Dilara - Die Rebellen
Nach einer langen Schreibblockade in der Größe der chinesischen Mauer (+ einendhalb zähweilige Bachelorarbeiten später) starte ich nun erneut den Versuch, dieses Buch zuende zu schreiben. Ich hoffe, das ist jetzt der letzte Versuch! An diesem Teil der Geschichte knabbere ich ja jetzt echt schon ewig.
Naja, viel Spaß beim Lesen! Und danke an alle, die sich die ganzen verschiedenen Versionen dieser Kapitel durchgelesen haben, die ich schon veröffentlicht hatte :D Ganz besonders auch an gewisse Menschen da draußen, die mich durch ihre Kommentare ermutigt haben... ;)
"Du bist ein Rebell!", flüsterte Dilara. "Kannst du nicht irgendwie das Seil durchsäbeln oder dem Wächter den Schlüssel aus der Tasche angeln oder so?"
"Mein Messer haben sie mir abgenommen. Aber wenn du irgendwas dabei hast, mit dem wir den Schlüssel angeln können, dann immer her damit!"
"Mist..."
Dilara wünschte sich, sie könnte wenigstens ihre Hand bewegen, die hinter ihr eingeklemmt war. Wahrscheinlich mit Absicht. Le hatten sie gefesselt.
"Wenn wir wenigstens noch die Medizin hätten", murmelte Le. "Zum Felsenknirscher! Es war aller umsonst..."
Ihre Zunge war trocken und schwer und alle zwei Minuten hatte sie einen Hustenanfall. Le hatte recht. Lange würde sie hier oben nicht durchhalten.
Sie waren schon oft in Gefahr gewesen. Seit mehreren Wochen waren sie nun schon Gejagte. Aber in keiner anderen Gefahr hatte sie Zeit gehabt, darüber nachzudenken, dass sie sterben konnte. Jetzt wurde ihr mit stechender Klarheit bewusst, dass ihr Leben hier draußen nicht mehr lang dauern würde. Es war ein schrecklicher, lähmender Gedanken. Sie merkte kaum noch, wie ihr Körper zitterte.
Sie dachte daran zurück, wie sie Le zum ersten Mal getroffen hatte. Damals hatte er auch hinter Gitter gesessen - allerdings nicht in der Luft, sondern mitten in Stroh. Jetzt konnte sie seine Verzweiflung und seine Angst nachvollziehen. Ein Kampf gegen einen Jukku oder ein Schattenwesen wäre ihr tausendmal lieber, als hier an Kälte, Fieber und Durst zu sterben.
"Tja, jetzt sitzen wir mal wieder zusammen im Kerker", stellte Le fest, als hätte er ihre Gedanken gelesen. "Scheint bei uns zur Gewohnheit zu werden..."
"Du wirst hier zumindest wieder lebend rauskommen", flüsterte die Prinzessin.
"Wenn wir hier wieder rauskommen, werden sie uns auch nicht einfach so ziehen lassen. Wahrscheinlich werden sie uns in Ketten legen und jeden Tag persönlich zur Mine bringen, bis wir dort..."
Le unterbrach sich. "Mit Arbeitsverweigerern gehen sie hier nicht gerade zimperlich um."
Dilara schwieg. Die Minen... sie mussten ein schrecklicher Ort sein. Fast war sie ein wenig froh, dass sie nicht mehr lange leben würde. So musste sie sie zumindest niemals von innen sehen...
Irgendwie musste sie sich von dieser Kälte ablenken. Von diesem schrecklichen Warten. Warten auf den Tod... Sie ließ ihren Blick durch das Dorf schweifen. Das einzig Gute hier oben war die exzellente Aussicht. Sie konnte sich die Menschen in den Gassen genau ansehen. Nicht, dass viele zu sehen waren. Ein Bäcker und sein Sohn brachten Brote in den Laden, ein Bauer schleppte Milch über den Marktplatz und eine uralte Frau quälte sich auf ihrem Spazierstock durch die Straßen bis zu ihrem Haus. Wachmänner, die in den Straßen patrouillierten. Ein Mann, der am Boden lag, auf den Pflastersteinen. Mit Entsetzen stellte Dilara fest, dass seine Beine fehlten. "Was ist mit ihm passiert?", flüsterte Dilara. Es kam nicht mehr als ein leises, undeutliches Hauchen über ihre Lippen. Deshalb war sie überrascht, dass Le sie verstand.
"Explosion." Le lehnte sich müde gegen das Gitter. "Passiert immer wieder."
"Wovon lebt er jetzt?"
Le zuckte mit den Schultern. "Müll. Essensreste, die von den Ständen zur Marktzeit vom Tisch fallen. Fischköpfe, verschüttete Milch. Man findet immer irgendwas. Wenn auch nicht so viel wie in der Stadt natürlich." Dilara schüttelte es. Was war das nur für eine grausame Welt, in die sie da geraten war? Und es schien nirgends einen Ausweg aus dieser Finsternis zu geben. Wenn sie das alles nur niemals gesehen hätte!
"Schläft er hier draußen? Ist das nicht viel zu kalt in der Nacht?" Ihr war jetzt schon so eisig kalt. Jeder Atemzug, der ihre Lunge füllte, schien sie mit Eis aufzufüllen. Sie wurde von einem Husten geschüttelt. Le verzog das Gesicht und zog sich ein Tuch über die Nase.
"Werden wir heute Abend sehen."
Die Hütten sahen hier im Dorf seltsam aus. Es waren nicht die verschachtelten großen Bauten mit Dächern aus roten Ziegeln aus der Stadt. Es waren niedrige, eng beieinanderstehende Hütten aus groben Steinen mit Dächern, die fast bis zum Boden reichten und weit über das Haus hinausstanden. Die Dächer waren aus Stroh gemacht - bei den schäbigeren Hütten, oder aus flachem Gestein - bei den wenigen nicht ganz so schäbigen Hütten. Alles in allem sah es von oben sehr seltsam aus.
Einmal rollte eine Karawane durch das Dorf. Allerdings nur eine kleine: Zwei Wagen, die von Eseln gezogen wurden.
"Händler", kommentierte Le knapp.
Am Nachmittag begann das Leben in den Straßen. Es zog an Dilara vorbei wie in einem Traum. Sie bekam nur verschwommene Fetzen von dem Geschehen mit, dass sie durch ihre halb geschlossenen Lider hindurch beobachtete. Händler stellten ihre Stände unten am Platz auf und versuchten, sie trotz der unebenen Pflastersteine möglichst gerade hinzustellen.
Der Bäcker brachte Brote, ein Bauer Käse und ein Metzger Fleisch zu ihren Ständen. Aber auch Händler aus dem Gasthaus brachten einige Gegenstände und Lebensmittel aus anderen Dörfern oder anderen Teilen des Landes. Da war zum Beispiel ein Schuster-Stand und ein Schmiedestand mit Schuhen und Messern und Schlössern. Oder ein Mann, der lautstark seinen Honig feilpries. Dilaras Magen knurrte. Obwohl ihr noch übel war und sie nichts davon behalten hätte - hätte sie zu gerne ein wenig Brot mit Honig gegessen. Als der Mann mit den fehlenden Beinen einen Brösel vom Brot ergatterte, sah sie ihm neidisch zu, wie er es sich in den Mund schob.
Aber noch viel lieber hätte sie etwas zu trinken gehabt. Sogar das scheußliche Gebräu (das auch mit dem aufgelösten Honig noch schrecklich geschmeckt hatte) hätte sie jetzt dankbar getrunken. Wenn ihr nur nicht alles weh täte. Dann hätte sie zumindest wieder einschlafen können... Wäre sie jetzt noch im Schloss, hätte man ihr Ärzte geschickt, die sie in wenigen Tagen wieder geheilt hätten. Nicht, dass es dort viele Gelegenheiten gegeben hätte, sich mit irgendetwas anzustecken. Sie erinnerte sich daran, wie einmal die schwarze Seuche ausgebrochen im Schloss war, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Sie hatte ihr Zimmer tagelang nicht verlassen dürfen. Nicht einmal mit ihrer Amme hatte sie reden dürfen, damit sie sich nicht ansteckte.
Irgendwann ließ die Wirkung der Medizin nach und Dilara schlief doch wieder ein. In dieser Hinsicht hatte sie ein besseres Los als Le, der den ganzen Abend und die halbe Nacht lang wachblieb und die zunehmende Kälte, den Hunger, Dilaras Hustenanfälle und das Gespött der Wachen ertragen musste.
Mitten in der Nacht wachte Dilara kurz auf. Irgendjemand sang. Direkt über ihrem Kopf. Dieser Jemand hatte seine Arme um sie geschlungen und sie auf seinen Schoß gehievt. Er sang ein beruhigendes Lied, wie die Schlaflieder, die man kleinen Kindern vorsang. Die Worte konnte sie nicht verstehen. Dann sank sie wieder in den Schlaf.
Aber kurz darauf – so kam es ihr jedenfalls vor – rüttelte jemand an ihrem Arm.
„Wach auf!", flüsterte eine Stimme direkt in ihr Ohr.
Der Schrei einer Eule ertönte. Er kam von einem Dach, nicht weit weg von ihnen. Dilara blinzelte. Sie erkannte, wie Le neben ihr, getaucht in weißes Mondlicht, die Hände an den Mund legte. Dann schuuhuute er leise. Nur eine Sekunde später ertönte am Dach das Echo.
Es klang exakt wie eine Eule im Wald. Dann erkannte Dilara vage, wie sich am Dach ein Schatten bewegte. Kurz darauf war ein leises Klirren zu hören. Es kam von unten. Leise, tapsende Schritte schlichen sich durch die Dunkelheit. Dilara konnte nicht erkennen, was da unten geschah. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder etwas mitbekam. Dann hing auf einmal draußen jemand an ihrer Käfigtür. Es war klug von Le, ihr die Hand über den Mund zu legen. Sonst wäre ihr ein Schrei entfahren, der das ganze Dorf aufgeweckt hätte.
"Keine Sorge! Sie ist eine von uns. Darf ich vorstellen: Emina, die geschickteste Eule, die die Nacht zu bieten hat!"
"Halt den Mund, Leander. Außerdem weißt du noch gar nicht, ob ich auf eurer Seite bin. Vielleicht will ich euch ja auch zum Schweigen bringen?"
"Okay, okay, wir schweigen ja schon."
„Die anderen sind unten. Zwei für jeden Wachmann. Obwohl man sie eher Schlafmänner nennen sollte. Wer ist dieses Mädchen? Wieso hast du sie hierher geführt?"
Dilara fielen die Augen zu. Es kostete sie all ihre Kraft, sie wieder zu öffnen.
„Man kann sie bald gar nirgends mehr hinführen, wenn ihr niemand hilft. Sie muss schleunigst zu Kanuu"
„Oh je", sagte die Fremde mitfühlend. „Der Doktor hat uns Medizin gegeben. Aber wir sollten euch erstmal hier rausholen."
Die Rebellin schraubte an dem Käfig herum. Dann öffnete sie - langsam, um ein Quietschen zu verhindern - die Tür. Sie wandte sich an Dilara.
"Ich hab keine Ahnung, wer oder was du bist, aber du siehst nicht so aus, als könntest du gut klettern..."
"Glaubnisch", murmelte Dilara undeutlich. Sie hielt ihren Arm vor den Mund, um einen Huster zu unterdrücken.
"Hat sie Fieber?"
Le nickte. Im Mondlicht sah sein Gesicht ungewöhnlich blass aus.
"Na gut. Das wird schwierig. Bis da unten muss sie es schaffen. Dann können wir sie tragen."
"Ich hab ne bessere Idee. Da unten steht ein Wagen mit Stroh. Wir könnten ihn..."
"Macht zu viel Lärm."
"Mist. Und wenn wir sie herunterlassen? Ich glaub nicht, dass sie es sonst schafft."
„Könnte klappen. Aber dann schnell, bevor diese Schlafmänner aufwachen."
Schon war die Rebellin wieder verschwunden. Dilara fühlte, wie sie durch die Käfigtüre geschoben und an den Armen in die Tiefe hinabgelassen wurde. Aber vor allem fühlte sie die erbarmungslose Kälte der Nachtluft...
Und dann brach der Tumult los.
Eigentlich begann der Tumult mit ihr. Mit dem Geräusch, das sie verursachte, als sie hart auf der dünnen Schicht Stroh landete und der Wagen sich in Bewegung setzte. Dilara fühlte kaum, wie ihr Rücken zu schmerzen begann. Oder wie der Wagen über die unebenen Pflastersteine polterte. Sie hörte kaum das Geschrei und auch nicht das Klappern von Rüstungen. Das einzige was Dilara hörte, war ihr eigener Schrei.
Später fand Dilara es oft schade, dass sie nicht mitbekam, was sich in den folgenden Minuten am Marktplatz des kleinen Dorfes abspielte. Es musste ein wirkliches Schauspiel gewesen sein. Sämtliche Dächer schienen sich zu bewegen, als sich die Schatten der Nacht von den Häusern lösten. Gleichzeitig zogen brüllende Wachmänner unter viel Geklapper ihre Schwerter. Flink wie Fledermäuse tanzten die Rebellen um die Männer der Königin herum. Schwerter sirrten durch die Luft und landeten klirrend am Boden. Wachmänner fanden ihre Köpfe plötzlich in staubigen Kartoffelsäcken wieder. Seile schlangen sich um ihre Knie und zwangen sie zu Boden. Und als sie sich wieder befreit hatten, lag der Marktplatz wieder so verlassen da, wie vorher. Von den Rebellen war im bleichen Mondschein kein blasser Schimmer mehr zu sehen.
Natürlich zögerten die Männer keinen Augenblick, in alle Richtungen auszuströmen und nach jeder Art von Spuren oder Zeichen zu fahnden.
Und natürlich fand man nicht den Hauch einer Spur.
Außer einer offenen Käfigtür - zwanzig Zielreihen über dem Platz, wo eben noch ein Wagen mit etwas zu wenig Stroh gestanden hatte.
Als Dilara wieder zu Bewusstsein kam, brachen die Schmerzen über sie herein wie eine riesige Flutwelle. Aber es waren nicht nur Schmerzen – irgendwas war falsch. Irgendwas stimmte nicht mit ihrem Rücken. Dilara stieß einen Schrei aus – aber das Geräusch konnte ihren Mund nicht verlassen. Sie fühlte etwas feuchtes, ein feuchtes Tuch zwischen ihren Zähnen. Die Prinzessin riss die Augen auf.
Die Spitze eines Dolches zeigte direkt auf ihr Herz. Deutlich näher als ihr lieb war. Dilara hatte genug Dolche gesehen, um zu wissen, dass er schlecht gefertigt, aber durchaus scharf war. Ein ersticktes Keuchen versank in dem Tuch in ihrem Mund. Vor ihr stand jemand, ein magerer junger Mann, und blickte finster auf sie hinunter. Aber er sah nicht auf sie herab, weil er besonders groß war – im Gegenteil, er war eher ziemlich klein. Er sah auf sie herab, weil sie am Boden lag. Zumindest vermutete sie, dass es der Boden war. Sie konnte nicht fühlen, ob sie auf etwas hartem oder weichen lag. Alles, was sie fühlte, waren unsägliche Schmerzen. Schlimmer, als der Biss eines Jutus.
Der junge Mann hatte dunkle Schatten um die Augen, was seinen Blick noch finsterer machte. Er sagte nichts, sondern blickte nur unentwegt zu ihr nach unten. Hinter ihm waren noch andere Menschen, aber Dilara konnte sie nicht genau sehen. Alles war verschwommen. Sie versuchte, die Augen scharf zu stellen. Die Tränen weg zu blinzeln. Dann entfuhr ihr wieder ein verstummter Schrei. „Le!", schrie sie in das Tuch hinein. Und obwohl nur ein unverständliches „Hnn!" nach Außen drang, tauchte kurz darauf eine vertraute Gestalt vor ihr auf.
„Ich glaub, sie schreit nicht mehr. Ich werd ihr das Tuch abnehmen. Sie muss dringend zu Kanuu."
Die Miene des Dolch-Mannes verfinsterte sich noch einige Nuancen mehr. Aber er trat einen Schritt zurück und beobachtete mit wachsamen Augen, wie Le sich neben Dilara hinkniete. Sie zuckte zusammen, als der Rebell seine Hände unter ihren Kopf schob. Doch sie strengte sich an, still zu halten, während seine flinken Hände den Knoten an ihrem Hinterkopf lösten.
Als sie ihren Knebel los war, keuchte sie. Ihr Mund und ihre Kehle fühlten sich trocken an. Sie wollte sich bei Le bedanken, brachte aber kaum ein Flüstern zustande.
„Halt lieber still", warnte Le. „Ich glaube, in deinem Rücken ist war gebrochen. Hältst du es aus, ohne zu schreien?"
Dilara wollte mit den Achseln zucken, hielt bei dem Versuch aber inne und verzog das Gesicht. Dann versuchte sie vorsichtig zu nicken. Aber selbst das fiel ihr schwer.
„Wo sind wir?", flüsterte sie mit einiger Mühe. „Was ist passiert?"
„Wir müssen warten, bis die Wachen weit genug weg sind. Diesen Wald haben sie schon durchsucht, aber man kann sich nie so ganz sicher sein, ob sie nicht wiederkommen. Wir dürfen keine Geräusche machen. Es kann noch etwa eine halbe Stunde dauern, bis wir ins Lager können, ohne entdeckt zu werden. Bis dahin musst du durchhalten, hörst du?"
Le sah ihr ungewöhnlich ernst in die Augen. Dilara blinzelte einmal und hoffte, dass er ihr Zeichen als Nicken interpretierte. Der Rebell schien zu verstehen.
„Niemand hat gesagt, dass wir euch ins Lager lassen", murmelte der Mann mit dem Dorf. Les Wangen zuckten – ein sicheres Zeichen, dass er wütend war.
„Hör zu. Wenn sie nicht bald Medizin bekommt, kann sie niemand mehr befragen", antwortete er ruhig. „Wir haben wichtige Informationen, die Pakku interessieren dürften."
„Vielleicht wäre es das Beste für uns, wenn alle Informationen mit ihr sterben."
„Du kannst manchmal ein echter Idiot sein, Jojja."
„Verräter und Spione verdienen keine bessere Behandlung. Du solltest uns eigentlich besser kennen, Le. Von dir hätte ich wirklich mehr Klugheit erwartet. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du mit der Nummer durchkommst. Du warst lang genug im Lager, um zu wissen, dass man uns nicht so leicht austrickst."
„Was ist... passiert?", wisperte Dilara – hauptsächlich, um den Streit zu unterbrechen. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war, dass sie aus einem Käfig hinausgehievt worden war. Warum tat ihr Rücken so weh? Wo waren die Wachmänner? Und wo all die Rebellen? Der Dolch-Rebell warf ihr einen Blick zu – diesmal nicht nur finster, sondern voller purem Hass.
„Le ist so dumm zu versuchen, eine Spionin einzuschmuggeln. Das ist passiert."
„Der Wagen, auf dem du lagst, ist auf einer Kuhweide gegen einen Baum gekracht. Als wir dich gefunden haben, warst du mit dem Rücken gegen den Zaun gelehnt und bewusstlos. Wir haben keine Ahnung, wie du da hingekommen bist. Der Wagen war einige Steinwürfe weit entfernt von dir."
„Ich glaube ja immer noch, dass die Kühe sie dahin gebracht haben. Schienen nämlich sehr interessiert an dir! Weiß nicht, was sie mit dir gemacht hätten, wenn du auf ihrer Seite des Zauns gewesen wärst!" Ein grinsendes Gesicht tauchte hinter Le auf (der die Augen verdrehte). Das Gesicht eines Mädchens mit hellbraunen Haaren und grauen Augen. Es kam Dilara bekannt vor.
„Jedenfalls haben wir dich dann schnell in den nächstgelegenen Wald gebracht, den die Schlafmänner glücklicherweise gerade wieder verließen. Sie haben so laut geredet und geklappert, dass sie nicht mal mitbekommen haben, wie nah wir an ihnen dran waren. Und das, obwohl du die ganze Zeit gestöhnt hast, als würden deine Wirbel auseinanderbrechen. Wenn Le nicht seine Hand auf deinen Mund gepresst hätte, wären wir jetzt allesamt zurück im Käfig. Das mit dem Tuch kannst du hoffentlich verstehen. Les Hand sähe sonst jetzt ziemlich angeknabbert aus."
„Halt mal den Mund, Emina", knurrte der Dolch-Rebell. „Sonst kann Kiran nichts hören."
„Entspann dich, Jojja. Diese Klappermänner kann selbst ich meilenweit hören. Wär es nicht viel klüger, wenn wir uns in den Bäumen verstecken und sie fertig machen würden? Sie haben gegen uns eh keine Chance."
„Was ist, wenn sie Hilfe holen und Jagd auf uns machen? Wenn sie wegen euch zwei herausfinden, wo das Lager ist, dann bring ich euch um", drohte Jojja.
Emina verdrehte die Augen. „Das würden sie nicht mal herausfinden, wenn man ihnen eine Karte geben würde. Sie vermuten uns immer noch in den Südhängen."
„Ich weiß nicht", murmelte Le. „Ihr habt bestimmt schon bemerkt, wie viele Reiter in letzter Zeit unterwegs sind?"
„Ja, und du hast sie wahrscheinlich selbst mitgebracht."
Emina verdrehte die Augen. „Jojja und sein Verfolgungswahn."
„Ich verschenke mein Vertrauen nicht so leichtfertig wie du."
„Niemand sagt, dass ich ihr vertraue. Aber Le ist einer von uns."
„Das heißt nix."
„Wenn Le den Reitern verraten hat, wo das Lager ist, hätte er keinen Grund, hierher zurückzukehren. Dann wäre er einfach im Schloss geblieben."
„Eine Falle, um uns auszutricksen. Außerdem ist für mich jeder ein Verräter, der sich so leichtfertig von fremden Mädchen hinters Licht führen lässt und sie mit ins Lager bringt. Auch wenn er ihnen tatsächlich glaubt."
„Noch nie darüber nachgedacht, dass ich vielleicht meine Gründe habe?" Le klang, als bisse er die Zähne zusammen.
„Die wirst du dem Rat sicher noch ausführlich darlegen. Mich würde eher interessieren, wer sie eigentlich ist."
Emina, das Rebellenmädchen, sah neugierig auf Dilara hinunter. Hätten sie nicht ihre Schmerzen abgelenkt, wäre die Prinzessin vermutlich bei ihrem Blick zusammengezuckt. Es war ihr unangenehm, von so vielen Augen betrachtet zu werden.
„Dafür ist hier nicht der richtige Ort", flüsterte Le und sah sich kurz um. „Ich werde es später dem Rat erzählen, wenn alle versammelt sind."
„Wir sollen sie ins Lager lassen, ohne zu wissen, wer sie ist?"
„Ihr könnt ihr ja Augen und Hände verbinden. Als erstes braucht sie Medizin."
Dilara öffnete den Mund, um Einspruch zu erheben. Aber sie schloss ihn wieder. Es hatte keinen Zweck. Sie war diesen Menschen ausgeliefert. Im Moment hatte sie nicht die Kraft, sich um die Rebellen, ihre Pläne oder ihr Misstrauen Gedanken zu machen. Die Schmerzen waren alles, woran sie denken konnte. Wenn sie nur wieder bewusstlos wäre! Es war ihr egal, was die Rebellen dann alles mit ihr anstellen würden. Sie konnte sich so oder so nicht wehren.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie aufbrechen konnten. Dilara kam es vor wie mehrere Stunden – aber die Sonne bewegte sich kaum ein Stück weiter. Nach allem, was sie bisher in der Wildnis gelernt hatte, war also höchstens eine halbe Stunde vergangen.
Von dem Weg ins Lager bekam Dilara kaum etwas mit. Erstens, weil ihr die Augen verbunden wurden. Zweitens, weil Le und ein anderer Rebell sie abwechselnd trugen. Und drittens, weil ihre Schmerzen sie ziemlich in Anspruch nahmen. Weder Le noch der andere Rebell gingen besonders sanft mit ihrem Rücken um – was man ihnen natürlich nicht verdenken konnte, angesichts der Tatsache, dass sie immer noch auf der Flucht waren.
Die Rebellen hatten davon abgesehen, ihr die Hände zu verbinden. Selbst der misstrauische Jojja schien sie wohl momentan nicht für besonders gefährlich zu halten. Dilara war sehr froh darüber, denn so konnte sie sich zumindest die Hand vor den Mund halten, wenn sie einen Hustenanfall bekam. Oder sich festhalten, wenn der Weg holprig oder steil war. Und das war er einige Male – besonders am Ende. Die letzten zehn Minuten mussten die Rebellen mit Händen, Füßen und Knien klettern und es fühlte sich an, als stiegen sie einen Abhang hinab. Alle drei Sekunden überkam Dilara Panik, weil sie glaubte, dass ihr Träger gleich stolpern würde. Und dann würde sie erbarmungslos in die Tiefe stürzen. Sie war froh, dass Jojja sich geweigert hatte, sie zu tragen. Er hätte sie wahrscheinlich einfach fallen lassen. Um das Lager vor Verrat zu schützen. Dilara schauderte, als sie daran dachte, was er wohl tun würde, wenn er erfuhr, wer sie war. Le hierher zu folgen, erschien ihr immer mehr wie ein reines Selbstmordkommando. Mitten in die Hochburg der eigenen Feinde laufen. Krank und verwundet. Sie präsentierte sich ihnen hier auf einem Silbertablett. Und konnte rein gar nichts dagegen tun.
Was würde man mit ihr machen, wenn man erfuhr, dass sie die Tochter der Königin war? ‚Sie werden mich nicht töten. Es wäre ziemlich blöd von den Rebellen, mich zu töten', sagte sie sich, um sich zu beruhigen. ‚Dafür ist die Gelegenheit zu gut. Wenn sie auch nur ein klein wenig so denken wie Le, werden sie versuchen, diese Situation für sich zu nutzen...' Aber die Alternativen klangen auch nicht gerade verlockend. Würde man sie in einen Kerker sperren und versuchen, die Königin zu erpressen? Und was, wenn sie herausfanden, dass ihre Mutter kein Interesse an ihr hatte? Würde man sie dann entsorgen? Oder sich an ihr rächen für alle Dinge, die ihre Mutter dem Land angetan hatte? Würde sie den Rest ihres Lebens als Sklavin der Rebellen im Lager arbeiten müssen? Was hatte Le sich dabei gedacht, sie hierher zu bringen? Verfolgte er einen geheimen Plan?
Plötzlich kam sie sich furchtbar dumm vor, dass sie ihm jemals vertraut hatte. Er war ein Rebell. Und er würde immer einer bleiben. Wenn er sie so dringend hierherbringen wollte, dass er dafür sein Leben aufs Spiel setzte und sich mit anderen Rebellen anlegte – dann steckte da irgendetwas dahinter. Irgendein geheimer Plan, sie für die Ziele der Rebellen zu missbrauchen. Dilara schauderte. Wie hatte sie nur so blöd sein können? Noch nie in ihrem Leben war sie sich so dumm vorgekommen. Jahrelanger Strategieunterricht – und hier klammerte sie sich nun wehrlos und blind um den Hals eines Rebellen. Alles wäre schlauer gewesen, als mit Le mitzugehen. Sie hätte sich für ihr Gold ein Zimmer mieten können in irgendeinem staubigen Wirtshaus. Sie hätte mit einem Schiff in See stechen können. Sie hätte sogar bei Fink und Klee auf der Straße leben können. Irgendwie hätte sie schon herausgefunden, wie man überlebt. Stattdessen war sie blindlings in eine Falle gelaufen. Und jetzt war sie nicht nur eine Verräterin geworden. Sondern auch noch eine Gefangene.
Keiner der Geschichten, die sie über Kriegsgefangene in Trinland gehört hatte, ließ diese Rolle sonderlich erstrebenswert wirken.
Die Prinzessin zuckte erschrocken zusammen, als sie auf einmal Stimmen hörte. Fremde Männerstimmen. „Halt!", sagte eine von ihnen. Der Rebell, der sie gerade trug (er hieß Makk), hielt inne.
Dilara brach in einen Hustenanfall aus. Diesmal tat er nicht nur im Hals weh – sondern auch ihr Rücken schmerzte, wenn der Husten sie schüttelte.
„Lasst uns durch, bitte!", sagte Le gequält. „Ich weiß, dass ihr uns befragen müsst, aber wir brauchen dringend Medizin!"
„Ihr?", fragte der fremde Rebell. Er hatte eine ziemlich tiefe Stimme.
„Sie braucht Medizin. Die Verräterin, die Le in unser Lager bringen will."
„Was ist mit ihr?"
„Sie ist schlimm krank. Schon seit Wochen. Und ihr Rücken ist verletzt."
„Wer ist sie? Ist sie das Mädchen, das du aus der Stadt mitgebracht hast?"
„Exakt", sagte Jojja mit ironischem Tonfall. „Wahrscheinlich hat er sich verliebt. Oder sie hat ihm seinen Verstand geklaut."
„Wer sie ist, das werde ich dem Rat erzählen. Wenn alle versammelt sind, die diese Informationen hören müssen."
„Er ist schon die ganze Zeit so geheimnisvoll." Eminas verdrehte Augen waren beinahe hörbar. „Aber er hat recht, sie braucht wirklich Hilfe."
„Du weißt, dass wir nicht einfach so Menschen ins Lager lassen können, Le! Ihr hättet sie nie hierherbringen dürfen. Keiner von euch."
„Meine Idee war es nicht", entgegnete Jojja.
„Wir haben ihr die Augen verbunden. Sie ist nicht der Typ, der sich eine halbe Stunde Wegstrecke mit verbundenen Augen merken kann", sagte Emina Dilara fühlte, wie ihr Träger (Makk) nickte. Sie biss sich auf die Lippe. Diese Rebellen schienen sie jetzt schon kollektiv für eine Versagerin zu halten.
„Wir haben die beiden schon eine Weile lang verfolgt – in Kirans Auftrag. Sie wirkt wirklich nicht sehr gefährlich."
„Du kennst die Regeln, Le. Sobald sie das Lager betritt, gibt es kein Zurück mehr", warnte der fremde Rebell. „Sie darf es nie wieder verlassen – außer bei einem offiziellen Auftrag."
„Jetzt, wo sie hier ist, können wir sie sowieso nicht mehr gehen lassen", sagte eine andere fremde Stimme. Eine sehr heißere fremde Stimme. „Sie ist ja sowieso fast im Lager. Schick nach Kanuu. Sie weiß meistens, was zu tun ist."
Einen Moment lang herrschte Stille.
„Na gut. Schickt nach Kanuu. Le, du bürgst für sie. Das ist dir bewusst?"
„Mit meinem Leben", bestätigte Le.
„Gewagt", murmelte Jojja.
Sah wohl so aus, als hätten sie sich jetzt gegenseitig ihr Leben anvertraut. Ihrs hing von ihm ab. Und seines von ihr.
Dilara kniff die Augen zusammen. Sie wollte lieber nichts mehr mitbekommen. Nichts von den Dingen, die geschehen würden. Wenn ihr nur endlich jemand Medizin geben könnte.
„Jojja, Illium, ihr geht zu Pakku und erstattet Bericht. Sagt ihm, er soll eine Versammlung einberufen. Eine Ratsversammlung. Und holt auch Kiran. Ich will mit ihm reden. Kanuu! Gut, dass du hier bist. Du übernimmst am Besten gleich. Makk, übergib unseren Gast an Kanuu und komm mit mir mit. Emina, du passt auf, dass Le und das Mädchen nicht abhauen."
Dilara wurde an eine Frau überreicht, die sich groß, dürr und faltig anfühlte. Sie musste schon ziemlich alt sein. „Was habt ihr denn diesmal für mich?" Sie legte ihre faltige Hand auf Dilaras Stirn. „Fieber. Und Husten auch, oder?" Wie zur Bestätigung überkam Dilara ein weiterer Hustenanfall. Es wurde immer schlimmer. „Oh je, das sitzt tief. Wie lange hat sie das schon?"
„Etwa fünf Tage", antwortete Le knapp. „Vor zwei Wochen hat uns ein Jukku angegriffen. Er hat sie in den Arm gebissen. Vor fünf Tagen kam das Fieber. Wir waren schon beim Doktor, aber dann haben die Reiter uns aufgegriffen."
„Du liebe Güte, wie habt ihr das denn angestellt! Von einem Jukku angegriffen! Wir haben seit Jahrzehnten keine mehr gesehen! Und was ist mit ihrem Rücken los?" Die faltige Hand berührte ihren Rücken und tastete an den Wirbeln herum. „Irgendwas stimmt da nicht."
„Können wir das drinnen besprechen? Sie war schon viel zu lange draußen in der Kälte. Es wird immer schlimmer."
„Jaja, wir sind schon auf dem Weg, mein Junge. Lauf voraus und sag Mikja, sie soll Triphin vorbereiten. Alles, was wir noch übrig haben. Sag ihr, es steht im obersten Fach ganz hinten! Hoffentlich ist es noch gut. Wir hatten ja ewig keine solchen Bisse mehr! Du kannst froh sein, dass ich noch ein bisschen was über diese Viecher weiß, Mädchen! Hab selbst paar hässliche Narben abbekommen als Kind. Und für das Fieber machen wir einen guten Kräutertee mit Schnaps! Das kriegen wir wieder hin. Dass ihr auch immer verletzt zurückkommen müsst!"
Der Kräuterschnaps war das Beste und zugleich das Grässlichste, was die Prinzessin je getrunken hatte. Er war bitter und brannte. Aber sie spürte sofort seine Wirkung. Er rann durch ihren Körper wie flüssige Wärme. Alles fühlte sich viel leichter an. Die Schmerzen verschwanden zwar nicht, aber sie schienen weit weg zu sein von ihrem Körper. Auf einmal wurde sie so schläfrig, dass sich selbst die kratzige Wolle und die Felle sich so weich und bequem anfühlten wie ihr Himmelbett im Schloss. Das Knistern des Feuers wiegte sie langsam in den Schlaf, während Kanuu und ihre Gehilfin den Biss an ihrem Arm mit einer kalten Creme behandelten.
Doch viel zu früh wurde sie wieder geweckt.
Es war mitten in der Nacht, als eine kalte Hand an ihrer Schulter rüttelte. Dilara fuhr hoch – was ziemlich weh tat. Sie konnte niemanden sehen.
Dann fiel ihr auf, dass sie immer noch ihre Augenbinde trug.
„Wer ist da?", fragte sie nervös in das Dunkel hinein.
„Du wirst in der Versammlung gebraucht", sagte eine fremde Stimme. „Tut mir leid, dich zu wecken, aber du musst leider mitkommen."
Sie stöhnte. Aufstehen war das Letzte, was sie gerade tun wollte. Von dem leichten Gefühl war nichts mehr übrig. Sie fühlte sich unendlich erschöpft und jeder Knochen in ihrem Körper tat weh. Außerdem musste sie bei jedem dritten Atemzug husten und ihr war schwindelig. Das konnte aber auch an der Augenbinde liegen. Dilara tastete nach ihrer Stirn. Sie fühlte sich heiß an.
Die fremde, kalte Hand ergriff ungefragt ihre warme Hand. Dilara zuckte zusammen. „Komm schon. Der Rat hat nicht ewig Zeit. Le, dieser Idiot weigert sich zu reden, bevor du da bist."
Dilara stöhnte noch einmal. Wieso konnte Le sie nicht einfach schlafen lassen? Sobald sie da war, würde er wohl allen beichten, dass sie die Prinzessin war. Sie fühlte sich gerade wirklich nicht in der Lage, sich dieser Situation zu stellen.
Aber sie setzte sich auf und rutschte vorsichtig herum, bis ihre Füße den Boden fanden.
„Ich glaube, du solltest dir lieber deine Schuhe anziehen in deinem Zustand. Und den Mantel auch. Ist nicht grade warm draußen."
Dilara suchte hilflos mit ihrem Fuß nach Schuhen auf dem Boden. Der Rebell schien zu realisieren, dass sie Hilfe brauchte. „Hier sind deine Stiefel. Ach so. Die blöde Augenbinde kann ich dir wohl abnehmen hier drinnen", murmelte er. Er knotete eine Weile lang an ihrem Hinterkopf herum – wobei Dilara einige Haare verlor. Dann, endlich, entfernte er das nervige Tuch von ihren Augen. Sie blinzelte eine Weile, bis sie etwas erkennen konnte. Zuerst sah sie nur seltsame flackernde Lichter und rundherum Dunkel. Dann wurde ihr klar, dass sie sich in einer Höhle befand, die von Fackeln erhellt wurde. Ziemlich schäbigen Fackeln, nicht die kunstvollen, die sie aus dem Schloss kannte. Sie konnte nicht sehen, wie groß die Höhle war, oder ob sich weitere Menschen darin befanden. Aber vor ihr stand ein junger Mann mit schwarzen Haaren, die ihm bis zum Kinn reichten. Sein Gesicht war kantig, seine Haut wirkte blass unter den zuckenden Schatten der Flammen und seine Augen waren dunkel. Er sah ein wenig unheimlich aus. Seine Augen durchbohrten sie misstrauisch. Aber er hielt ihr ein Paar Stiefel hin. Dilara nahm sie entgegen, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, ob das wirklich ihre waren. Aber sie wagte nicht, etwas zu sagen. So schnell es ihre zitternden Finger vermochten, streifte sie die Stiefel über (sie passten gut) und verließ ihr Bett. Obwohl „Bett" nicht der richtige Begriff war. Es war eher ein provisorisches Lager auf einem schäbigen Holzgestell. Der Mann hielt ihr auch einen Mantel hin – diesmal war sie sich ziemlich sicher, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte keine Ärmel, dafür eine Kapuze. Wenn man ihn sich über die Schultern warf, konnte man ihn vor dem Hals zuknoten mit zwei Schnüren. Und er war überraschend warm.
Der Rebell führte Dilara aus der dunklen Höhle hinaus in noch dunklere Gänge, die nur hin und wieder mal von einer Fackel erhellt wurde. Wäre er nicht so dicht vor ihr gegangen, hätte sie keine zwei Sekunden gebraucht, um sich zu verirren. Immer wieder mal stolperte sie, oder taumelte, oder stöhnte vor Schmerzen. Ihr Husten hallte so laut durch den Gang, dass sämtliche Rebellen es hören mussten. Nach etwa fünf Minuten wurde es ein wenig heller zu ihren Füßen. Und dann noch heller und noch heller. Bis sie schließlich in blendendes Tageslicht blinzelte. Es war gar nicht mitten in der Nacht. Es war strahlender Sonnenschein. Und das Lager der Rebellen bestand auch nicht nur aus dunklen Höhlen. Vor ihr erstreckte sich eine große Wiese voller Zelte, zwischen denen eine ganze Menge von Menschen herummaschierte – viele davon beladen mit Körben, Krügen oder ganzen Fässern. Andere hielten Werkzeuge oder Waffen in den Händen. Dilara stockte fast der Atem bei dem Anblick. Sie hätte nie erwartet, dass die Rebellen so viele waren! Aber noch mehr erschreckte es sie, wie normal sie aussahen! Das waren ganz normale Menschen – Frauen und Kinder und sogar Greise, die miteinander redeten und lachten! Sie hatte die Rebellen immer für eine Horde wilder Männer und Jungen gehalten. Und höchstens noch ein paar besonders wilde Frauen, so wie Emina.
Auf den zweiten Blick stellte Dilara fest, dass man doch irgendwie sehen konnte, dass sie Rebellen waren. Einigen von ihnen sah man an, dass sie schon einmal einen Kampf erlebt hatten. Viele hatten Narben und manchen fehlten sogar Gliedmaßen. Und sie sahen alle irgendwie – freier und wilder aus. Zwar keine Horde wilder Männer – aber doch anders als die Menschen in der Stadt oder in den Bergen. Sie trugen alle unterschiedliche Kleidung, die oft zerrissen oder besonders bunt oder völlig schwarz war. Manche hatten auch auffällige Frisuren oder Zöpfe. Die meisten der Männer hatten lange Haare und Bärte. Und sie alle waren nicht so dünn wie die ärmeren Menschen in der Stadt. Sie hatten sichtbar mehr Muskelmasse. Selbst ihr Gang, ihre Körperhaltung und ihre Mienen wirkten anders. Aufrechter, stolzer, misstrauisch, kampfbereit.
Nicht die Art von Mensch, mit der man sich anlegen sollte.
Gegenüber von ihnen grenzte die Wiese an einen Wald, der eine dunkle Kulisse bildete hinter den beigen Zelten aus Leinen. Zu ihrer rechten war ein Abhang zu erkennen. Dilara konnte nur erkennen, dass er ziemlich tief und steil sein musste. Und überall um sie herum waren natürlich die Gipfel weiterer Berge zu sehen. Die höchsten davon lagen auf der linken Seite.
Die Prinzessin zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass ihr Begleiter sie von der Seite beobachtete. Er lächelte. Jetzt, bei Tageslicht, sah er nur noch halb so unheimlich aus. Allerdings erinnerte sie sein Gesicht nun ein wenig an Jojja. Ihr Magen zog sich zusammen bei diesem Gedanken.
„Beeindruckend, oder?"
Dilara nickte.
„Wies aussieht, wirst du jetzt den Rest deines Lebens hier verbringen."
Dilaras Herz klopfte schneller bei dieser Aussage. Nervös starrte sie in die Menge hinein. Wie lange dieser Rest sein wird, wird sich jetzt entscheiden.
„Zur Versammlung geht's da lang. Und schau nicht hin, wenn sie dich anstarren. Geh einfach weiter." Dilara nickte noch einmal. Sie blickte starr gerade aus, während sie sich durch die Menge drängten – viel zu nervös, um auf Blicke zu achten. Denn egal, wie sehr sie alle jetzt starren mochten – das war nichts gegen die Blicke, die sie ernten würde, sobald bekannt wurde, dass sie die Tochter ihrer Erzfeindin war.
Unweigerlich drängten sich ihr Bilder auf von einer Masse aus wütenden Rebellen, die sie umzingelten. Jeder von diesen Menschen schien mindestens ein Messer im Gürtel stecken zu haben. Was war, wenn man sie doch umbrachte? Was war, wenn einer von ihnen seinen Rachedurst nicht zurückhalten wollte? Dieser Jojja zum Beispiel?
Die Masse in ihrem Kopf kam immer näher auf sie zu. Und dabei riefen sie immer wieder: „Verräterin! Verräterin!"
Sie hatte keinen Ort mehr, an den sie fliehen konnte. Für alle Seiten war sie eine Verräterin.
Wenn sie nur wüsste, was sie tun sollte. Wenn ihr nur irgendwas einfallen würde... Vielleicht sollte sie sich Zeit verschaffen, indem sie einfach in Ohnmacht fiel? Das galt schließlich international als Spezialtalent aller Prinzessinnen. Außerdem fühlte sie sich gerade sowieso nahe an der Bewusstlosigkeit. Wie eigentlich schon die ganze letzte Woche.
Doch als sie sich gerade ein freies Stück Wiese für die Landung ausgesucht hatte, wechselte ihr Begleiter die Richtung.
Vor ihnen, in der Mitte der Wiese, stand ein besonders großes Leinenzelt. Die Rebellen machten alle einen Bogen um das Zelt, gingen eilig und schweigend dran vorbei.
Vielleicht war das der Grund für ihre steigende Nervosität: Dass sie genau auf dieses Zelt zusteuerten.
Auf einmal blieb der Rebell stehen und blickte sie an. Sein Gesichtsausdruck war zögerlich. Ernst.
„Ein Tipp zu deiner eigenen Sicherheit. Du solltest da drinnen nur die Wahrheit sagen. Wirklich nur die reine Wahrheit. Wir Rebellen sind berufsbedingt ziemlich misstrauisch. Jede Lüge könnte für dich ziemlich übel ausgehen. Verstanden?"
Dilara nickte. Was sollte sie auch sonst tun? Aber ihr war so schwindelig dabei, dass sie beinahe doch noch umgefallen wäre.
Dann hielt der dunkelhaarige Rebell den Stoff am Eingang des Zeltes beiseite, damit sie eintreten konnte.
Dilara stand mitten in der Versammlung.
Auf einen Schlag verschwand all ihre Nervosität. Obwohl die auf Fellen um ein Feuer herumsitzenden Rebellen so gar nichts mit den Bänken, den reichen Ratsherren und dem Rednerpult aus Eichenholz zu tun hatten, fühlte sie sich plötzlich zurückversetzt in all die Ratsversammlungen im Schloss. Ihre politischen Instinkte übernahmen die Kontrolle. Selbst die Schmerzen traten in den Hintergrund. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Das hier war nur ein Entscheidungsgremium. Und sie musste es auf ihre Seite bringen. Das hier war nichts Anderes, als die finale Aufführung eines Theaterstücks, das sie schon tausendmal geprobt hatte. Sie kannte ihre Rolle. In- und auswendig.
Die Prinzessin richtete sich auf – obwohl es ziemlich weh tat. Mit erhobenem Haupt trat sie noch einen Schritt weiter in das Zelt hinein. Zahlreiche Augen hoben sich. Ihre Blicke waren misstrauisch. Manche feindselig. Nicht gerade einladend. Dilara lenkte sich ab, indem sie versuchte, sie zu zählen. Etwa zwanzig Männer dort im Kreis um das Feuer herum. Sie sahen ebenso zerzaust und vernarbt aus wie die anderen Rebellen. Nein, noch unordentlicher und narbiger. Das hier waren wohl die wildesten und kampferprobtesten Männer aus dem Lager. Das hier war die Horde wilder Männer, die sie sich immer vorgestellt hatte. Manche von ihnen waren nicht einmal besonders groß. Sie alle hatten dunkle Haare und buschige Brauen wie die meisten Menschen in den Bergen. Das waren also die Ratsherren der Rebellen.
Ein Mann fiel ihr besonders ins Auge. Auch wenn ein Kreis natürlich keine Mitte haben kann, saß er doch irgendwie in der Mitte. Er war sehr alt, hatte faltige Haut, knochige Knie und eine Glatze. Seine Augen waren auffallend hell. Aber er schien sie genau sehen zu können, denn er erwiderte ihren Blick mit offensichtlicher Neugierde.
Dann fand sie Le. Aus seinen unterlaufenen Augen heraus sah er sie an, seine Haare wild zerzaust und fettig. Er schenkte ihr ein Lächeln (das ein klein wenig gequält wirkte). Dilara fand, dass er erschöpft wirkte. Nicht, wie jemand, der zu lange geschlafen hat, sondern wie jemand, der zu lange schon nicht ruhig schlafen konnte.
Es war auch eine Frau dabei, eine große, füllige, mit ungewöhnlich dunkler Haut. Faltiger, dunkler Haut. Dilara, die noch nie so dunkle Haut gesehen hatte, konnte nicht anders, als sie anzustarren. Sie musterte Dilara ebenso aufmerksam. Ihre Augen wirkten alt und weise. Und eines davon wirkte seltsam gräulich. Als wäre es blind. Sie war die erste, die sprach. "Da bist du ja. Du siehst schon deutlich besser aus! Aber sieh ja zu, dass du den Arm nicht zu viel bewegst! Er mag sich gut anfühlen, aber mit so einer Wunde ist nicht zu spaßen! Und gibt auf deinen Rücken auf! Macht keine Bewegung mehr als nötig damit. Verstanden?"
Dilara nickte unsicher. Die Stimme kam ihr ziemlich bekannt vor. Das musste Kanuu sein. Sie war wohl so etwas wie die Heilerin im Lager.
„Setz dich!", forderte sie der alte Mann in der Mitte des Kreises auf. Hastig trat sie neben Le. Sie brauchte eine Weile, bis sie es schaffte, sich hinzusetzen, ohne dass es zu viele Schmerzen auslöste. Aber sie war froh, direkt neben Le sitzen zu können.
Der alte Mann erhob sich mit einiger Mühe aus seinem Fell. Er stützte sich auf einen knorrigen Stab und blickte auf die anderen Männer herab.
"Willkommen zurück im Lager, Leander."
Dilara brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er Le meinte. Der nickte.
Leander. Le war also tatsächlich nicht sein ganzer Name gewesen.
"Du hast angekündet, du hättest uns etwas zu berichten. Wir haben einige... ungewöhnliche Dinge aus der Stadt gehört. Wie ist es dir auf deiner Mission ergangen?"
"Warum hast du uns so lang warten lassen mit deinem Bericht?", warf ein anderer Rebell gegenüber von ihnen ein. Weil er hinter den Flammen des Feuers saß, brauchte Dilara einen Moment, ihn zu erkennen. Es war Jojja. Und neben ihm saß ihr Begleiter. Die beiden sahen sich tatsächlich ziemlich ähnlich. Sie mussten Brüder sein. Oder zumindest Cousins. Selbst ihre Stimme klang ähnlich. Aber ihre Gesichtsausdrücke verriet, dass die Beiden sehr unterschiedlich waren. Jojja warf ihr einen hasserfüllten Blick zu. Der andere dagegen blickte neugierig zu ihr herüber.
Neben ihnen entdeckte sie Illium, Makk und Emina. Die fünf zusammen waren die Jüngsten im Zelt. Abgesehen von ihr selbst und Le natürlich.
"Weil ich wirklich wichtige Dinge zu sagen habe. Und meine Freundin hier - sollte dabei anwesend sein."
"Und was sollen das für Dinge sein?", fragte Jojja.
"Du hast nach meiner Mission gefragt, Pakku. Leider hab ich mein Ziel nicht ganz erreicht. Aber dafür andere Dinge..."
"Das wissen wir schon. Und wenn deine große Neuigkeit ist, dass die Prinzessin verschwunden ist, dann hättest du dir nicht die Mühe machen müssen, hierher zu kommen. Das wissen wir auch. Wir haben Maji hinter dir hergeschickt."
Bei dem Wort 'Prinzessin' zuckte Dilara unwillkürlich zusammen. Sie warf Le einen Blick zu. Alles in ihr zog sich zusammen. Doch er sah nicht in ihre Richtung.
"Sei still, Merek!", sagte der alte Rebell namens Pakku. Er schien der Anführer zu sein. "Red weiter, Leander."
"Maji war hinter uns? Oh je. Wir haben ein ziemliches Chaos hinterlassen, als wir die Stadt verlassen haben. Sie haben bestimmt alles um die Mauer herum umstellt..."
"Allerdings!", sagte Jojjas Bruder und grinste Le zu. „Aber ich glaube, das Chaos hat eher die verschwundene Prinzessin hinterlassen. Obwohl deine Flucht sicher auch nicht ganz unschuldig war. Sie behaupten, du hättest sie entführt."
Dilaras Herzschlag setzte einen Moment aus.
Aber Le erzählte gelassen weiter.
"Ich hatte es unbemerkt bis in die Schlosskeller geschafft. Dort habe ich aber nichts gefunden. Rein gar nichts. Auch nicht nach stundenlanger Suche", erzählte Le.
"Ich hab euch doch gesagt, dass die Kammern nicht exis...", setzte ein grimmig blickender Rebell an.
"Jetzt hört endlich auf, ihn zu unterbrechen!" Kanuu sah jeden Einzelnen der Redner scharf an. "Erzähl weiter, Le, mein Junge."
"Meinen Beobachtungen nach besuchte in dieser Zeit niemand den Kerker. Aber auf einmal öffnete sich die Tür. Zwei Wachmänner kamen hereingetorkelt, beide sichtlich betrunken. Suchten wohl nen Ort, um sich zu verstecken. Die beiden an sich wären kein Problem gewesen. Aber noch bevor ich ihnen den Schlüssel abnehmen konnte, kamen sechs weitere Wachmänner herein, um die Beiden für irgendwas zu schimpfen. Die erwischten mich auf frischer Tat und sperrten mich sofort ein. Das war wirklich keine schöne Zeit."
"Und wie bist du entkommen?", fragte Jojjas Bruder. Die Neugier im Zelt war nun deutlich spürbar. Alle Augen hingen an Les Lippen. Das war die Frage, auf die sie alle am Meisten gespannt gewesen waren.
Les – oder Leanders – Blick hellte sich auf bei dieser Frage.
"Was diese Sache angeht... dazu würde ich euch gerne zuerst einmal meine Freundin hier vorstellen. Ich verspreche euch, ihr werdet nicht bereuen, dass ich sie mitgebracht habt. Das ist...", begann er feierlich.
Dilara schluckte. Ihr Herz raste. Jetzt war es so weit. Gleich würde er es ihnen beichten.
Er vertraute ihnen blind. Trotz allem. Obwohl sie hier wie Gefangene von feindseligen Blicken umringt waren...
Sie würden über sie herfallen wie Raubtiere.
Und Le würde sie nicht beschützen. Hier nicht.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie sich jetzt selbst beschützen musste. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie auf sich gestellt.
Sie musste handeln. Jetzt. Bevor es zu spät war. Aber was sollte sie tun?
„Ich bin Liane." Dilara war selbst überrascht von dem lauten, festen Klang ihrer Stimme. Ohne zu überlegen, fügte sie hinzu: „Nur... ein Mädchen aus der Stadt. Ein ziemlich armes und einfaches Mädchen."
Prompt lief sie rot an.
Ihr wurde klar, wie bescheuert dieser Satz klang. Wer, bitte, beschrieb sich denn selber als "arm und einfach"?
Alle Rebellen im Zelt starrten sie an. Aber Les Blick durchbohrte sie geradezu.
Doch seine Miene war wie immer unlesbar.
Die anderen Blicke waren dagegen leicht zu lesen. Sie waren allesamt misstrauisch.
Besonders der von Jojja. Es war nicht schwer zu erkennen, dass er ihr kein Wort glaubte.
Du solltest da drinnen nur die Wahrheit sagen. Wirklich nur die reine Wahrheit. Jede Lüge könnte für dich ziemlich übel ausgehen.
Hatte sie gerade den größten Fehler ihres Lebens begangen?
Le räusperte sich.
„Liane... hat im Schloss gearbeitet. Dort hab ich sie getroffen. Sie wollte sich uns unbedingt anschließen."
Im Zelt herrschte Schweigen. Die Blicke wechselten zwischen Le und Dilara hin und her.
Nur Pakkus Augen ruhten wachsam auf der Prinzessin. Sie gab sich Mühe, nicht unruhig zu werden. Politik, erinnerte sie sich. Das hier ist Politik. ‚Du musst die Contenance auch dann bewahren, wenn sie mit dem Schwert auf dich losgehen', hätte Halim gesagt. ‚Nimm dir ein Vorbild an deiner Mutter.'
„Sie... hat mir geholfen, aus dem Kerker zu fliehen. Während ihrer Arbeit als Dienstmagd im Schloss, kam sie in den engsten Kreis der Königin. Sie kennt das Leben im Schloss und die Wege der Königin wie kaum jemand."
Das stimmte zwar nicht ganz (niemand im ganzen Land kannte die Wege der Königin), aber es war ein schlaues Tarnungsmanöver von Le. Zwischen ihren Zähnen hindurch atmete Dilara leise auf. Er war noch auf ihrer Seite.
"Ich hab sie unterwegs getestet. Sie hat nicht die geringsten Kampfinstinkte oder irgendeine Begabung für sonst irgendwas..."
Dilara runzelte die Stirn. Wie bitte?
Die Rebellen sahen keinen Deut weniger misstrauisch drein als vorher. Noch immer blickten sie zwischen Le und der Prinzessin hin und her. Feuerschein spiegelte sich in den Falten über ihren zusammengezogenen Augenbrauen.
"Was hat dich dazu gebracht, dass du dich uns anschließen willst, Liane? Aus welchem Teil des Landes kommst du?", fragte Pakku. Er saß ihr direkt gegenüber und musterte sie genau. Aber zu ihrer Überraschung klang seine Stimme freundlich.
Aber deshalb war seine Frage nicht leichter zu beantworten.
Es fühlte sich an, als würde das Feuer in der Mitte heißer werden. Die Augen dieser Rebellen waren scharf wie die eines Adlers. Die kleinste Unstimmigkeit - und sie war verloren.
Und Le mit ihr. Jetzt hatte er für sie gelogen.
Dilara betete zu allen Göttern und Göttinnen des Himmels, dass ihr eine gute Geschichte einfiel.
"Ich... ich wurde im Schloss geboren. Ich habe das Schloss noch nie vorher in meinem Leben verlassen. Außer für Einkäufe natürlich." Dilara versuchte sich die Dinge in den Sinn zu rufen, die Le immer über die Reichen sagte. "Mein Leben lang musste ich die Ungerechtigkeit mit ansehen, die im Schloss herrscht. Meine Eltern habe ich nie kennengelernt. Aber ich hatte einen kleinen Bruder, den sie zum Wachmann ausgebildet haben. Sie haben ihn gezwungen, als Reiter in den Krieg zu ziehen. Seitdem war er nie mehr derselbe." Dilara hatte keine Ahnung, woher diese Worte plötzlich kamen. Aber sie klangen ganz plausibel, deshalb ließ sie sie weiter aus ihrem Mund stolpern.
"Sie haben uns wie Dreck behandelt. In all den Jahren war nie jemand fair zu uns. Ob wir uns bemüht haben oder nicht, der Lohn war immer der gleiche: Geschimpfe und Schläge. Unsere Krankheiten haben sie nicht interessiert. Wenn wir gestorben sind, hat es sie auch nicht gekümmert." Dilara legte eine kleine Kunstpause ein. Sie blickte die Rebellen an und atmete tief ein.
Dann sagte sie mit so viel Überzeugung, wie sie aufbringen konnte:
„Deshalb will ich kämpfen. Egal, was es kostet."
Zwei, drei Rebellen nickten verständnisvoll.
"Und weshalb sollten wir dir vertrauen?", fragte Jojja höhnisch.
"Wenn deine Geschichte stimmt, hast du einen Bruder bei den Wachen. Woher sollen wir wissen, dass du dich nicht auf ihre Seite stellen wirst eines Tages? Würdest du gegen ihn kämpfen, wenn er dir begegnet?", fragte ein Rebell, der ganz hinten in einem Eck des Zeltes saß. Dilara konnte ihn nicht sehen, aber sie versuchte, in seine Richtung zu blicken.
„Ich weiß es nicht", sagte sie zögerlich. „Ich weiß nicht, ob ich das könnte. Ich würde ihn nicht einfach so töten, schätze ich. Aber ich glaube, wenn es sein muss, würde ich schon gegen ihn kämpfen."
Ihr Herz klopfte. Sie hoffte, dass das die richtige Antwort war. Hätte sie mit einem überzeugten „Ja!" antworten sollen? Aber das wäre den Rebellen vielleicht auch verdächtig erschienen.
Jojjas Augen waren zu Schlitzen verengt.
„Jedenfalls bin ich bereit, zu kämpfen, dass das Unrecht ein Ende hat! Wer weiß, wie lange mein Bruder überhaupt noch überlebt. Sie werden ihn bald wieder in den Krieg schicken. Und ich will nicht einfach tatenlos herumsitzen und zusehen. Schon gar nicht werde ich noch länger für die arbeiten, die ihn umbringen wollen."
Dilara wartete einen Moment, dann sah sie fest in die Runde. So, als wäre sie zu allem entschlossen.
"Ob ihr mir vertraut oder nicht. Wenn es hier keinen Platz für mich gibt, dann kämpfe ich eben auf eigene Faust. Eine Gejagte bin ich dort draußen nun sowieso."
"Liane ist ein großes Risiko eingegangen, als sie mir geholfen und das Schloss verlassen hat. Im Trubel um die verschwundene Prinzessin ist es zwar ein wenig untergegangen. Aber sollte sie in der Stadt jemand wiedererkennen, steht auf ihre Flucht der Tod", fügte Le eilig hinzu. "Sie kann sich außerhalb vom Lager nirgends sicher fühlen."
Das stimmte nun tatsächlich.
"Wie willst du kämpfen, wenn du damit keinerlei Erfahrung hast?", fragte ein älterer Rebell aus der hinteren Reihe. „Wie bist du auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet eine Dienstmagd bei dieser Rebellion nützlich sein könnte? Du hast wahrscheinlich in deinem Leben noch nie gekämpft."
Dilara fühlte Ärger in sich aufsteigen. Wenn er wüsste, wer sie war, hätte er so etwas nicht gesagt. Aber genau das musste sie ja verhindern.
Deshalb senkte sie ihren Kopf, wie Dienstmägde es taten, wenn sie zur Schnecke gemacht wurden. Dilara selbst hatte hin und wieder eine von ihnen zur Schnecke gemacht – meistens, um zu zeigen, dass sie Autorität hatte. Jetzt tat es ihr ein bisschen leid.
"Ja, ich habe bisher keine Kampferfahrung, das stimmt. Ich habe keine großartigen Fähigkeiten, so wie Le. Aber ich habe Vieles mitbekommen im Schloss. Wenn man sein Leben lang unsichtbar ist, hört und sieht man mit der Zeit so Einiges. Zum Beispiel kenne ich die Magd der Prinzessin. Sie war eine gute Freundin von mir. Ich glaube, ich kann euch sagen, weshalb sie verschwunden ist."
"Ist sie wirklich von sich aus verschwunden?" Jetzt wechselten die Mienen der Rebellen von misstrauisch zu neugierig.
"Ganz sicher ist es nicht. Aber Ihre Hoheit hat sich verändert in den letzten Tagen vor ihrem Verschwinden. Sie war oft nachts wach und sehr unruhig, berichtete meine Freundin. Anne glaubt nicht, dass eine Entführung dahintersteckt. Es wird viel über ihr Verschwinden spekuliert im Schloss. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich, die Prinzessin sei mehrmals mit einem Wachmann zusammen gesehen worden. Sie war eine hoffnungslose Romantikerin, was ihre Mutter, die Königin, als Schwäche gesehen hat. Ihre Hochzeit mit dem Sohn eines Lords aus der Stadt stand bevor. Sie hat den Kerl ziemlich verachtet, was man so hört. Und man kann es ihr wohl nicht verdenken, sein Vater soll der arroganteste Mann in der Stadt sein. Außerdem –" Dilara senkte ihre Stimme, als könnte sie jemand belauschen. „Gab es wohl einen Plan, die Prinzessin nach ihrer Hochzeit umzubringen, um die Krone in die Familie ihres Ehemanns zu bringen. Vielleicht hat sie davon Wind bekommen. Wahrscheinlich hat sie sich zusammen mit ihrem Liebhaber für eine Flucht entschieden. Es war wohl eine Verzweiflungstat. Das sind natürlich Spekulationen, aber ich glaube, dass da tatsächlich etwas dahinter sein könnte. Mein Bruder hat mir von einem Wachmann in seinem Schlafsaal erzählt, der nachts hin und wieder verschwunden ist... In der Nacht, als die Prinzessin geflohen ist, hat man ihn in einem Kapuzzenumhang gesehen. Aber ich weiß nicht, ob er noch im Schloss lebt, weil wir dann ja auch abgehauen sind."
Leanders Blick ruhte fest auf Dilara. Diesmal war es ein suchender Blick. Als frage er sich, wer sie eigentlich wirklich war. Sie schluckte.
Doch die anderen Rebellen wirkten eher nachdenklich.
"Sie hat bei der Flucht aber Einiges an Verwirrung hinterlassen bei der Stadt", murmelte Maji, Jojjas Bruder. "Ganz schön genial für eine Verzweiflungstat..."
"Ich sagte nicht, dass es eine schlecht geplante Tat war. Immerhin ist sie die Prinzessin. Es muss für sie ein Leichtes gewesen sein, ein paar Wachmänner zu bestechen, die jetzt offiziell nichts gesehen oder gehört haben. Und sollte sie tatsächlich heimlich mit einem Wachmann verlobt gewesen sein, dann hat der sicher auch seine Freunde bei der Wache und kennt alle ihre Tricks. Die beiden werden irgendwo untergetaucht sein, in einem Gasthaus oder so, und sie warten, bis sich der Trubel legt."
"Was interessiert uns eigentlich die Flucht dieser Prinzessin? Haben wir nicht Wichtigeres, um das wir uns kümmern sollten?"
"Du hast recht, Ghion. Leander, bitte führ deinen Bericht fort. Wie seid ihr aus dem Schloss entkommen? Was hast du noch für Neuigkeiten?"
Pakku lehnte sich nach vorne und wartete aufmerksam auf Les Antwort. Dilara ertappte sich, wie sie dasselbe tat. Nervös fummelte sie an einer Strähne herum. Hoffentlich fiel ihm eine gute Geschichte ein... Le zögerte. Er warf der Prinzessin einen kurzen Blick zu. Einen kurzen, aber bohrenden Blick. Als wäge er ab, ob er ihr vertrauten konnte. Oder ob er lieber doch die Wahrheit sagen sollte.
"Ohne... Liane hätte ich das nie geschafft", begann er wahrheitsgemäß. "Sie hat mir das Essen in den Kerker gebracht. Dabei haben die Wachen sie an einem Abend versehentlich eingeschlossen – weil sie zu spät dran war. Sie musste die ganze Nacht im Kerker verbringen. Dabei sind wir ins Gespräch gekommen. Zuerst dachte ich, es sei eine neue Verhörmethode und dass sie mich aushorchen sollte. Ich habe natürlich keine Details erzählt. Aber sie war wirklich neugierig, was unsere Mission ist. Sie gestand, dass sie sich schon immer den Rebellen anschließen wollte. Natürlich machte mich das nur noch misstrauischer. Aber als sie mir dann das nächste Mal Essen gebracht hat, lag ein Zettel unter dem trockenen Stück Brot. Ich brauchte eine Weile, bis ich die Buchstaben entziffern konnte..."
"Du kannst schreiben?", unterbrach einer der Rebellen überrascht.
Dilara nickte. "Ja, mein Bruder hat es mir vor einigen Jahren beigebracht. Aber ich bin nicht perfekt darin, fürchte ich." Das war natürlich eine glatte Lüge. Mehr als alles andere, was sie bisher erzählt hatte. Sie war mehr als perfekt im Schreiben. Und ihre Handschrift war so elegant, dass selbst die zehn Weisen aus Übersee neidisch geworden wären. Aber das musste ja niemand wissen.
"Auf dem Zettel stand nur 'Heute Nacht'. Ich rätselte ein wenig, was damit gemeint war. Ich dachte, der Zettel sei von einem anderen Rebellen. Nie im Leben hätte ich mir träumen lassen, dass es sich um einen selbst organisierten Fluchtversuch handeln könnte, der so schlecht geplant war."
Dilara senkte den Kopf und verkniff sich eine bissige Bemerkung.
"...sonst wäre ich vielleicht besser vorbereitet gewesen. Oder ich hätte ihr gesagt, sie soll in ihren Schlafsaal zurückgehen. So war ich ziemlich überrascht, als sich mitten in der Nacht plötzlich die Tür öffnete und Liane mit einem Tablet dastand und sich nach allen Seiten umsah. Noch überraschter war ich, als ich sah, dass sie einen Schlüssel für meine Kerkertüre dabei hatte. Sie meinte, es sei keine Zeit für Erklärungen. Deshalb folgte ich ihr schnell aus dem Kerker. Ich glaubte, sie sei vielleicht eine von unseren Spionen."
"Wie hast du es geschafft, an den Schlüssel zu kommen, Liane?", fragte Pakku. Als er sie ansah, hatte Dilara das Gefühl, dass er genau wusste, dass ihre Geschichte nicht die Wahrheit war. Sie zwang sich, ein ruhiges Lächeln aufzusetzen.
"Wenn man weiß, wo die Wachen gerne einen Trinken gehen, kommt man an viele Schlüssel. Und wenn man einen Bruder bei den Wachen hat, fällt man noch nicht mal mehr auf, wenn man sich abends zu ihnen setzt", erklärte sie eilig. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wo die Wachen ihren Alkohol ins Schloss schmuggelten. Sie hoffte eindringlich, dass niemand dieser Rebellen das Schloss wirklich kannte. Was, wenn die Rebellen wirklich Spione im Schloss hatten? Jeder von ihnen würde sie sicher erkennen... Dilara biss sich auf die Lippe.
"Nicht schlecht", kommentierte der Rebell neben Jojja grinsend. "Wobei blonde Haare sicherlich hilfreich sind..."
Dilara grinste zurück. „Ab einem gewissen Pegel können die Wachen keiner Dame etwas abschlagen. Fast ein Wunder, dass ihr das Schloss nicht schon längst gestürmt habt."
„Wir haben es versucht", sagte ein anderer Rebell und grinste ebenfalls. „Nächstes Mal nehmen wir mehr junge Frauen mit."
„Und Schnaps", fügte Jojjas Bruder hinzu.
„Auf jeden Fall Schnaps", bestätigte Dilara. Sie musste lächeln – obwohl sie sich gleichzeitig wie eine Verräterin fühlte. Was, wenn die Rebellen eines Tages wirklich das Schloss stürmen würden?
"Wir flohen dann hastig durch die Bediensteten-Gänge durch das Schloss." Le unterbrach ihr Gespräch, indem er seine Erzählung fortsetzte. „Natürlich dauerte es nicht lange, bis die Wachen hinter uns waren. Wir hatten uns nur gerade noch so an ihnen vorbeischleichen können, weil sie gerade mit einer verirrten Katze beschäftigt waren. Das war mehr Glück gewesen als Verstand. Als sie mein Verschwinden bemerkt hatten, strömten sie durch das ganze Schloss und wir mussten uns in der Speisekammer verstecken. Wir dachten, dass wir dort ewig festsitzen würden. Aber dann spielte uns ein weiterer glücklicher Zufall in die Hände: Das Verschwinden der Prinzessin. Auf einmal herrschte überall Aufregung. Die Wachen wussten nicht, wen sie zuerst suchen sollten, weshalb sie ziemlich ziellos im Schloss herumströmten. In der Aufregung konnten wir uns Rüstungen besorgen. Wir mussten uns nur dem Strom an Wachmännern anschließen, der in die Stadt unterwegs war. Einfacher hätte eine Flucht gar nicht sein können als in dieser Nacht. Dafür hatte die Königin jetzt die perfekte Ausrede für das plötzliche Verschwinden ihrer Tochter: Sie konnte es ganz bequem mir in die Schuhe schieben - schließlich war ich in derselben Nacht untergetaucht."
"Das ist schon ein ziemlicher Zufall...", überlegte Pakku und sah die Beiden scharf an.
"Und warum hat es so lange gedauert, bis ihr hier angekommen seid?", fragte Ghion.
"Wie Maji sicher bestätigen kann, mussten wir durch eine streng bewachte Stadt fliehen. Es war nicht unbedingt leicht, die Mauern zu erreichen."
Jojjas Bruder nickte.
"Außerdem hat Liane keine Erfahrung mit dem Leben im Wald oder den Bergen. Oder mit Wanderungen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich daran gewöhnen konnte. Wir kamen sehr langsam voran."
"Von dem Fieber ganz zu schweigen..." Kanuu, die Heilerin, zwinkerte Liane zu.
Eine Weile lang sagte niemand etwas. Alle schienen über das Erzählte nachzudenken. Dann räusperte Le sich.
"Ich habe euch bereits von den Wachen erzählt, die wir in den Bergen gesehen haben. Und ich würde gerne nochmal betonen, dass ich ihr Erscheinen ziemlich beunruhigend finde. Es könnte gut sein, dass sie genau auf das Lager zusteuern..."
Mit ungeduldiger Miene setzte Pakku dazu an, etwas zu sagen. Doch Le fuhr bereits fort: "Aber wir haben auf unserer Rückreise noch einige ungewöhnliche Dinge gesehen, von denen ich euch berichten wollte."
Alle Augen richteten sich wieder auf ihn.
"Die Magie in den Schlosskammern hab ich leider nicht gefunden. Dafür sind wir auf unserer Reise nicht nur dem Jukku begegnet, sondern auch einem Schattenwesen aus der Tiefe."
"Und der Wurzel", murmelte Dilara. Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, das laut zu sagen. Es war irgendwie rausgerutscht.
"Welcher Wurzel?" Pakku sah interessiert auf sie herab. Jetzt war es zu spät. Alle hatten es gehört.
"Naja, also, ähm...", stotterte Dilara, "als wir im Fluss gebadet haben, hat mich die Strömung davongeschwemmt. Ich wäre fast ertrunken und wusste nicht mehr, wo unten und wo oben ist. Da hat plötzlich was nach mir gegriffen. Es hat mich ganz langsam aus dem Wasser gezogen. Als ich nach unten sah, erkannte ich, dass es genau aussah wie die Wurzel des Baumes über mir. Sie hat mich am Ufer wieder abgesetzt."
Dilara zuckte schüchtern mit den Schultern. Unsicher blickte sie zu Le hinüber. Hätte sie das lieber nicht erzählen sollen? Aber er sah sie nicht an.
Le berichtete den Rebellen von allem, was sie unterwegs erlebt hatten. Von jedem einzelnen Detail. Fast noch eine ganze Stunde saßen sie dort am Feuer. So lange, dass Dilara beinahe die Augen zufielen. Sie war immer noch so unendlich müde und nur die Angst hatte sie so lange wach gehalten. Auch einige der Sachen, die die Dilara ihm aus dem Schloss erzählt hatte, gab Le in eigenen Worten wieder. Manche Sachen, die er berichtete, waren auch für Dilara neu. Zum Beispiel, dass er auf der Flucht Kontakt zu anderen Rebellen aufgenommen hatte und diese ihm Botschaften mitgegeben hatten, die er scheinbar die ganze Zeit in seinem Stiefel versteckt hatte. Pakku schob sie in seine Tasche, um sie später in Ruhe zu lesen, wenn niemand zusah. Nach dem Wenigen, was Dilara im Flammenlicht erkennen konnte, waren sie verschlüsselt. Als er von dem Spinnenschattenwesen berichtete, zeigte er ihnen zum Beweis den Minuril – der im Licht des Feuers lebendig und hell in orangenem Licht leuchtete. Ein allgemeines Raunen ging durch die Runde. Sie bestürmten ihn mit Fragen – z.B. wie er den Stein vor den Wachen verstecken konnte im Käfig. Von seiner Antwort bekam Dilara leider nichts mit, weil sie zwischendrin ein bisschen wegdämmerte.
„Jedenfalls müssen wir noch mehr mit Angriffen rechnen als sonst", stellte Le fest.
"Du berichtest uns nicht viel Neues, Le", sagte ein Rebell mit dunklem Bart. „Von euren Abenteuern mal abgesehen."
"Die Wachen haben wir selbst schon beobachtet, als wir euch gefolgt sind. Der Jukku und dieser seltsame Schatten sind keine Beweise, dass es wirklich noch Magie gibt. Seltsame Wesen leben überall in Endiar. Bisher habe ich auch noch keinen Grund gehört, warum genau wir euch in das Lager aufnehmen sollten..."
"Ich bin noch nicht fertig. Eine Sache gibt es noch zu erzählen." Jetzt lächelte Le leicht. Dilara hatte eine Ahnung, was jetzt kam. Sie hatte sich schon gefragt, warum er diesen Teil der Geschichte ausgelassen hatte. Ihre politische Erfahrung sagte ihr, dass er ihn absichtlich bis zum Schluss aufgehoben hatte. Das war sein Trumph im Ärmel.
„Und was soll das für eine Sache sein?". Der bärtige Rebell zog elegant eine Augenbraue hoch.
„Ihr habt sicherlich mitbekommen, dass Humpenfuß aufgeflogen ist?"
Schweres Schweigen schwebte auf einmal über dem Zelt. Dilara sah mit müden Augen, dass viele Köpfe sich senkten um sie herum. Nur der Bärtige hielt weiter Les Blick stand. Er nickte kurz.
„Der Verlust ist schwer." Pakkus Rücken sah ein noch ein Stück gebeugter aus, als zuvor.
Le wartete noch ein paar Augenblicke ab, bevor er weitersprach. Gab ihnen Zeit, traurig zu sein.
„Ich kann zumindest berichten, dass er nicht umsonst war", fuhr es dann fort. „Er war etwas Großem auf der Spur, was sonst keiner von uns erraten hat."
Le machte eine bedeutungsvolle Pause. Er wartete, bis sich alle Blicke wieder auf ihn gerichtet hatten. Dilara rieb sich die Augen und zwickte sich in den Arm, um wieder wacher zu werden. Sie beugte sich nach vorne. Jetzt wollte sie kein Wort verpassen.
„Die Tuhota Vuori."
Trotz aller Bemühungen, aufmerksam zu sein, bekam Dilara nicht alles mit, was die Rebellen in der folgenden Stunde besprachen. Aber folgende Dinge konnte sie sich zusammenreimen. Tuota Vuori, so hieß die Maschine, die Le in der Fabrik zerstört hatte. Die, die ihnen so viel Ärger eingehandelt hatte und sie beinahe ihr Leben gekostet hätte. Der Rebellenrat hielt sie wohl für eine riesige Bohr-Maschine, dazu gemacht, um tief in den Bergen drinnen noch viel tiefer zu bohren. Aber Dilara fiel nichts ein, was ihre Mutter so tief unten wollen könnte. Und die Rebellen waren sehr darauf bedacht, nicht zu viel zu verraten, solange sie dabei war. Immer wieder warfen sie ihr Seitenblicke zu, wenn die Diskussion zu nahe an ein geheimes Thema herankam. Dabei verstand Dilara sowieso nicht einmal die Hälfte von dem, was sie sagten. (Im Moment konnte sie sich nicht einmal den Namen dieser komischen Maschine merken.)
Außerdem schienen die Rebellen sich nicht wirklich sicher zu sein, ob diese Maschine wirklich existierte. Zumindest schienen sie sich bisher nicht sicher gewesen zu sein. Aber desto länger die Diskussion andauerte, desto mehr wurden sie sich aber einig, dass alle Zeichen übereinstimmten und Humpenfuß bestimmt kein Humpenkopf gewesen war (wie sie es ausdrückten). Dilara verdrehte die Augen. Wie konnte man nur eine Stunde lang brauchen, um herauszufinden, ob jemand log oder nicht? Es konnte in ganz Endiar keine so misstrauischen Menschen geben wie diese Rebellen hier. Aber das gute an der Diskussion war, dass sie selbst dabei ziemlich in den Hintergrund rückte. Bis auf besagte Seitenblicke beachtete man sie kaum und sie hatte Zeit, sich ein wenig zu sammeln. Innerlich feilte sie weiter an ihrer Rolle als ehemalige Schlossmagd. Sie versuchte sich an alles zu erinnern, was sie über die Mägde im Schloss wusste. Das war leider nicht allzu viel. Sie hatte keine Ahnung, wo sie schliefen, aßen oder wie lang sie arbeiten mussten. Oder wie viele mit welcher Tätigkeit beschäftigt waren. Sie rief sich vor Augen, wie die Mägde sich verhalten hatten. Sie gingen, gebeugt und eilig und wichen Blicken aus, statt ihnen stand zu halten. Sie wirkten immer beschäftigt und saßen nie herum. Sie verhielten sich schüchtern, aber wenn niemand sie sah, schimpften sie über die schlechte Arbeit ihrer Kolleginnen. Oder tuschelten über Diener und Wachmänner, die sie arrogant oder hübsch fanden.
Dann versuchte sie, ihre Geschichte weiter auszubauen. Besonders ihre Idee mit dem Wachmann-Bruder gefiel ihr. Oder wie sie ihre eigene Flucht von Außen beschrieben hatte. Das hatte sie wirklich nicht schlecht gemacht, wie sie fand. Nun würde sie niemand mehr mit der geflohenen Prinzessin in Verbindung bringen.
Was leider nicht hieß, dass man ihr vertrauen würde. Sie fragte sich bloß, was sie mit ihr machen würden, wenn sie beschlossen, ihr nicht zu vertrauen?
Sei nicht dumm, flüsterte eine Stimme in ihr. Du weißt, was sie dann mit dir machen werden. Gehen lassen jedenfalls sicherlich nicht. Sie könnte der Welt ja verraten, wo sich ihr Lager befand.
Aber was würden sie wohl mit Le anstellen? Darüber war sie sich längst nicht so sicher. Immerhin war er einer der ihren. Oder, aus ihrer Sicht, mal einer der ihren gewesen. Würden sie netter mit ihm verfahren? Oder sogar noch schlimmer?
Sie hatte das Gefühl, dass letzteres die richtige Antwort war. Für Verräter hatten diese Menschen sicher noch weniger übrig als für Spione oder Lügner.
Ihr Magen zog sich zusammen.
Dilara schüttelte ihren Kopf. Eigentlich war er selber schuld. Er hatte so unbedingt hierher zurückkommen wollen. Mit ihr im Schlepptau. Einmal mehr fragte sie sich, was genau er sich davon versprochen hatte...
Die Rebellen besprachen gerade, dass die Zerstörung der Maschine ja eigentlich eine sehr gute Nachricht war. Vielleicht würden sie gleich einen offiziellen Beschluss fassen, dass sie sich darüber freuen sollten. Freude schienen die Rebellen nur selten zu empfinden.
Vor allem dieser Jojja. Er schien an der Maschine nicht halb so interessiert wie daran, sie mit Blicken zu durchbohren.
„Und du behauptest, dass ihr sie zerstört habt?", fragte er genau in diesem Augenblick. Mit dem üblichen Misstrauen in der Stimme.
Le nickte. „Es war relativ einfach, zu ihr hinunterzukommen. Fast schon so einfach, dass ich misstrauisch wurde. In der kurzen Zeit den Weg zu finden, sie zu zerstören war nicht so einfach für uns. Und dann mussten wir um unser Leben rennen, sonst hätte uns die Explosion umgebracht. Es war, als würde die ganze Halle in Flammen stehen..."
„Wie seid ihr entkommen?", fragte der Anführer.
„Die Halle lag im Keller bei dem Fuhrsystem. Wir sind in einen Wagon geklettert und haben uns darin versteckt."
„Stimmt. Neben dem Fuhrsystem liegt wirklich eine seltsame Halle...", murmelte der bärtige Rebell überrascht. Als ob es ihn verblüffte, dass ihre Geschichte tatsächlich Sinn ergab.
Dilaras Gedanken schweiften wieder ab. Sie war inzwischen so müde, dass sie eine ganze Weile lang nichts mehr mitbekam.
Erst, als sie merkte, wie es auf einmal ruhiger wurde im Zelt, sah sie wieder auf. Die Rebellen wirkten in Gedanken versunken. Aber gleichzeitig schien die Stimmung um das Feuer herum immer angespannter zu werden. Als warteten sie auf etwas. Eine ganze Weile lang sagte niemand etwas. Manche Rebellen rutschten unruhig hin und her.
Dilara beobachtete, wie sie hin und wieder in Pakkus Richtung sahen. Er hatte seinen Kopf auf die Ellenbogen gestützt und sein Gesicht in seinen Händen verborgen. Seine dürren Knie hatte er eng an sich gezogen.
Dilara sah zu Le hinüber. Seine Miene war immer noch kalt und unlesbar. Und müde.
Er räusperte sich.
"Wie ist eure Entscheidung? Dürfen Liane und ich bleiben?"
"Dass du so lange gewartet hast, um uns das zu erzählen, trägt nicht gerade zu eurer Vertrauenswürdigkeit bei, Leander", murmelte der bärtige Rebell. „Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum das Mädchen bei diesem Gespräch unbedingt dabei sein sollte."
Pakku seufzte und hob den Kopf. Die Anspannung im Zelt wuchs spürbar.
"Wir stimmen ab", entschloss er. Sofort hoben sich alle Köpfe. Ein Tuscheln machte sich unter den Rebellen breit. Aber diesmal ermahnte sie Pakku nicht, still zu sein. Stattdessen wandte er sich an den bärtigen Rebell und an Kanuu, um sich mit ihnen über die Entscheidung zu beraten.
Einige Minuten lang waren Dilara und Le die einzigen Schweigenden im Zelt. Wieder versuchte sie, Blickkontakt mit Le aufzunehmen. Und endlich sah er sie an.
Er lächelte nicht. Da war nichts beruhigendes oder trostspendendes in seiner Miene. Im Gegenteil.
Der Ausdruck in seinen Augen war so kalt, wie noch nie zuvor.
Verunsichert blickte sie weg. Was war los? Hatte er Angst? War er wütend? Dilara biss sich auf die Lippe. Wenn dieser Tag nur endlich vorbei wäre. Langsam begann sie fast zu wünschen, die Rebellen würden sie einfach umbringen. Dann hatte das alles hier wenigstens ein schnelles Ende.
„Wer von euch ist dafür, dass die beiden vorerst bleiben dürfen?"
Der Rebellenanführer sah in die Runde.
Dilara ebenfalls.
Soweit sie die Gesichter erkennen konnte, wirkten sie zögerlich. Unentschlossen. Manche betrachteten sie aus dem Augenwinkel heraus. Andere kneteten an ihren Gewändern herum. Aber manche sahen auch ziemlich finster zu ihnen hinüber. Ihre Blicke waren hart. Es war klar, für was sie stimmen würden...
Dilara schloss die Augen. Sie wollte die Abneigung nicht länger sehen. Sie wollte nur, dass sie die Entscheidung schnell hinter sich brachten.
Als erstes erhob sich der Rebell neben Jojja. "Ich stimme dafür", sagte er fröhlich. „So ungeschickt, wie du dich auf den Mauern bewegt hast, Liane, kann nicht mal die Königin dich für eine gute Spionin halten." Er grinste Dilara zu. Sie zuckte überrascht zusammen - und lächelte schüchtern zurück. Auch wenn es bisher nur eine Stimme war – sie fand es sehr ermutigend, dass nicht alle hier sie abgrundtief hassten. Sie sah, wie ein paar der Rebellen nachdenklich zu Maji hinaufblickten.
Sein unangenehmer Bruder dagegen verschränkte die Arme. "Tarnung. Mehr nicht. Ich stimme dagegen."
Maji (er stand immer noch) verdrehte die Augen.
"Ich hab sie beobachtet, als nicht einmal Le ihr zugesehen hat. Sie ist immer noch langsam und ungeschickt gegangen. Wär zweimal fast in die Tiefe geflogen. Das wär eine ziemlich aufwendige Tarnung."
Dilara schauderte bei der Erinnerung an die Mauer.
"Manche Leute sind eben gut darin, ihr wahres Ich zu verstecken..."
Maji kniff die Lippen zusammen. Jetzt sahen die beiden sich noch ähnlicher. Aber als er antwortete, was seine Stimme ruhig.
"Emina sagt auch, dass sie unmöglich eine Spionin sein kann. Sie wurden von Wachen gefangen genommen und verfolgt."
"Na und?"
Maji verdrehte die Augen und schwieg.
Dafür stand jetzt auch die dunkelhäutige Heilerin auf.
"Seht euch das Mädchen doch mal an! Wenn das eine Spionin ist, trage ich heimlich einen Bart! Wenn ihr mitanhören hättet müssen, was sie die letzten Tage im Schlaf gemurmelt hat, dann würden wir darüber jetzt nicht mal mehr diskutieren."
Dilara zuckte zusammen. Sie hatte im Schlaf geredet??
„Außerdem bleib ich dabei: Ich kenne Leander. Und ich vertraue ihm. Wenn er meint, dass es das Richtige war, sie mitzubringen, dann hat er gute Gründe. Meint ihr, er wäre nicht doppelt so vorsichtig, wie wir alle zusammen? Meine Güte, er hat mehr für unsere Sache gekämpft, als ihr Weicheier alle miteinander!"
Le sagte nichts. Er blickte auch nicht in die Richtung der Frau. Sein Ausdruck verhärtete sich kaum merklich.
"Über die Wunden zu wachen, macht dich zu fürsorglich, Kanuu." Der Bärtige kratzte seinen Bart. "Vielleicht solltest du hin und wieder mal raus und ein paar Kämpfe mit ansehen! Dann würdest du unsere Vorsicht verstehen."
"Ich habe viele Kämpfe gesehen, Kiran." Kanuu zwinkerte mit ihm mit ihrem blinden Auge zu. "Mehr, als du zählen kannst. Vielleicht macht dich ja auch das ständige Ausschauhalten nach Spionen zu misstrauisch."
Auf einmal merkte Dilara, dass Pakkus Blick auf ihr ruhte. Ruhte, ja, das war das richtige Wort. Dilara hatte noch nie so einen ruhigen, festen Blick gespürt. Sie hob den Kopf. Versuchte, mit möglichst neutraler Miene zurückzublicken. Das war gar nicht so leicht, denn ihr Körper wollte mit aller Macht zu zittern anfangen. Ihr Gefühl und ihre Erfahrung sagten ihr, dass von diesem Blick alles abhing. An ihm würde sich alles entscheiden. Wonach suchte Pakku in ihren Augen? Und was würde er finden? Einen Augenblick lang schienen sich seine Brauen zusammen zu ziehen. Auf eine nachdenkliche Weise, nicht auf eine grimmige. Als hätte er entdeckt, was er hatte sehen wollen.
Etwas wackelig erhob er sich. Dabei konnte sie ganz leise seinen Seufzer hören. Sofort verstummten alle um das Feuer herum. „Ich habe um keine Diskussion gebeten, sondern um eine Abstimmung. Wir haben zwei Stimmen dafür und zwei dagegen. Wer ist sonst noch dafür, dass sie bleiben dürfen?"
Dilaras Herz klopfte laut. Das war der Moment der Entscheidung. Die Zeit des Redens war vorbei.
Aber ihre Hoffnung stieg ein wenig. Sie wusste, dass Anführer ihre Worte nie zufällig wählten. Sie formulierten alles mit Bedacht. Wenn er ihr misstraute, hätte er gefragt, wer dagegen war. Wenn Pakku fragte, wer dafür war, dass sie blieben, dann hieß das, dass er wollte, dass sie blieben. So viel wusste Dilara aus der Politik. Die Meinung eines Anführers, den eine Gruppe respektierte, hatte immer einen großen Einfluss. Vor allem auf diejenigen, die sich nicht von Vornherein sicher gewesen waren.
Es blieb also zu hoffen, dass die Unsicheren in der Überzahl waren...
Die Prinzessin starrte zu Boden. Sie wagte nicht, in die Gesichter zu blicken, aus Angst, sie könnte ihre Entscheidung auf irgendeine Weise beeinflussen. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie die Rebellen zögernd um sich blickten. Jeder wartete ab, was seine Nachbarn tun würden. Niemand rührte sich. Die Spannung war kaum auszuhalten. Dilaras Finger begannen zu schmerzen, so verbissen drückte sie sie gegeneinander. Noch immer hatte sich keiner bewegt. Kein einziger. Ihre Hoffnung sank.
Aber dann fiel ihr auf, dass Pakku immer noch stand. Genauso wie Kanuu und Maji. Hieß das, er stimmte dafür?
Er richtete sich noch weiter auf und blickte fest in die Runde.
Dann rührte sich im Eck des Zelt plötzlich etwas. Ein Rebell erhob sich. Und kurz darauf sein Nachbar. Und dann, der Reihe nach, immer mehr und mehr Rebellen. Es musste etwa die Hälfte sein, die stand. Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas so schnell gezählt. Es war fast die Hälfte. Elf Rebellen standen und zwölf Rebellen saßen noch auf ihren Plätzen. Und Le und sie saßen natürlich auch noch.
Dilaras Herz schlug schneller. Nervös zerkaute sie ihre Lippe. Hieß das, sie hatten die Abstimmung verloren?
„Zehn gegen neun", stellte Pakku zufrieden fest. Dilara sah ihn überrascht an.
„Zehn gegen zwölf!", widersprach Jojja – und sprach damit ihre Frage aus.
Sein Bruder trat ihm gegen den Oberarm. „Zum Donnerspalt nochmal! Halt den Mund und sei kein so ein schlechter Verlierer! Du weißt genau, dass Illium, Makk und Emina als Zeugen hier sind."
„Aber sie sind offensichtlich auch sitzen geblieben! Und der Rest des Lagers wäre auch dagegen, dass wir einfach so Eindringlinge in das Lager lassen!"
Emina verschränkte die Arme. „Meine Güte, Jojja, du benimmst dich wie ein Kleinkind."
„Und ihr liefert uns alle diesen Verrätern aus."
Niemand entgegnete etwas. Wahrscheinlich, weil es keinen Zweck hatte.
Dilara starrte in die Runde. Sie konnte es kaum glauben. Ihr Herz raste immer noch. Hatten die Rebellen sie gerade offiziell in ihre Kreise aufgenommen?
Oder – war das vielleicht nur eine Falle?
Als sich alle wieder gesetzt hatten, spürte sie abermals Pakkus Blick auf ihr ruhen. Es war wirklich schwer zu sagen. Doch desto länger sie hinstarrte, desto sicherer war sie sich: Ein leichtes Lächeln spielte mit den Falten seiner Mundwinkel.
Aber als Dilara sich umsah, sah sie, dass sein Gesicht damit eine Ausnahme war. In allen anderen spiegelte sich Unsicherheit. Und in einigen ein noch tieferes Misstrauen und ein noch stärkerer Hass als die, die sie beim Betreten des Zeltes empfangen hatten.
Von irgendwo aus dem Zelt heraus hörte sie die leisen Worte „purer Leichtsinn".
Pakku räusperte sich. „Die Sache ist entschieden. Leander und Liane werden beide hierbleiben. Aber sie dürfen beide das Lager nicht verlassen, bis ich selbst ihnen die Anweisung dazu gebe. Liane, du gehst am besten so schnell wie möglich wieder zurück ins Bett. Du brauchst dringend noch Ruhe. Kanuu wird sich um dich kümmern. Und der Rest von euch - verschwindet und geht an die Arbeit, solange noch die Sonne scheint!"
Und damit machte er gleich den Anfang, indem er aus dem Zelt rauschte. Dilara wünschte, er wäre hiergeblieben, anstatt sie dieser unzufriedenen Meute auszuliefern.
Aber gleichzeitig war sie so erleichtert, dass ihr davon schwindelig wurde.
Gleich hinter ihm verließ Kiran, der bärtige Rebell das Zelt (sie hatte gesehen, dass er bei der Abstimmung sitzen geblieben war).
Die Zurückgebliebenen schwiegen noch ein paar Augenblicke. Dilara versuchte, nicht wieder zu Le zu blicken. Aber sie konnte sich nicht davon abhalten.
„Schlafen wäre mir lieber", sagte Illium grinsend und stand auf.
Sein Nachbar schüttelte den Kopf. „Du ewiger Faulpelz", kommentierte er kopfschüttelnd.
„He! Wer war zwei Nächte lang auf Streife? Du oder wir?"
„Na und?"
Immer mehr der Ratsmitglieder erhoben sich und verließen in Gespräche vertieft das Zelt. Einige warfen dabei kurze Blicke in ihre Richtung – und nicht wenige davon waren immer noch genauso finster. Sie schnappte ein paar Gesprächsfetzen auf wie „Seit wann verschwenden wir unsere Medizin auf Spione?" oder „Früher hätten wir Fremden nicht so leicht vertraut".
Doch sie war zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen. Die Prinzessin blieb unsicher sitzen, bis nur noch wenige übrig waren. Le betrachtete eingehend das Tuch, auf dem er saß.
Jojja starrte sie immer noch feindselig an. Als wollte er ihr sagen: ‚Glaub bloß nicht, dass du gewonnen hast.' Sein Bruder, Maji, klopfte ihm auf die Schulter. „Nimms nicht so schwer, Bruderherz. Pakku scheint ihnen zu vertrauen." Dabei zwinkerte er Dilara kurz zu. So kurz, dass sie sich nicht ganz sicher war, ob er wirklich in ihre Richtung gesehen hatte. „Er liegt nie falsch. Vertrau seiner Nase!"
"Vielleicht werden Pakku und seine Nase langsam zu alt, das Lager zu leiten", murmelte Jojja. Dabei bedachte er nun Le mit einem abfälligen Blick.
Einer der anderen Rebellen, der schon im Zelteingang stand, drehte sich zu ihm um und runzelte die Brauen. „Du weißt, dass das Unsinn ist, oder, Jojja?"
Aber Jojja beachtete ihn nicht. „Wie kannst du ihnen vertrauen?", fragte er stattdessen, an seinen Bruder gewandt.
Und während der seufzend das Zelt verließ, blieb er noch sitzen, bis alle anderen gegangen waren. Dann erst stand er ebenfalls auf. Dilara wollte schon erleichtert sein. Doch er baute sich direkt vor ihr auf. Sein Blick war fast so eisig wie der der Königin.
„Wenn du lügst, dann werde ich es herausfinden und dich eigenhändig umbringen. Euch beide. Glaub nicht, dass ich dir nur ein Wort von deiner schmierigen Geschichte glaube. Du denkst vielleicht, dass du gut gespielt hast. Aber keine Magd aus dem Schloss sitzt so gerade und spricht so geschwollen. Und ich habe auch noch nie von einer gehört, die lesen und schreiben kann."
„Ich habe es...", setzte Dilara unbehaglich an.
„Spars dir", sagte Jojja. „Ich glaube dir eh kein Wort."
Sie spürte eine leichte Berührung am Arm – und hielt den Mund.
Dann verschwand er endlich, endlich aus dem Zelt.
Und sie war mit Le alleine im Zelt. Mit Leander.
Es kostete sie einige Anstrengung, ihn anzusehen.
Sie spürte, dass seine Augen auf ihr ruhten.
Neugier und Anspannung kämpften mit Furcht – und ein klein wenig Schuldgefühl.
Schließlich siegte die Neugier. Sie drehte den Kopf und warf Le einen flüchtigen Blick zu. Seine Miene war ausdruckslos, verschlossen. Aber sie kannte ihn nun schon einige Wochen lang. (Oder waren es schon Monate? Irgendwo in der Wildnis hatte sie ihr Zeitgefühl verloren.)
Da war etwas Seltsames in seinem Blick. Er musterte sie, als sähe er sie zum ersten Mal. Wachsam. Als wäre sie eine verschlossene Truhe, in der möglicherweise etwas Gefährliches verwahrt wäre. Dilara blickte eilig wieder in die andere Richtung.
Niemand von ihnen sagte etwas. Selbst Dilara, obwohl sie keine Rebellin war, war schlau genug, an diesem Ort nicht über vertrauliche Themen zu reden.
„Komm mit." Le flüsterte es so leise, dass sie es für einen Windhauch gehalten hätte, wenn sich seine Lippen nicht bewegt hätten dabei. Dilara erhob sich – wobei sie ein paar Momente brauchte, weil ihr schwindelig wurde. Schweigend verließen sie das Zelt. Le marschierte mit so zügigen Schritten über die Wiese, dass sie ein wenig rennen musste, um ihm zu folgen. Aber es war gut, dass sie so schnell vorankamen, denn überall blieben Leute stehen, um sie anzustarren und zu tuscheln. Die Inhalte der Ratssitzung mussten sich ziemlich schnell herumgesprochen haben. Dilara richtete den Blick gerade aus und ging aufrecht – wie man es ihr für solche Situationen beigebracht hatte. Bis ihr wieder einfiel, dass sie ja jetzt offiziell eine ehemalige Dienstmagd war. Sie versuchte, ihren Blick zu senken und die Schultern fallen zu lassen. Aber dabei sah sie wahrscheinlich ziemlich ungeschickt aus. Es ist für eine Prinzessin nicht weniger ungewohnt, eine Dienstmagd nachzuahmen, wie es für eine Dienstmagd wäre, eine Prinzessin spielen zu müssen. Sie fühlte sich viel weniger wohl in dieser ungeübten Rolle.
Es war eine Erleichterung, als sich der Höhleneingang vor ihnen auftat und der Spießrutenlauf beendet war. Der Eingang führte mitten in den Berg hinein – durch den Gang, durch den sie gekommen war. Sie gingen durch dieselben Gänge, durch die sie auch gekommen war. Oder jedenfalls waren sie genauso dunkel und ihr Husten hallte immer noch ziemlich laut von den feuchten Felswänden wider.
Nach einer Weile kam es ihr so vor, als wären sie schon viel länger gegangen als auf dem Hinweg. Wahrscheinlich war sie einfach noch müder und deshalb kam es ihr so lang vor. Hin und wieder meinte sie, noch ein drittes Paar Schritte zu hören. Leise und stockend. Manchmal wurde der Gang um sie herum ungewöhnlich eng. Einmal musste sie sich richtig zwischen den Wänden hindurchzwängen.
Und dann verschwand auf einmal das Geräusch von Les Schritten vor ihr.
Sie blieb stehen. Stille und Dunkelheit umgab sie.
Aber es war keine ungebrochene Stille.
Da waren tatsächlich Schritte hinter ihr. Sie wurden langsam immer lauter. Jemand kam näher. Der Klang vermischte sich mit einem unregelmäßigen Tropfen von Wasser.
„Le?", flüsterte sie und biss sich nervös auf ihre Lippe.
Eine kalte Hand legte sich auf ihren Mund.
Dilaras Körper erstarrte vollkommen. Wie ein Kaninchen in der Falle.
„Psst!", warnte ein leises Zischen. Es hätte das Zischen einer Fackel sein können, wäre eine in der Nähe gewesen. Aber an dieser Stelle war es stockdunkel. Mehr als überall sonst. Plötzlich war sie sich sicher, dass sie an diesem Ort noch nicht gewesen war.
Sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Und auch die Hand auf ihrem Mund bewegte sich nicht. Eine Weile lang stand sie still da.
Die Schritte wurden immer lauter. Zu wem auch immer sie gehörten, er versuchte offensichtlich, leise zu sein. Aber inmitten von losen Steinen und hallenden Wänden und feuchten Pfützen war es selbst einem geübten Rebellen unmöglich, keine Geräusche zu machen.
Und dann hörte sie die Schritte so laut, als wären sie direkt neben ihr. Ihr Herz raste. Was war hier los? Was wurde hier gespielt?
Sie erwartete jeden Moment, dass die Schritte stockten. Oder dass ein spitzer Ellenbogen ihren Arm streifen würde. Aber wer immer da war, ging einfach weiter, an ihnen vorbei. Es hörte sich beinahe so an, als wäre eine Wand zwischen ihnen und den Schritten.
Das Geräusch wurde leiser und leiser.
„Bleib still!", warnte eine leise Stimme neben ihrem Ohr. Jetzt war sie sich sicher, dass es Les Stimme war. Die Hand entfernte sich von ihrem Mund. Kurz darauf war ein lautes Zischen zu hören und eine Flamme erhellte den Gang.
Nur, dass es gar kein Gang war. Sie stand mitten in einer kleinen Höhle. Und neben ihr Le. Sie mussten durch den schmalen Spalt an der Wand gegenüber hereingekommen sein. Deshalb war der Gang dort so eng gewesen.
„Was... was ist das für ein Ort?", flüsterte sie. Hier drinnen hallte jedes Geräusch noch mehr als in den Gängen.
„Hier ist es sicher", flüsterte Le. Aber dabei klang er so gepresst und angespannt, dass sie sich nicht wirklich sicher fühlte.
Ihr fiel auf, dass seine rechte Hand auf seinem Gewand ruhte. Direkt neben seiner Hüfte, um genau zu sein. Ein kleiner Knubbel verriet die Waffe, die er darin versteckt hielt. Es musste ein Messer oder ein Degen sein. Wo hatte er den her? Sie waren kaum ein paar Stunden im Lager gewesen. Oder war es doch länger? Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte.
Dilara sammelte sich. Sie versuchte, etwas zu formulieren, was sie ihm sagen konnte. Irgendeine Form von ‚Danke, dass du mich gedeckt hast!' oder ‚Nett, dass du mein Leben gerettet hast.' Aber Le - Leander – kam ihr zuvor.
„Warum hast du gelogen?", knurrte er. Er klang wie der Tiger im Schlosspark, wenn ihn jemand reizte. Seine Stimme klang, als hätte sie ihn verraten. Als wäre sie mit einem Messer auf ihn losgegangen. Wachsam, wütend, gefährlich – und verletzt. Dilara stand so erstarrt da, als läge seine Hand noch auf ihrem Mund. Unfähig, etwas zu sagen. Sie starrte ihn nur an.
„Erst erzählst du mir, du wärst die Tochter eines Fabrikbesitzers und jetzt behauptest du, du wärst Liane, das mittellose, zu bemittleidende Kind eines Weißichnichtwas, eines Hufschmieds wahrscheinlich! Was für ein Spiel spielst du eigentlich wirklich? Bist du überhaupt die echte Prinzessin? Oder war das auch nur gut inszeniert?"
Dilara räusperte sich. Sie versuchte, etwas herauszubringen. Aber ihre Kehle war zu trocken. Sie nickte und senkte den Blick. „Ja, bin ich", flüsterte sie.
„Warum hast du dann gelogen?"
„Ich..." Sie suchte nach Worten. Aber ihr Verstand hatte noch nicht ganz erfasst, was vor sich ging.
Das hier war derselbe Junge, der ihr in der Wildnis Geschichten erzählt hatte. Der sie inzwischen besser kannte als jeder andere Mensch. Besser, als ihre eigene Mutter. Dem sie das Leben gerettet hatte und der sie tagelang über Bergrücken geschleppt hatte, als sie zu krank war, um zu gehen. Über Wochen war er ihr einziger Verbündeter gewesen. Jetzt stand er vor ihr mit einem gezückten Degen in der Hand, eine Fackel auf ihr Gesicht gerichtet. Als wäre sie eine gefährliche Feindin.
Außerdem war ihr gerade furchtbar schwindelig. Sie gab sich alle Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.
Le trat einen Schritt auf sie zu.
„Du kannst echt froh sein, dass ich dir Rückendeckung gegeben habe vorhin. Wenn du eine Spionin bist, dann schwöre ich dir...", zischte er.
„Natürlich bin ich keine Spionin!" Jetzt wallte auch in ihr eine ziemlich gefährliche Wut auf. Sie schaffte es nur mit Mühe, leise zu bleiben. Sie war müde, hatte Angst, fror und war krank. Und sein Misstrauen verletzte sie zutiefst. Außerdem fühlte sie sich ein bisschen schuldig. Keine gute Mischung für eine Prinzessin. ‚Wie kann er so etwas sagen? Nach allem, was wir durchgestanden haben!'
„Natürlich bin ich die Prinzessin! Aber was meinst du, was los wäre, wenn ich das deinen Freunden hier erzählt hätte? Was, wenn sie mich benutzt hätten, um meine Mutter zu erpressen? Aber das würde dich ja wenig kümmern, solange es eurer Sache dient, oder? Du würdest dich lieber von ihnen umbringen lassen, als ihnen etwas zu verschweigen."
„Sie hätten dich nicht umgebracht."
„Weißt du das sicher?"
„Wenn du hier leben willst, musst du ehrlich sein!"
Er kam noch einen Schritt näher. Zu ihrem Schrecken stellte sie fest, dass die Degenspitze ziemlich genau auf ihr Herz zeigte. Dilaras Augen weiteten sich.
„Du hast deine Rolle gut gespielt!", flüsterte er. Es klang so bedrohlich, dass Dilara einen Schritt zurücktrat. Sie spürte kalten Felsen in ihrem Rücken.
Le folgte ihr. Nun stand sie gegen die Wand gepresst. Ohne einen Fluchtweg. ‚Strategisch nicht schlau', dachte sie. ‚Meister Halim würde mir eine Standpauke halten für meine Dummheit.'
„Viel besser, als ich es dir zugetraut hätte..."
„Wer sagt denn überhaupt, dass ich hier leben will?", fragte Dilara – jetzt war sie endgültig einen Tick zu laut. Ihre Selbstbeherrschung bröckelte. Sie war einfach zu müde und erschöpft. Nach den durchgestandenen Ängsten der letzten Stunden hätte sie sich wirklich etwas Angenehmeres vorstellen können, als dieses Gespräch mit so einem... einem bodenlosen Idioten zu führen! „Ich wollte mich nie den Rebellen anschließen! Und das wusstest du auch! Du hast mich praktisch gezwungen, mit hierherzukommen! Niemand hat gesagt, dass ich mein Leben für euch aufs Spiel setzen will! Oder Lust habe, deiner Gruppe von Möchtegern-Helden als Erpressungsmittel zu dienen! Und für den Fall, dass das dein Plan war: So viel bedeute ich meiner Mutter sowieso nicht, dass das geklappt hätte!"
„Wozu bist du dann überhaupt abgehauen, wenn du nicht kämpfen willst? Für ein bisschen Spaß? Um mal die Welt zu sehen?" Le hatte sich besser im Griff. Seine Stimme war das Zischeln leiser Flammen. „Was willst du überhaupt? Bist du nur ein verwöhntes reiches Mädchen, das keine Lust auf seine Hochzeit hat und zu viele romantische Bücher über Abenteuer gelesen hat?"
„Ich..." Dilaras Gesicht färbte sich dunkelrot. Und zwar, weil er recht hatte. Sie war ein reiches, verwöhntes Mädchen, dass sie einmal in ihrem Leben hatte frei fühlen wollen. Mehr hatte letztendlich nie hinter ihrer Flucht gesteckt, oder?
Sie dachte nach. Und ihr Mut sank immer tiefer, während sie das tat. Ja, was genau wollte sie überhaupt? Sie konnte weder rückwärts noch vorwärts. Sie war gefangen im Lager ihrer Erzfeinde, und ihr Leben hing davon ab, wie gut sie ihre Rolle spielte. Hatte sie sich so das Leben in Freiheit vorgestellt? Weshalb war sie nur weggerannt? Was genau hatte sie sich von ihrer Flucht versprochen?
Zu gerne hätte sie eine weitere bissige Antwort gegeben. ‚Falls du dich noch erinnern kannst, musste ich weglaufen, weil ich dich aus deinem Kerker befreit hab.' Aber war das wirklich der Grund? Les Arsch zu retten? Wenn sie damals nur gewusst hätte, was für einen Arsch sie gerettet hatte! Dann wäre sie wahrscheinlich im Schloss geblieben.
Sie war jedenfalls sicherlich nicht aus dem Schloss Hals über Kopf davongerannt, um bei den Rebellen auch wieder nur die Prinzessin zu sein. Sie hatte endgültig genug davon, dauernd die Prinzessin sein zu müssen. Sie fand, sie hatte sich eine Chance verdient, endlich normal zu leben. Egal, wie hart oder unbequem es werden würde. Sie wollte endlich einen Neuanfang. Und das hier war ihre Gelegenheit. Die einzige, die sie je bekommen würde. Le konnte von ihr halten, was er wollte, aber sie würde sich das nicht einfach ruinieren lassen.
Aber da war diese leise Stimme in ihr.
Sie wusste, dass es noch einen anderen Grund für ihre Flucht gegeben hatte. Da war etwas tief in ihr drin. Irgendetwas, was Le in ihr bewirkt hatte, damals, in ihrer Nacht im Kerker.
„Ich weiß, dass ich etwas für die Menschen von Endiar tun will", platzte es aus ihr heraus. Und es war fast eine Erleichterung, es auszusprechen. Sie wunderte sich über ihre eigenen Worte – aber sie wusste auch, dass es stimmte.
Ja, das traf es gut. Sie wollte etwas tun für ihr Land. Für alle, die darin lebten. Für Fink und für Klee.
Mit noch einem Stück Entschlossenheit mehr in der Stimme fügte sie hinzu: „Ich weiß, dass ich für die Armen und Leidenden kämpfen will. Aber ich weiß noch nicht sicher, ob ich mit diesen Rebellen zusammenarbeiten will. Bisher erscheinen sie mir eine unfreundliche, unzivilisierte Bande von misstrauischen Meuchelmördern zu sein." Auf diese Aneinanderreihung von Ausdrücken war sie zugegebenermaßen ziemlich stolz. Vor allem, weil sie sie in so einem müden Zustand zusammengebastelt hatte.
Le schien kein bisschen beeindruckt von ihrer beispiellosen Meisterleistung. Seine Augen verengten sich noch weiter – sie waren fast nur noch zwei Striche in seinem Gesicht.
Als er sprach, war seine Stimme keine zischelnde Flamme mehr – sondern wild loderndes Feuer. Dilara zuckte zusammen. Was sie hörte, klang fast ein wenig – nach Wahnsinn.
"Ist dir eigentlich klar, was du bewegen könntest!" Der Rebell betonte jedes einzelne Wort. „Eine Prinzessin, die für die Rebellen kämpft! Du hättest die Macht, dem Volk Mut zu schenken und gegen seine Unterdrückung zu kämpfen! Mehr als wir sie je haben könnten! Du wärst das stärkste Symbol, das die Rebellion finden könnte! Stell dir vor, wie viel Leid du beenden könntest! Du hast eine Verantwortung für die Bürger Endiars! Du hast jahrelang auf ihre Kosten gelebt! Jetzt erfüll deine Pflicht und tu etwas für sie! Du musst das tun! Du bist die Prinzessin, zum Donnerfelsen nochmal! Hör endlich auf, dich vor dem zu drücken, wofür du bestimmt bist! Nimm deinen Mumm zusammen und sei die Anführerin, die Endiar braucht!"
Les Augen glühten geradezu. Meine Schilderungen mögen an dieser Stelle etwas übertrieben klingen, doch das ist der einzige Ausdruck, verehrte Leser, der dieses fast schon besessenen Leuchten richtig in Worte fasst.
Dilara verschränkte die Arme vor der Brust. Zum einen, um sich vor der Degenspitze zu schützen, die in Les Hand unkontrolliert zitterte. Zum anderen, weil Le einen wunden Punkt gestreift hatte. Noch ein Mensch, der sie für eine schlechte Anführerin hielt. Noch jemand, der ihr sagte, was sie zu tun hatte. Noch jemand, der Erwartungen an sie stellte.
„Weißt du was, Liane? Vielleicht wärst du besser im Schloss geblieben. Dort hättest du den Leuten wirklich helfen können. Du bist nur nützlich als die Prinzessin. Als rechtmäßige zukünftige Königin des Landes. Nicht als eine Lügnerin. Das ist der einzige Grund, weshalb ich dich überhaupt hierher mitgebracht habe. Nicht, damit du hier ein aufregenderes Leben anfangen kannst. Sondern weil du die verdammte Prinzessin bist!"
Das saß. Dilara brauchte einen Moment, um diesen Satz zu verdauen. Einen sehr langen Moment. Noch nie in ihrem Leben hatte es jemand gewagt, sie so zu kränken. Sie hätte gerne einfach losgeschrien – wie es viele andere Mädchen in ihrem jungen Alter wahrscheinlich auch getan hätten. Das Fass war nun eindeutig übergelaufen. Nein, es war überflutet.
Aber eine jahrelange Erziehung als Prinzessin bleibt nie ohne Spuren. Während Le glühte wie ein wildes Feuer, wurde sie nun hart und kalt wie ein Eisblock. Noch nie war ihr Gesicht dem ihrer Mutter ähnlicher gewesen.
"Mag sein, dass du für diese Rebellion tausende von Menschen opfern würdest, Leander", sagte sie. "Mag sein, dass dir selbst Freundschaft gleichgültig ist. Dass dir alles andere egal geworden ist. Du bist von dieser Sache so besessen, dass du Gut und Böse nicht länger unterscheiden kannst, wenn es nur der Rebellion dient. Aber ich kann und will noch klar denken. Ich werde dem Volk nicht vorangehen, um sie in den Untergang zu stürzen. Ich werde mich nicht wie eine Marionette einspannen lassen als eine Gallionsfigur für euer sinkendes Schiff. Für dich ist dieser Kampf vielleicht das Einzige, was sich im Leben überhaupt lohnt. Aber für mich nicht. Ich werde nicht für den sinnlosen Tod eines ganzen Volkes verantwortlich sein. Wenn ihr denkt, dass eine Gallionsfigur im goldenen Kleid mit Schwert in der Hand ausreichen könnte, um meine Mutter zu besiegen, dann unterschätzt ihr sie nicht nur gewaltig. Dann seid ihr schlichtweg leichtsinnig. Eine Gefahr für alle Menschen in Endiar.
Du hast mich hierhergeschleppt. Vielleicht hättest du unterwegs mal rausfinden sollen, ob sich der Weg überhaupt lohnt. Dann hättest du mich im Wald aussetzen können. Aber das hast du nicht. Jetzt finde dich mit den Konsequenzen ab. Und wenn du mich nur hierhergebracht hast -"
An dieser Stimme begann ihre Stimme nun doch ein wenig zu zittern. Aber nur so leicht, dass man es kaum hören konnte.
"Wenn du mich nur deshalb hierhergebracht hast, um mich für deine Zwecke auszunutzen, dann hättest du mir das wohl sagen müssen, bevor ich den Fehler gemacht habe, dir dein Leben zu retten. Ein Kämpfer für Gerechtigkeit. Dass ich nicht lache."
Einen Moment lang herrschte Stille. Die Fackel in Les Hand war heruntergebrannt, sodass keiner das Gesicht des Anderen sehen konnte.
„Ich gehe jetzt. Du hast Pakku gehört. Ich muss mich dringend ausruhen. Ich wurde nämlich von einem Jukku verletzt, der dich beinahe zerfleischt hätte. Falls du dich erinnerst."
Sie drehte sich um und rauschte in Richtung Spalt – kurz bevor das letzte Flackern der Fackel erlosch.
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