manche von ihnen reisten zurück zur Stadt, zu Fink und zu Klee, zum Schloss und zu ihrer Mutter. In den letzten Tagen war Dilara immerzu geflohen oder hatte auf irgendeine Weise um ihr Leben gekämpft. Sie hatte nie wirklich Zeit gehabt zum Nachdenken. Nun fragte sie sich zum ersten Mal, was dort wohl vor sich ging. Würde der Rat eine Sitzung halten wegen ihrem Verschwinden? Was würden die Ratsherren sagen? ‚Verräterin!', riefen sie in ihrem Kopf. ‚Sie hat uns alle verraten! Mit den Rebellen hat sie sich verbündet!'

Doch dann kam ihr Cyrian in den Sinn und was für ein Gesicht er wohl gemacht hatte, als er festgestellt hatte, dass sein Karrieresprung nun ins Leere gehen würde. Die Vorstellung heiterte sie ein wenig auf.

Andere ihrer Gedanken wanderten wiederum nach vorne. Zum ersten Mal wurde ihr wirklich klar, was sie eigentlich getan hatte. Sie hatte ihre gesamte Zukunft aufgegeben. Sie würde niemals auf einem Thron sitzen, niemals Cyrian heiraten, niemals das Land regieren. ‚Das hätte mir sowieso niemand zugetraut', dachte sie bitter. ‚Wahrscheinlich sind sie froh, mich loszuhaben. Dann kann ich zumindest nicht das Land in ein Unglück stürzen. Wer wohl statt meiner regieren wird, wenn...?' Wenn ihre Mutter starb. Der Gedanke an ihre Mutter warf weitere Fragen in ihr auf. Sie dachte an all die Geheimnisse zurück, all die Lügen, von denen sie erst kurz vor ihrem Aufbruch Wind bekommen hatte. An all die ungelösten Rätsel und Ungereimtheiten. Sie hatte immer gewusst, dass sie ihre Mutter nicht besonders gut kannte. Aber nun wurde ihr bewusst, wie wenig sie sie eigentlich wirklich gekannt hatte.

Doch wen interessierten all diese Fragen noch? Sie war ja nun keine Prinzessin mehr. Sie hatte das alles aufgegeben, um einen Rebellen zu retten. Wegen einem einzigen Rebellen!

‚Aber habe ich das wirklich wegen Le getan?', fragte sie sich stumm. Nein. Nein, sie hatte das nicht nur wegen Le getan. Sie hatte es getan, weil sie nie eine Prinzessin hatte sein wollen. Weil sie die Lügen und die Heuchelei satt gehabt hatte. Genau wie die Einsamkeit der mamornen Mauern, die sie ihr Leben lang umgeben hatten. Sie war geflohen, weil Le ihr gezeigt hatte, dass es da draußen noch ein anderes Leben gab. Eines, das nach Freiheit schmeckte. Er hatte ihr die Augen geöffnet und gezeigt, dass nichts von dem, was man ihr beigebracht hatte, richtig gewesen war. Deshalb war sie davon gelaufen. Weil sich in Le die einzige Tür nach draußen, die einzige Chance auf ein neues Leben aufgetan hatte.

Diese Erkenntnis schlich sich durch die Stille in ihr Bewusstsein. Doch es fiel ihr schwer, ihr in die Augen zu sehen. Denn das machte sie wirklich zu einer Verräterin.

‚Es ist seltsam', dachte die Prinzessin. ‚Ich war so lange Zeit allein. Und jetzt hänge ich jede Sekunde des Tages an jemand anderem. Das ist wahnsinnig anstrengend. Aber trotzdem – es fühlt sich an, wie das, was mir mein Leben lang gefehlt hat. Ich wünschte nur, Fink und Klee wären mit uns gekommen...'

Schnell drängte sie den Gedanken wieder beiseite, bevor sich die schwere Sorge und die Schuldgefühle in ihr breit machen konnten. Stattdessen fragte sie sich, was jetzt aus ihr werden sollte. Was genau war eigentlich ihr Ziel? Sie wanderten zum Lager der Rebellen. Doch was dann? Sollte sie sich ihnen anschließen? Wie konnte sie das tun, wenn sie ihre Ziele für schlecht hielt? Aber was blieb ihr anderes übrig?

Hielt sie ihre Ziele denn für schlecht?

Dilara seufzte. Sie wusste mit jedem Tag weniger, wie sie über die Welt denken sollte. Was nicht schlimm gewesen war, solange sie noch keine Zeit zum Denken gehabt hatte. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie sich umsah. Aber sie wünschte sich sofort, sie hätte es nicht getan. Die Schatten um sie herum hatten sich weiter ausgebreitet. Viele von ihnen sahen aus wie wilde Tiere. Die Wurzeln, die aus dem Boden ragten, hatten seltsame Formen und die Äste wirkten bedrohlich. Le, der neben ihr ging, richtete seinen Blick starr nach vorne.

„Kannst du... mir etwas erzählen?", fragte Dilara ihn zögerlich. Sie hatten mehr zusammen durchgestanden, als selbst die meisten Geschwister in ihrem ganzen Leben. Dennoch hatte sie den Eindruck, ihn kaum zu kennen. Was wusste sie eigentlich von ihrem Reisebegleiter? Nur, dass er ein überzeugter Rebell war, gut klettern konnte und an nicht an die Götter glaubte. Und dass ihm das Leben in der ständigen Gefahr mehr zusetzte, als seine gefasste Miene erahnen ließ.

Seit der Nacht im Kerker hatten sie nicht mehr so wirklich miteinander geredet.

Der Rebell sah überrascht auf. Auch seine Gedanken waren weit weg gewandert in den letzten Stunden. Aber als er sich zu ihr umsah, weichte sein Ausdruck ein wenig auf. Er verstand nur zu gut, weshalb sie fragte.

„Was denn erzählen, Prinzessin?"

Dilara zuckte mit den Schultern.

„Irgendwas aus deinem Leben. Oder eine Geschichte. Am Besten etwas über die Rebellen."

„Wieso sollte ich? Du könntest uns immer noch an irgendwelche Wachen verraten."

„Du schleppst mich zu eurem Lager und erwartest, dass ich mich damit abfinde, dass ich in nächster Zeit dort leben werde. Meinst du nicht, es wird langsam Zeit, dass du mir ein paar Dinge über euch verrätst?"

„Na gut. Das klingt fair", antwortete er zu ihrem Erstaunen. Seine Lippen sahen beinahe nach einem Lächeln aus. „Aber nur, wenn du mir dann auch etwas erzählst." 

"Wenn du unbedingt willst... Obwohl es da echt nicht viel Spannendes gibt, was ich dir erzählen könnte."

"Bist du verrückt? Du bist die Prinzessin des Landes!" Le sah sie an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank.

"Das Leben als Prinzessin ist nicht halb so interessant, wie das von einem Rebellen."

"Woher willst du das wissen?"

"Von dir weiß ich zumindest, dass du über Dächer gerannt bist und in Schlosskerker einbrachst, während ich in Ratssitzungen sitzen musste."

"Darf ich dich daran erinnern, dass du auch in den Schlosskerker eingebrochen bist?"

"Das war eine Ausnahme."

"Aber du kannst mir nicht erzählen, dass das Schloss nicht interessant ist. Es ist so riesig, dass man bestimmt nach Jahren noch nicht jeden Winkel kennt!"

"Ich kenne längst jeden Winkel."

"Wirklich? Kannst du mir erzählen, was im Keller noch alles ist?"

"Wieso sollte ich? Du könntest mich immer noch an die Rebellen verraten! Außerdem wolltest du doch zuerst erzählen."

Dilara wollte nicht zugeben, dass sie gelogen hatte. Sie kannte lange nicht jeden Winkel. Sie kannte jeden Winkel von den Orten, die sie betreten durfte, das stimmte. Aber der Kerker und die Gemächer ihrer Mutter waren von Anfang an immer Tabu gewesen.

"Gut, du hast gewonnen. Du hast meine Taktik durchschaut, mich mit meinen Waffen geschlagen und gewonnen. Das Diskutieren, die edle Kunst des wörtlichen Degengefechts, scheint man dir gut beigebracht zu haben..."

"Wenn du nicht gleich aufhörst, mich ablenken zu wollen, dann ist mein wörtliches Degenfechten bald dein geringstes Problem."

"Was willst du denn hören, oh Ungnädige?"

"Erzähl mir... wie die Rebellen entstanden sind und wie du zu ihnen gekommen bist."

Dilara wusste, dass es schlauer gewesen wäre, möglichst viel über das Leben der Rebellen zu erfragen. Dann könnte sie sich darauf einstellen, bevor sie bei ihnen ankamen. Aber sie hatte schon immer wissen wollen, wie es zu der Gründung dieser ominösen Organisation gekommen war - diesen geheimnisvollen Feinden, mit denen sie sich so oft beschäftigen mussten. So viel sie über die Geschichte Endiars auch gelernt hatte, diesen Teil hatte ihr niemand erklären können. 

Noch neugieriger war sie darauf, mehr über ihren Reisekompagnon zu erfahren. 'Man lernt nie mehr über einen Menschen, als wenn man seine Geschichte kennt', hatte Halim einmal gesagt. 'Wenn man weiß, wie er zu dem wurde, was er ist.'

Le seufzte erleichtert auf. "Dies, oh verehrte Prinzessin, ist eine Geschichte, die ich Euch ohne Verzögerungen in Form von weiterer Zeitschinderei erzählen werde."

Dilara zog eine Augenbraue hoch. "Wirklich?"

"Was passiert ist, kann eh niemand mehr ändern. Nicht einmal deine gütige Frau Mutter und ihre freundlichen Reiter."

Eine Sekunde lang sah Le sie zweifelnd von der Seite an. "Oder etwa doch?"

Dilara schüttelte den Kopf. "Nicht dass ich wüsste." Nicht, dass sie überhaupt etwas wüsste über ihre Mutter... "Dann würdet ihr wahrscheinlich gar nicht mehr existieren."

"Klingt vernünftig. Also, die Geschichte, wie die Rebellion begann... das ist eigentlich keine besondere Geschichte. Die Menschen in den Bergen waren schon immer die wildesten in ganz Endiar. Die, die am lautesten feiern, am verrücktesten Tanzen, am betrunkensten singen und am heftigsten streiten konnten. Als deine Mutter an die Macht kam und begann, alle Teile des Landes zu unterdrücken, feierte, tanzte, trank und sang nach kurzer Zeit niemand mehr zwischen den großen Tälern. Aber die Fähigkeit zu streiten, all unsere Wut, die ist uns geblieben. Und die wuchs von Tag zu Tag mehr. Während alle anderen Teile des Landes sich unterordneten und schwiegen, als bliebe ihnen sonst nichts anderes übrig, wuchs in den Bergen heimlich der Zorn des Volkes heran. Besonders in einem Dorf. Dieses Dorf wurde von Ratten überfallen, die sich dort überall ausbreiteten, weshalb dort nachts keine Reiter schliefen. Sie wollten die Tiere nicht in ihr Gepäck kriechen sehen. Deshalb nennt man es heute das Rattendorf - der Geburtsort der Rebellion."

Ratten, ja, das war ein gutes Symbol für die Rebellen. Wie Ratten aus ihren Löchern waren sie im Land aus dem Boden gekrochen und hatten auf einmal überall Unruhe verbreitet...

Dilara hatte viel von Le erwartet - aber nicht, dass er ein guter Geschichtenerzähler wäre. Doch seine Worte formten lebendige Bilder in ihrem Kopf und seine Worte malten exakter als die ihres Lehrers. Mit Staunen lauschte sie seinen Schilderungen.

"Und als sich das herumsprach, wurde es dort nachts im Wirtshaus immer lauter - lauter als jede Feier, die je in den Bergen stattgefunden hat. Die Mutigsten und die Verzweifelten aus allen Siedlungen der Umgebung kamen dort zusammen, betranken ihren Schmerz und murrten über die Königin. Zu dieser Zeit gab es dort aber einen Fremdling in Rattendorf. Während alle um ihn herum brüllten und tobten, saß er stumm in der Ecke und trank einsam sein Glas Felsenschaum. Schon daran, dass er bei jedem Schluck das Gesicht verzog, erkannten alle in der Kneipe, dass er nicht aus der Gegend sein konnte. Aber auch seine hagere, schmächtige Statur und die Kapuze, die er immer tief ins Gesicht gezogen hatte, verrieten ihn. Man tuschelte viel über ihn, doch niemand hatte ihn ansprechen wollen. Nacht um Nacht sagte er nichts zu dem Gebrüll der Menschen. Deswegen war man um so überraschter, als er eines Nachts plötzlich aufstand. Sofort verstummte es im Wirtshaus und alle sahen zu ihm hinüber. Oder hinauf, wenn man es realistisch erzählen will. Denn die Menschen aus den Bergen sind nicht das größte unter den Völkern Endiars. Wahrscheinlich, weil sie früher zu viel Zeit mit den Zwergen verbrachten."

"Zwerge?", unterbrach Dilara. 

"Die Zwerge, die früher im Bergland lebten. Hast du noch nie von ihnen gehört? Sie lebten da ziemlich lang..."

Dilara setzte eine ungläubige Miene auf. Doch es war zu schattig, als das Le sie hätte bemerken können. 

Er glaubte wirklich, dass es einmal Zwerge in Endiar gab? Was für ein naives Volksmärchen!

"Jeden Falls brachte ihm das die volle Aufmerksamkeit der Menschen, als er unerwartet seine Stimme erhob. Er sagte nicht viel. Nur einen einzigen Satz. 'Wenn ihr so wütend seid - warum tut ihr nicht einfach etwas gegen die Königin?' Dann stand er auf und ging. Von da an sah man ihn nie wieder dort. Vermutlich hatte er genug gehabt vom sinnlosen Gebrüll der Bergleute. Die schwiegen einen Moment lang. Aber es dauerte nicht lange, bis das Geschrei wieder losging. 'Was bildet er sich eigentlich ein?' 'Was sollen wir denn gegen diese Hexe tun?' 'Er hat keine Ahnung, wie mächtig diese Frau ist! Jeden Tag schänden sie uns in den Mienen! Meint er, wir hätten nicht versucht, uns zu wehren?' 'Der hat leicht reden!'"

"Hexe?" Dilara blieb vor Empörung stehen. "Wie wagen sie es, von der Königin zu sprechen!"

Le ließ sich nicht beirren. Ohne auf ihren Kommentar einzugehen, erzählte er weiter. Dilara hastete hinter ihm her, um ihn wieder einzuholen. Beleidigt hin oder her, sie wollte kein Wort dieser Geschichte verpassen.

"Doch nachdem sie sich beruhigt hatten, begannen die Menschen, über das nachzudenken, was er gesagt hatte. Und in der Kneipe von Rattendorf wurde es Nacht für Nacht leiser. 'Vielleicht könnten wir wirklich etwas gegen diese Hexe tun', murmelte man, wenn der Alkohol einen mutiger machte als man eigentlich war. Und dann begannen sie, Ideen in die Runde zu werfen und Pläne zu schmieden. Natürlich nur theoretische Pläne. Niemand dachte daran, sie tatsächlich umzusetzen. Aber es machte Spaß, darüber nachzudenken, wie man sich an den grauenhaften Reitern rächen könnte. 'Wir könnten ihre Pferde in den Abgrund jagen!', schlugen sie vor. Oder: 'Was, wenn wir eine der Mienen einfach in die Luft jagen würden?' Die Rebellion von Rattendorf nannten sie sich spaßeshalber. Aber es waren alles einfache Dorfleute. Niemand von ihnen hatte wirklich das Zeug zu einem Rebellen. Sie waren unvorsichtig, hatten nicht mit den Vögeln der Königin gerechnet. So kam es, dass die Königin, deine Mutter, den Begriff 'Rebellion' aufschnappte. Sofort sandte sie ganze Trupps von Reitern nach Rattendorf.  Dieser Ereignis nennt man in den Bergen seither den 'Anschlag der Schauerschlucht'. Denn durch einen glücklichen Zufall erfuhr der Sohn des Bürgermeisters von Rattendorf von dem Anmarsch der Soldaten - und dem Grund für den Anmarsch. Er rannte und rannte, bis er zum Haus seines Vaters kam, und berichtete den Rattendorfern von der Armee. Alle versammelten sich um den Bürgermeister, auch die Männer aus den Nachbardörfern, die an den Trinkgelagen beteiligt gewesen waren - denn sie fürchteten, dass man auch sie aufspüren würde. 'Sie werden versuchen, uns auszurotten!' 'Sie werden keinen einzigen übrig lassen!' 'Was sollen wir tun?' 'Hört mir zu, Männer!', rief der Bürgermeister in die Menge hinein. Als nach einer ganze Weile endlich alle schwiegen, fuhr er fort: 'Ihr habt recht. Sie werden keinen von uns übrig lassen. Und genau deshalb ist jetzt die Zeit, uns zu wehren. Wir haben nun nichts mehr zu verlieren. Es wird Zeit, all die Pläne in die Tat umzusetzen, über die wir in den letzten Monaten geredet haben.  Wenn wir unsere Kräfte vereinen und jetzt klug handeln, dann haben wir vielleicht eine Chance gegen sie. Sie mögen in der Überzahl sein und bessere Waffen haben. Aber wir kennen das Gelände. Sie sind nicht von hier. Uns mögen sie besiegen - aber die Berge können auch tausende von ihnen nicht besiegen. Sie wollen eine Rebellion vernichten? Dann lasst uns ihnen eine Rebellion bieten! Aber eine, die poltert wie ein Steinschlag am Hang!" Die Menschen schrien und brüllten zustimmend von allen Seiten. Neuer Mut war aus ihrer Verzweiflung erwachsen. Sie machten sich grimmig ans Werk. Nun war es von Vorteil, dass sie so lange vorher Pläne geschmiedet hatten. Denn an Ideen mangelte es niemandem. Manche hatten sogar heimlich lange Seile gemacht oder Steinschleudern gebaut in ihren Schuppen - in der Hoffnung, dass irgendwann jemand tatsächlich einmal handeln würde. Nun holten sie sie hervor und brachten sie in Position. Über vierhundert Mann versteckten sich an jenem Tag in den Bergen und Hügeln ringsum. Die Frauen und Kinder schickten sie in die Berge hinauf, um sich zu verstecken. Als die Reiter der Königin Rattendorf erreichten, fanden sie es völlig ausgestorben. Und die ganze Umgebung ebenfalls. Doch ehe sie sich darüber Gedanken machen konnten, hagelte es Steine von den Bergen herab. Ihre Pferde stolperten über Seile, fielen in Gruben hinein. Seile wickelten sich um sie und zogen sie in die Schauerschlucht hinab. Man hatte den ganzen Boden unter ihnen mit lockeren Steinen bedeckt und zur Tarnung Zweige darüber gelegt. Diese Steine brachten die Bergleute jetzt ins Rollen. Viele stürzten auf die Schlucht zu und in sie hinein. Drei Mienen explodierten und verschütteten den Überlebenden den Rückweg. Die Rattendorfer holten ihr wichtigstes Hab und Gut aus den Häusern. Dort stand sie eine Weile lang tatenlos herum. Bis ihnen allen klar wurde, was sie getan hatten. Viele, die nicht aus Rattendorf waren, kehrten heimlich zurück in ihre Dörfer. Aber die Rattendorfer wussten, dass sie sich nirgends mehr in Endiar zeigen konnten. Schon bald würden größere Truppen Jagd auf sie machen, die besser vorbereitet wären. Sie würden fortan Gejagte sein. Bis zu dem Tag, wo die Herrschaft der Königin beendet würde. Niedergeschlagen und ohne viel übrige Hoffnung flohen sie in die Berge zu dem Versteck ihrer Frauen. Eine ganze Weile lang wanderten sie umher, mit eingezogenen Köpfen und ständig auf der Hut, auf der Suche nach einem Versteck vor den Reitern. Sie fanden einen Wald, verborgen von zwei Gipfeln, in dem sie schließlich ihr Lager aufschlugen, in der Hoffnung, dort sicher zu sein. Eine Weile lang war das auch so. Sie lebten in Frieden, bauten sich ein neues Leben auf. Mehr noch: Im ganzen Bergland hatte sich die Geschichte von der Schlacht an der Schauerschlucht und den Helden aus Rattendorf herumgesprochen. Und weil die Unterdrückung in dieser Zeit immer schlimmer wurde, strömten auf einmal junge Leute aus den Bergen zum Lager der Rattendorfer. Sie glaubten, sich dort einem Kampf gegen die Königin anschließen zu können, der tatsächlich Aussicht auf Erfolg hätte. Man könnte meinen, dass die Rattendorfer sie nun über ihren Irrtum aufgeklärt hatten. Aber sie waren zum großen Teil Feiglinge. Sie dachten sich: falls es tatsächlich noch einmal zu einem Kampf kommt, können uns diese jungen Männer bestimmt besser beschützen als wir selber. Und tatsächlich taten die Hinzukömmlinge viel für das Lager. Sie wählten unter ihnen Spione aus, die überall im Bergland und schließlich auch in der Stadt Ausschau hielten, ob wieder Reiter in das Bergland marschierten. Sie stellten nachts Wachen auf. Wenn neue Menschen dazukamen, überprüften sie, ob es Spione waren oder ob sie tauglich genug waren. In den Dörfern verbreiteten sie gezielt Lügen über das Lager, damit es nicht so leicht aufzufinden sein würde. Und als tatsächlich wieder Wachen kamen, stellten sie ihnen überall Fallen, sodass sie gar nicht erst in die Nähe des Lagers kamen. Sie schickten Männer los, die im ganzen Gebirge nach guten Verstecken suchten, in die sie ausweichen könnten, sollte das Lager auffliegen. Sie gaben den Rattendorfern das Gefühl, mutige Helden zu sein und respektierten die Anweisungen des Bürgermeisters. 

Aber irgendwann kamen sie auf die Idee, aktiver zu werden. Sie wollten wirklich kämpfen gegen die Königin, nicht nur sich oder das Lager schützen. Sie schmiedeten Angriffspläne für gewiefte Attacken auf die Stützpunkte der Königin. Als die Rattendorfer merkten, dass sie ihre Vorhaben tatsächlich in die Tat umsetzten und auch Erfolg damit hatten, wurde ihnen die Sache zu heiß. Sie hielten heimlich Rat. 'Wenn diese jungen Männer so weitermachen, ziehen sie den Blick des ganzen Landes auf uns!' 'Wir haben zu hart für unsere Sicherheit gekämpft, um sie jetzt so aufs Spiel zu setzen!' 'Wir müssen sie los werden, ehe sie noch Schlimmeres über uns bringen!' Der Sohn des Bürgermeisters aber, der inzwischen schon 16 Jahre alt war, war ein großer Bewunderer der jungen Rebellen. Er hatte die Ratssitzung belauscht und warnte die jungen Rebellen. Diese berieten nun ihrerseits. 'Sie haben uns die ganze Zeit belogen!' 'Was wird nun aus der Rebellion, der wir uns anschließen wollten?' 'Sollen wir jetzt einfach wieder aufhören? Wo wir schon so viel geschafft haben?' 'Aber wie sollen wir weitermachen? Wir sind nur vierzig Mann. Als wir hierherkamen, dachten wir, dass wir zumindest 300 Mann seien. Was soll man mit vierzig Mann schon groß anfangen?' 'Ich habe nicht meine Familie verlassen, um jetzt einfach aufzugeben!' Sie berieten die halbe Nacht hindurch. Als sie ihre Enttäuschung überwunden hatten, kam ihnen eine kluge Idee. 'Wenn wir ihre Kinder auf unsere Seite ziehen können... dann haben wir vielleicht eine Chance', schlug einer von ihnen vor. Der Sohn des Bürgermeisters war sofort Feuer und Flamme. Er weckte alle Kinder aus seinem Dorf und redete ihnen ein, sich auf die Seite der Rebellen zu stellen. Als die Rattendorfer am nächsten Tag über die Männer herfallen wollten, fanden sie all ihre Kinder bei ihnen im Zelt versammelt. Sie hielten inne. 'Was habt ihr mit unseren Söhnen zu schaffen!', riefen sie empört. 'Wir werden das Lager verlassen', erklärten die Rebellen. 'Ihr seid keine Kämpfer, ihr seid Feiglinge, die sich in ihrem Loch verkriechen und untätig herumsitzen. Wir werden unser eigenes Lager aufbauen, mit allen, die wirklich für Gerechtigkeit einstehen wollen!' 'Dann geht, aber lasst unsere Kinder in Ruhe!' Da stand der Sohn des Bürgermeisters auf und sagte laut: 'Wir wollen aber für Gerechtigkeit einstehen! Die ganze Zeit redet ihr darüber, dass man kämpfen muss! Wir wollen wirklich kämpfen!' Und alle anderen Kinder standen ebenfalls auf und riefen 'Wir kommen mit! Wir kommen mit!' Da hatten die Rattendorfer keine andere Wahl als einen Pakt mit den Rebellen abzuschließen: Sie einigten sich darauf, zusammen in einem Lager zu leben. Das Lager sollte die Heimat der Rebellion sein und dazu dienen, gegen die Königin zu kämpfen. Aber die Rattendorfer würden sich nicht daran beteiligen. Sie sollten sich um Nahrung, Kleidung und das Schmieden von Waffen kümmern, während die Rebellen Pläne machten, neue Kämpfer ausbildeten und Angriffe starteten. Wer sich von den Kindern der Rattendorfer dem Kampf widmen wollte, den würde man nicht hindern. Aber man würde alles für die Sicherheit des Lagers tun. Heimat der Gerechtigkeit nannten sie das Lager von diesem Tag an. Und Gipfel der Freiheit den Berg, auf dem es lag. 

Siehst du, so hat sich deine Mutter ihre Rebellion selbst erschaffen. Wenn sie nicht geglaubt hätte, es gäbe eine Rebellion, wäre auch nie eine entstanden. Das ist bis heute unser größter Triumph."

Dilara schwieg eine Weile. Was für ein barbarischer Anfang!, dachte sie. Le mochte die Rebellen für mutig und gerissen halten. Aber sie waren nichts als grausam und unzivilisiert. Sie hatten nicht nur einen ganzen Trupp Wachen in den Tod gestürzt, um dann ihren eigenen Mut zu feiern wie Helden, sie hatten sogar versucht, ihre eigenen Leute umzubringen! 

Langsam wurde ihr bewusst, wie dumm die Idee, sich ihnen anzuschließen, wirklich gewesen war. Wenn sie jeden Hinzukömmling überprüften, ob er ein Spion ihrer Mutter war - was würden sie dann erst mit einer Prinzessin anstellen? In welche Fallen würden sie sie locken? Oder würden sie vielleicht sogar schlimmere Dinge mit ihr machen? Wie konnte sie aus dieser Nummer nur wieder herauskommen? Wenn sie nur einen besseren Plan hätte...

"Und... wie bist du zu den Rebellen gekommen?", fragte sie - in der Hoffnung, dass diese Geschichte nicht ganz so grauenhaft werden würde. 



*Entnommen aus den Schriften des Tierforschers und Expediteurs Mur Anun aus Übersee, der zwischen den Jahren 7 und 11 des neuen Zeitalters in Endiar forschte und seinerseits alte Schriften sammelte, um die Beobachtungen der Bevölkerung zu studieren. Trotz seines zweifelhaften Charakters, seines unzweifelhaft egoistischen Anliegens und seinem Hang dazu, seine Person hinter Lügen zu verschleiern, "um neutrale Ergebnisse zu erhalten" (wobei er in seinen Geschichten meist ein fremder Fürst oder König gewesen sein soll), zeichnen sich seine Studien und Beobachtungen zumeist einer überraschenden Exaktheit aus und gelten allgemein als vertrauenswürdig.

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