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Dilara - Der Fuß des Berges

Trotz aller Blätter war der Untergrund hart und unbequem und die Prinzessin wachte mit ebenso vielen Schmerzen auf wie am Tag zuvor. Nur ihr Arm schmerzte nicht. Er fühlte sich schwer und tot an. Dilara stellte fest, dass er angeschwollen war. Sie hatten den ganzen Tag über kein Gewässer gefunden, in dem sie die Wunde hatten waschen können. Ihre Kehle fühlte sich so trocken an, dass sie nicht einmal etwas von dem übrigen Flughörnchenfleisch frühstücken wollte - das sie ohnehin noch mehr ekelte, als der Vogel.

Sie waren kaum ein paar Schritte gegangen, da stellte Dilara ihre nächste Frage. Sie brannte ihr nun schon seit einem Tag unter den Fingernägeln (die inzwischen schrecklich dreckig waren). "Jetzt will ich endlich wissen, wie du zu den Rebellen gekommen bist."

Le befeuchtete seine Lippen mit seiner Zunge, bevor er zu erzählen begann. "Erinnerst du dich daran, dass ich dir von meiner Kindheit in den Bergmienen erzählt hab?", fragte er.

Dilara konnte sich nur noch vage an ihr Gespräch im Kerker erinnern. Zu viel war seitdem passiert. Aber sie wusste noch, wie schrecklich seine Schilderungen gewesen waren.

"Dein Bruder ist bei einem Unfall gestorben."

"Bei einer Explosion. Man weiß nie, ob das wirklich alles Unfälle waren", murmelte Le düster. "Jedenfalls kannst du vielleicht verstehen, dass ich schon immer eine Wut auf die Königin und ihre Männer hatte."

Ja, es war wohl verständlich, dass Untergebene immer ihren Übergeordneten die Schuld für ihr Leid gaben. Das war in jedem Land so. 

"Alle in den Bergen haben diese Wut."

"Wie die Männer von Rattendorf?"

"Nein. Damals gab es die Minen noch nicht so lange. Das Grauen ist über die Jahre gewachsen und der Zorn in den Herzen ebenfalls. Hätten die Rattendorfer heute gelebt und dieses Leid mit angesehen - sie wären vielleicht nur halb so feige gewesen. Aber die Angst ist zwischen den Gipfeln der Berge noch viel stärker als der Zorn. Sie ist so stark, dass viele noch nicht einmal wagen würden, schlecht über die Königin zu denken. Saufgelage gibt es keine mehr. Das aufmüpfige Gerede wurde ausgerottet. Seid der Rattendorfer Schlacht beobachtet die Königin die Menschen in den Bergen besonders genau. Es gibt kaum ein Wort, das wir unbeobachtet sprechen können."

"Aber du hattest diese Angst nicht?"

"Doch. Ich hatte furchtbare Angst. Ich wagte es nicht, den Wachen ins Gesicht zu blicken. Mein älterer Bruder hatte ihre Grausamkeit einmal herausgefordert und sich ihnen widersetzt. Damals war ich zu klein, um zu verstehen, worum es ging. Aber meine Familie hat jahrelang mit angesehen, wie er immer mehr an seinen Rückenleiden zugrunde ging. Sie hatten ihn so fürchterlich bestraft..."

Les Blick schweifte weit in die Ferne. Dennoch wichen seine Füße geschickt einer Wurzel aus.

"Aber dann kam der Tag, als mein Bruder starb. Es war nicht nur mein Bruder... er war mein Zwilling. Wir hatten unser ganzes Leben miteinander geteilt. Es fühlte sich an, als hätte mir das Leben jeden Sinn geraubt. Ich hatte auf einmal nichts mehr zu verlieren. Und wenn man nichts zu verlieren hat - dann ist auch alle Angst verschwunden. Es hätte mich nicht interessiert, wäre ich selbst gestorben."

Dilara hätte geschluckt, hätte sie noch Wasser in ihrem Mund dazu übrig gehabt.

"Aber ich habe nach etwas gesucht, was mir wieder Sinn gibt. Nach irgendetwas, was noch sinnvoll war. Und irgendwann bemerkte ich all die Menschen um mich herum. Sie waren nicht tot. Sie waren am Leben und litten weiter. Damals habe ich mir geschworen, für sie zu kämpfen. Ich hab mir geschworen, eines Tages für sie zu tun, was ich für meinen Bruder nicht tun konnte. Ich wollte für meine Mutter, meinen Vater, meine anderen Geschwister kämpfen. Und für jeden aus dem ganzen Volk. Denn wir litten alle am selben Schicksal. 

Das Versprechen machte ich mir einige Tage, nachdem mein Bruder gestorben war. All die Jahre danach lastete es auf meinem Rücken - schwerer, als die Säcke voller Edelsteine auf meinem Rücken. Immer wieder drängte mich mein Gewissen, nun endlich zu kämpfen. Das schuldete ich meinem Bruder. Drei Jahre lang konnte ich mich damit herausreden, dass ich noch zu jung sei, um etwas zu tun. Aber irgendwann merkte ich, wie ich stark wurde, flinker und geschickter als meine Brüder. Flink genug, um den Wachen nachts hin und wieder einen Streich zu spielen, ohne dabei erwischt zu werden. Meine Ausrede schwand dahin und einfache Streiche reichten nicht mehr aus. Mir wurde klar, dass die Zeit gekommen war. Mit jedem Tag, an dem ich nicht kämpfte, wuchs meine Schuld gegenüber meinem Bruder und meinem Volk. Mit jedem Tag wuchs mein Hass gegen die Wachen. Mit jedem Tag fragte ich mich verzweifelter, wie ich beginnen konnte, zu kämpfen.

Und dann hörte etwas, was mir Hoffnung gab. Es war nur ein Geflüster im hintersten Winkel einer besonders düsteren Mine. Ich drückte mich gegen die Wand und versuchte zu hören, was sie sagten. Damals war ich zehn Jahre alt. Ich verstand nur drei Worte. 'Feuerschnur', 'Karreton' und 'Rebellen'. Eines davon hallte in meinem Kopf nach, als wäre es laut wie der Klang eines Horns durch die Mine geschallt. Rebellen. Es gab sie wirklich. Da waren Andere, die sich wehrten. Die kämpften. Die nicht nur Streiche spielten, sondern ihr ganzes Leben einsetzten für ihr Volk. Es war, als wäre mir mit einem Mal meine Bestimmung offenbart worden. Ich wusste: sie musste ich finden. Den ganzen Tag über dachte ich über diese drei Worte nach. Und am Abend schlich ich mich zum Karreton hinab, der Ort, wo die Wachen ihre Kutschen und Pferde abstellen. Direkt neben dem Karreton stand auch ihr Haus, das früher das Rathaus gewesen war. Direkt daneben lag der Ausgang einer tiefen Miene. Als die Sonne unterging, versteckte ich mich in einer der Kutschen und wartete, was passieren würde. Und tatsächlich, bald hörte ich ein Geräusch. Ein leises Rascheln, kaum hörbar. Aber ich spürte, wie eines der Pferde neben mir nervös wurde. Vorsichtig spähte ich aus meinem Versteck heraus. Ich zog mir einen Helm über, für den Fall, dass ich Tarnung brauchen würde. Zuerst meinte ich, nichts zu sehen. Doch dann entdeckten meine Augen die schwachen Schemen einer Gestalt mit rotem Umhang. Sie huschte zwischen den Schatten der Kutschen hindurch in Richtung Mine. Sie bewegte sich durch die Nacht, als sei sie ein Teil von ihr. Fasziniert beobachtete ich, wie sie in der Mine verschwand. Eine Weile lang passierte nichts. Aber ich ließ die Mine nicht aus dem Blick, bis ich den Umriss der Gestalt wiederentdeckte. Wieder schlich sie sich zwischen den Kutschen hindurch. Diesmal brauchte sie auffällig lange. Bei jeder Kutsche hielt sie sich eine kurze Weile lang auf. Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, was die Gestalt da tat: Sie spannte eine Art Seil zwischen den Kutschen aus. Eine der Kutschen versah sie mit einer Art Zeichen: einem roten Kringel, der in einem Strich mündete. Dann verschwand sie so schnell und unsichtbar, wie sie gekommen war, wieder in der Dunkelheit. Ich sah ihr so lange hinter, dass ich zu spät bemerkte, wie das Seil auf einmal zu glühen begann. Erst, als ein tiefes, fernes Poltern zu hören war, fuhr ich herum. Es kam aus der Mine. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich den Eingang an. Das Poltern wurde lauter. Der ganze Berg begann zu zittern und zu beben. Da wurde ich endlich wach und verließ meine Kutsche. Das Beben und Poltern war so laut, dass es meine Schritte übertönte, als ich auf dem Pflaster landete und rannte. Es hörte sich an, als würde der ganze Berg zusammenfallen. Kurz darauf gab es eine riesige Explosion. Steine flogen durch die Luft. Ein Felsbrocken flog haarscharf an meinem Kopf vorbei und streifte dabei meine Wange. Die Narben hab ich heute noch."

Le fuhr sich mit der Hand über seine linke Gesichtshälfte. Feine Linien waren dort zu sehen - nichts gegen manche anderer seiner Narben.

Die Sprengung der Lavamine. Dilara erinnerte sich noch gut an dieses Ereignis. Sie war damals selbst erst zehn Jahre alt gewesen. Ihre Mutter war mehr als nur erzürnt gewesen. Drei Tage lang hatte man sie in ihren Gemächern brüllen hören. Dilara hatte schreckliche Angst vor ihr gehabt in dieser Zeit. Es war die größte und wertvollste Mine gewesen, die Endiar je gehabt hatte.

"Sämtliche Kutschen und das Haus der Wächter wurden dabei zerstört. Ich konnte mich gerade noch so in die Deckung der Bäume retten. Dort kauerte ich mich an eine besonders dicke Eiche und wartete, bis es vorüber war. Dann suchte ich eine ganze Stunde lang nach der Gestalt, die ich gesehen hatte. Aber ich war zu spät. Nirgends konnte ich sie entdecken - nicht auch nur eine Spur von ihr. Ich überlegte, was ich tun sollte. Wenn ich mit Schürfwunden am ganzen Körper nach Hause zurückkehrte, würden die Wachen mich am nächsten Tag sehen. Sicherlich würden sie mich verdächtigen. Ich würde Leid über meine ganze Familie bringen. An diesem Abend traf ich meine Entscheidung. Ich wollte davonlaufen, im Grauen der Morgenstunden, bevor es zu spät sein würde. Ich würde alles zurücklassen. Und dann würde ich alles tun, um diese Rebellen zu suchen. Egal, was es kostete. Ich würde sie finden."

"Wie hast du das angestellt?" Dilaras Neugier wuchs mit jeder Minute, in der er erzählte. Die Rebellen waren so gut versteckt, dass nicht einmal sämtliche Wachen eine Spur von ihnen gefunden hatten. Wie hatte er es angestellt, ihnen auf die Schliche zu kommen?

"Es war nicht leicht. Zuerst einmal bin ich die ganze Nacht hindurch gerannt und gewandert. Ich hatte vor, mich bei alten Freunden meines Vaters zu verstecken, die auf einem anderen Berg wohnten. Als ich noch sehr klein war, hatten wir sie einmal besucht, und sie waren die Einzigen weit entfernt lebenden Menschen, die ich kannte. Ich hoffte, dass sie mich nicht erkennen würden. Mein Plan war, mich als Schmiedgesell auszugeben, denn sie besaßen eine große Schmiede. So wanderte ich zwei Tage und Nächte durch, bis ich bei ihrem Dorf ankam. Als ich an ihre Tür klopfte und behauptete, ein Neffe meines Vaters zu sein, gaben sie mir Arbeit. Drei Wochen lang arbeitete ich in der Schmiede. Dabei versuchte ich, mich überall umzuhören, ob jemand schon einmal etwas von den Rebellen gehört hatte. Oder irgendwo ein rotes Zeichen mit einem seltsamen Kringel gesehen hatte. Irgendetwas. Nur den Hauch einer Spur wollte ich finden, den Schimmer einer Hoffnung. Ich belauschte im ganzen Dorf Gespräche, freundete mich mit zwielichtigen Gestalten an. Aber die meisten zuckten zusammen und gingen eilig weiter, wenn man das Wort 'Rebellen' auch nur flüsterte. Deshalb packte ich irgendwann meine Sachen und zog weiter. So wanderte ich eine Weile lang von Dorf zu Dorf. Ich war schon halb verzweifelt. Irgendwann hatte der Wirt eines Dorfes Mitleid. Er erzählte mir leise und geduckt von einem Angriff, den er miterlebt hatte. Die Menschen im Wirtshaus wurden neugierig. Sie kamen zu uns hinüber. Einer nach dem anderen begann, ebenfalls im Flüsterton eine Geschichte zu erzählen. Es waren einige Reisende dort im Gasthaus, die aus anderen Dörfern kamen, und sie berichteten ebenfalls. Aber als ich sie fragte, ob sie wussten, wie man sie finden konnte, waren alle ratlos. Niemand wusste etwas. Trotzdem gab ich nicht auf. Ich dachte über ihre Geschichten ganz genau nach, durchkämmte sie nach einem Detail, das mir helfen könnte. Tag und Nacht zerbrach ich mir den Kopf, wo sie sich verstecken konnten. Mir fiel auf, dass viele der Angriffe auf der vordersten Gebirgskette stattgefunden hatten, in der Nähe der Stadt. Deshalb war ich mir ziemlich sicher, dass sie dort kein Lager hatten. Außerdem waren sie immer aus dem Nichts aufgetaucht. Wenn es überhaupt eine Mutmaßung gab, wie sie auftauchten, führte diese meistens in Richtung Bäume. Sie nutzten also die Deckung des Waldes. Ihre Wege führten durch die Bergwälder. Auch kamen sie häufig aus dem Süden. Ich vermutete, dass sie in den tiefen Schluchten verschwanden, die sonst niemand als Weg nutzt. Wahrscheinlich war ihr Lager auf der mittleren Gebirgskette. Zuerst vermutete ich es ganz hinten, wo es wenig Zivilisation gibt. Aber dann dachte ich, dass das strategisch ungünstig wäre, da sie weitere Wege zurücklegen müssten und für mögliche Einkäufe tagelang wandern mussten. Nein, dachte ich, sie leben nahe an den Dörfern, irgendwo gut versteckt. An einem unscheinbaren Hang, in einer tiefen Schlucht oder einem dichten Wäldchen. Oder verborgen zwischen rauen Felsen. Natürlich wusste ich nicht einmal, ob sie überhaupt Verstecke in den Bergen hatten. Doch irgendwie brachte ich es nicht übers Herz, das zu denken. Ich musste einfach glauben, dass ich sie hier finden konnte. Als mir keine andere Lösung mehr einfiel, fand ich einen Weg hinab in die Schluchten. Ein steiler Hang voller Geröll. Es war mehr als gefährlich. Rutschend kam ich unten an. Einige Tage lang versteckte ich mich in einer Spalte und hoffte, dass einer von ihnen vorbeikäme. Ich wartete, bis mich nach zehn Tagen der Hunger wieder nach oben trieb. Müde und so hoffnungslos wie nie zuvor kämpfte ich mich nach oben zurück. Oben am Hang sank ich zusammen. Ich hätte beinahe begonnen zu weinen - da entdeckte ich auf einmal eine Gestalt. Nur ein Umriss im Gebüsch. Vorsichtig betrachtete ich sie unter dem Saum meiner Kapuze hindurch. Sie hatte ihren Blick auf mich gerichtet. Es gab keinen Zweifel. Angst packte mich. Ein Spion der Königin!, dachte ich. Ohne zu zögern sprang ich auf und rannte. Ich versuchte, im nächsten Dorf unterzutauchen. Wieder Arbeit zu finden, mich in Kellern zu verstecken. Doch immer wieder sah ich diesen Mann, der mich beobachtete. Scheinbar beiläufig schlenderte er durch die Gassen, mal kaufte er ein, mal trug er das Werkzeug eines Minenarbeiters, mal den Sack eines Händlers. Einmal sogar die Rüstung einer Wache. Aber es war immer derselbe dunkle Bart und die gleichen aufmerksamen Augen. Sie sind hinter mir her, weil ich mich davongeschlichen habe!, dachte ich. Sie wollen mich auspeitschen und zurück in die Mine bringen, zu meinen Eltern! Damals war mir noch nicht klar, dass die Männer der Königin so einen Aufwand niemals wegen eines Zehnjährigen machen würden. Trotzdem setzte ich alles daran, bei Nacht und Nebel aus dem Dorf zu entwischen. Tagelang rannte ich, verließ das Gebirge, bis ich bei der mittleren Gebirgskette ankam. Tagelang sah ich mich bei jedem Schritt um, aber den Mann entdeckte ich nirgends. Jetzt bin ich näher an meinem Ziel als je zuvor, sagte ich mir. Hier irgendwo müssen sie sein... Aufgeregt hielt ich Ausschau nach einem Zeichen von ihnen. Wenn meine Arbeit als Gehilfe des Wirts es zuließ, durchkämmte ich alle Wälder und Hänge, die sonst niemand betreten würde. Sogar andere Berge bewanderte ich. Es waren oft nicht einfache Reisen, denn wenn einen Hang niemand betritt, hat das meist seine Gründe. Es war nun fast ein Jahr vergangen, seit ich meine Suche begonnen hatte. Und immer noch keine Spur von ihnen. Aber eines Tages hatte ich Glück. Wahnsinniges Glück, Glück, mit dem ich bereits nicht mehr gerechnet hatte: Ich wurde Zeuge von einem weiteren Überfall. Eine Karawane von Händlern zog durch das Dorf. Ich war gerade dabei, Kohlensäcke aus dem Keller in die Gaststube zu schleppen, da sah ich sie durch das Kellerfenster, das zur Straße hin geöffnet war. Ich sah eine lange Reihe von Wagen, überspannt mit Leinen, über die Dorfstraße rattern. Und jeder von ihnen trug unten, hinter dem rechten Hinterrad, ein kleines rotes Zeichen. Man konnte es vom Fenster aus immer nur für einen kurzen Moment lang sehen. Dann war es wieder verschwunden. Aber ich wusste sofort, was das bedeutete. Ich war so aufgeregt, dass ich vergaß, meinen Sack mit Kohle fallen zu lassen. Mit ihm in der rechten Hand kletterte ich zum Fenster hinauf und zwängte mich durch den schmalen Spalt nach draußen auf die Straße. Ich rannte den Wagen hinterher. Aber noch ehe ich die Karawane erreicht hatte, kam sie auf einmal scheppernd zum Stehen. Von allen Seiten strömten Reiter auf ihren Pferden auf sie zu. Und im selben Moment wurden die Leinenplanen weggerissen. Aus jedem Wagen sprang eine Horde von Männern in roten Mänteln. Bevor die Menschen auf den Straßen in ihre Häuser verschwinden konnten, war ein wildes Gefecht entbrannt. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Aber ich wusste, dass das meine einzige Chance war. Ich packte den Sack mit Kohle, schleuderte ihn und warf ihn auf die Seite der Reiter. In der Deckung des Kohlenstaubs verschwand ich und versteckte mich unter dem Wagen. Ich schob meine Beine unter die Holzplanken zwischen Rädern und Boden des Wagens. Mit meinen Händen klammerte ich mich an den Ritzen zwischen den Latten fest. Ich weiß nicht, wie das Gefecht weiterlief. Aber irgendwann verstummte das Klirren und das Geschrei. Nur Hufklappern war noch zu hören, als sich der Wagen vor mir auf einmal in Bewegung setzte. Und dann auch mein Wagen. Ratternd und polternd klapperten die Räder über das Pflaster. Mein ganzer Körper wurde durchgeschüttelt. Ich musste all meine Kraft aufwenden, um nicht herunterzufallen. Kurz drehte ich meinen Kopf zur Seite und erhaschte einen Blick auf die Rüstungen, die überall auf der Straße verteilt lagen. Einmal fuhren wir auch über eine drüber und ich konnte das kalte, spitze Metall im Rücken spüren. Dann hatten wir das Dorf auch schon verlassen. Die Wagen fuhren schneller, als eine Handelskarawane es je tun würde. Wir waren fast fünf Tage lang unterwegs, die Dörfer hatten wir schnell hinter uns gelassen. Pause machte der Wagen immer in den Wäldern, und immer nur eine kurze Zeit, in der die Männer heraussprangen, kurz verschwanden und dann flink wieder in den Wagen kletterten. Ihre rote Umhänge hatten sie abgelegt. Immer, wenn ich in diesen Momenten loslassen wollte, richtete ich meinen Blick auf das kleine rote Zeichen neben meinem rechten Fuß. Ich durfte nicht loslassen. Sonst war meine letzte Gelegenheit dahin."

"Du bist fünf Tage lang am Wagen gehangen?"

Dilara war sich nicht ganz sicher, ob er die Wahrheit erzählte. War das überhaupt möglich? Sich fünf Tage lang so festzuhalten?

Le nickte. "Dann kamen wir endlich an. Natürlich fuhren sie die Wagen nicht bis zum Lager. Das hätte zu viel Aufmerksamkeit erweckt. Sie ließen sie in einem Wald stehen, versteckten sie hinter Büschen und banden die Pferde fest. Dann eilten sie davon. Als mir klar wurde, dass sie nicht wiederkommen würden, waren sie schon über alle Berge verschwunden. Ich dachte, ich hätte sie wieder verloren. So müde und erschöpft wie ich war, wusste ich, dass ich sie nie einholen würde. Aber ich weigerte mich, nun einfach aufzugeben. Ich war davor noch nie auf einem Pferd gesessen. Ich hatte keine Ahnung, wie man ritt. Aber es war meine einzige Gelegenheit. Also band ich das kleinste der Pferde los, kletterte einen Baum hinauf und versuchte mehrmals, mich an einem Ast auf seinen Rücken zu schwingen. Irgendwann klappte es. Ich landete im Sattel, griff nach den Zügeln und rief, so laut ich konnte: 'Ho!' Das Pferd stürmte erschrocken los. Es dauerte eine Weile, bis ich es schaffte, es in die richtige Richtung zu lenken. Geschweige denn, die Rebellen zu finden. Sie hatten sich in alle Richtungen verstreut, um weniger aufzufallen. Nur zu zweit zogen sie durch die letzten Dörfer. Ich hätte sie niemals wiedergefunden. Hätte ich nicht plötzlich einen langen dunklen Bart in einem Feld entdeckt. Ich zählte eins und eins zusammen. Nun war ich es, der dem Mann folgte. Er war ein schneller Läufer. Doch mit meinem Pferd konnte ich ihm folgen, obwohl ich mich kaum im Sattel halten konnte. In den Dörfern, durch die wir kamen, hielten alle an, wenn sie mich sahen. Sie starrten von allen Seiten, denn Jungen in zerrissener Kleidung, die auf einem Pferd saßen, sah man nicht selten. So wurden die Rebellen auf mich aufmerksam. So nahe an ihrem Lager wollten sie ein Aufsehen lieber vermeiden. Deshalb hätte es mich nicht überraschen sollen, als plötzlich ein Lasso durch die Luft sirrte und mich vom Pferd zog. Sie fesselten mich und brachten mich auf ihren Rücken über viele Schleichwege in ihr Lager. Dort nahmen sie mir den Knebel aus dem Mund. Aber die Augenbinde ließen sie dran. Sie befragten mich, weshalb ich ihnen gefolgt war. Als ich ihnen erklärte, dass ich mich ihnen anschließen wollte, waren sie zunächst misstrauisch. Sie wussten, dass ich in vielen Dörfern herumgefragt hatte, ob jemand die Rebellen kenne. Schon damals waren sie auf meine Spur gekommen. Der Mann mit dem dunklen Bart war einer der Fremden gewesen, die ich im Gasthaus getroffen hatte. Er war mir gefolgt, um herauszufinden, wer ich war und was mein Ziel war. Doch er hatte meine Spur verloren und war in das Lager zurückgekehrt. Als ich ihm gefolgt war, hatte er mich wiedererkannt. Er glaubte, ich sei ein Spion der Reiter. 'Weshalb sonst sollte er auf einem Pferd reiten können?', fragte er die Anderen, als sie dachten, ich schliefe. 'Unsinn!', sagten die Anderen. 'Nicht einmal die Reiter wären so dumm, einen kleinen Jungen allein als Spion in das Lager zu schicken! Schon gar nicht einen so auffälligen! Ihr verliert den Verstand mit eurer übertriebenen Vorsicht!' Eines Tages wollten sie mich auf die Probe stellen. Sie täuschten einen Angriff auf das Lager vor, und schickten zwei Männer in Rüstung in das Zelt, die mich befreien und mitnehmen sollten. Ich dachte, es seien Reiter. Als sie mir die Fesseln durchschnitten, floh ich aus dem Zelt. Ich riss die Zeltpflocken aus dem Boden, sodass sie unter der Plane begraben wurden und rannte davon. Auf einmal war überall Klatschen und Gelächter zu hören. 'Das ist kein Spion! Das ist ein waschechter Rebell!', riefen sie. 'Und was für einer!' Und von dem Tag an war ich einer von ihnen."

"Und wie ging es dann weiter?", fragte Dilara gespannt. Es war die ungewöhnlichste Geschichte, die sie je gehört hatte.

"Du wolltest hören, wie ich zu den Rebellen kam. Von dem, was danach passiert ist, war nie die Rede. Ich bin wieder dran."


Der Wald wurde mal dichter und mal lichter um sie herum. Dilara fiel auf, dass sie an immer mehr Felsen vorbeiwanderten. Auch der Boden wurde immer unebener. Irgendwann kamen sie an einem Bach mit trübem Wasser vorbei und tranken sich satt. Zum Mittagessen erlegte Le diesmal einen Felsenhasen, den Dilara zubereiten musste. Sie brauchte fürchterlich lange und danach wusch sie sich zehn Minuten lang die Hände im eisig kalten Wasser.

Einige Tage lang marschierten sie so durch den Wald, ohne dass ihnen die Fragen ausgingen. Le fragte viel über die Sitten am Hof, die Bücher, das Schloss und die Pläne der Königin (von denen Dilara kaum etwas wusste). Dilara fragte ebenso viel über das Leben bei den Rebellen und in den Dörfern, über die Lieder in den Bergen und die drei Gebirgsketten. Sie wurden beide immer geschickter darin, die Fragen so zu stellen, dass der Andere möglichst viel antworten musste. 

Von Tag zu Tag gewöhnte sich die Prinzessin mehr an die Wildnis: Es wurde für sie zur Gewohnheit, mit einem Stöhnen zu erwachen, von dreckigen Gewässern zu trinken, pausenlos zu gehen, Wurzeln und Ästen auszuweichen und zwischen den Blättern nach wilden Tieren Ausschau zu halten. 

Das Fleisch fasste sie nicht mehr mit spitzen Fingern an, sondern sie stürzte sich gierig auf jeden Bissen Essen. Sie schlief auch auf vielen harten Wurzeln schnell ein und wurde schnell wieder wach, wenn die Sonne sie weckte. Die schweigenden Bäume, die so anders waren, als die hallenden Wände des Schlosses, die Schatten und das Rascheln des Laubes verschwammen für sie zu einem alltäglichen Hintergrund. Sie lernte, jedes Geräusch einordnen zu können. Ihre Ohren wurden immer mehr zu ihrem wichtigsten Sinnesorgan. Sie bewegte sich fast so leise und flink wie Le. Und obwohl das Leben in der Wildnis hart war, fühlte sie sich mit jedem Tag lebendiger. Sie begann, die Gleichmäßigkeit ihrer Schritte und die seltenen Strahlen Sonne auf ihrer Haut zu genießen. Ja: Das Wandern machte ihr geradezu Spaß. Sie lernte schwimmen und bald war sie noch vor Le im Wasser, wenn ihr Weg den Lauf des kalten Flusses kreuzte. 

Das war eine der Wirkungen des Waldes: In ihm wohnte das Leben. Wild und ungezähmt. Und desto länger man ihn durchwanderte, desto mehr saugte man dieses Leben in sich auf. Man wurde wild, stark und frei.

Hin und wieder begegneten ihnen ungewöhnliche Wesen, und sie kamen hier und da in gefährliche Situationen. Doch die größten Gefahren auf ihrem Weg waren Durst, die zunehmende Kälte der Nächte und die Wunde an Dilaras Arm, die nicht verheilen wollte. Die Taubheit hatte sich bis zur Schulter ausgebreitet und die Haut des Arms inzwischen eine ungesunde, bräunliche Farbe. Es fiel ihr immer schwerer, ihn zu benutzen. Die Wunde schwächte sie und machte sie müde. 

Hinzu kam, dass Le und sie nun nachts Wache hielten. Le meinte, dass sie in dieser Gegend vorsichtig sein mussten. Sie wechselten sich alle drei Stunden ab. Aber auch an den wenigen Schlaf gewöhnte sie sich. Sie wurde stärker und härter, schneller und ausdauernder, ihr Fett verschwand und ihre Muskeln wuchsen. Bis sie selbst beinahe ein Teil der Wildnis wurde. Als würde der Wald Tag für Tag eine Schale von ihrem alten Selbst abschaben. Hätte sie eine Gelegenheit gehabt, sich in einem Spiegel zu betrachten, sie wäre von ihrem eigenen Bild erschrocken. Denn die Dilara, die dort durch den Wald lief, war längst eine andere, als die, die einst das Schloss verlassen hatte. Sie ließ die Prinzessin hinter sich. Sie ließ auch die Verräterin hinter sich. Jetzt war sie eine Überleberin. 



Dann bemerkten sie, wie der Boden unter ihren Füßen plötzlich anstieg, zuerst nur ganz leicht, aber immer mehr und mehr. 

"Wir sind auf dem Weg in die Berge", stellte Le fest. Nur die Spur seines Lächelns erreichte seine Lippen. Aber wenn man so viele Tage durch Feuer und Schwefel miteinander geht, dann entdeckt man auch die Spur eines Lächeln - selbst unter dem Schatten der Äste. Er würde nun bald den Ort erreichen, den sie verlassen hatte. Zuhause.


Bald darauf waren neben ihnen baumbewachsene Hänge zu sehen. Dilara bemerkte, wie sie schneller erschöpft war, desto mehr ihr Weg auf und ab führte. Sie wanderten einen Fluss entlang, der zwischen zwei kleinen Bergen hindurchführte. Es waren mehr Hügel als Berge, aber Dilara kamen sie wie Berge vor. 

Dann mussten sie den Fluss verlassen, um einen Pfad über eine weitere Reihe von Hügeln zu nehmen. Es ging so steil nach oben, dass sie alle vier Schritte stehen bleiben musste und keuchte wie eine Eselin bei einer Geburt. 

Le, dessen Füße leicht wie Federn über die Felsen sprangen, drehte sich um und wartete ungeduldig.

"Etwas beunruhigt mich:", sagte er, als sie ihn erreicht hatte. "Dass noch keine Reiter hinter uns her sind. Langsam sollten sie doch geschnallt haben, dass wir aus der Stadt entkommen und in die Berge geflohen sind..."

"Das beunruhigt dich?", fragte Dilara zwischen Schnaufern und Keuchern ungläubig. 

"Da ist irgendwas faul... sie muss irgendetwas vorhaben."

"Wie meinst du das?"

"Wenn sie nach ihrer eigenen Tochter nicht länger sucht... wenn sie die Prinzessin mit einem Rebellen davonkommen lässt... dann hat sie irgendeinen Plan. Irgendetwas Großes. Noch wichtiger als die Prinzessin. Das beunruhigt mich. Sehr sogar", murmelte Le.

Dilara kam tatsächlich etwas in den Sinn, was ihrer Mutter wichtiger sein könnte, als sie selbst. Sie dachte an das geheimnisvolle Gespräch nach, das sie belauscht hatte... über eine Prophezeiung, die ihrer Mutter gefährlich werden konnte...

Als hätte jemand Les Worte gehört und darauf reagiert, hörten sie plötzlich ein Geräusch aus der Ferne. Zu ihnen drang es nur leise hinüber, aber dort, wo es herkam, musste es unheimlich laut sein. "Hufe!", zischte Le. Sein Gesicht wurde bleich. "Verdammt viele Hufe. Sie kommen in unsere Richtung." Blitzschnell sah er sich um. "Hier runter!", rief er und eilte voraus, einen steilen Hang hinab. Dilara folgte ihm vorsichtig. Die Blätter und das Gras boten nicht gerade einen guten Halt für ihre bereits kaputten Stiefel. Und der Hang war wirklich sehr steil.
"Jetzt komm schon!"

Le machte diesmal nicht Halt, um auf sie zu warten. Er war schon beinahe hinter den Bäumen verschwunden. Sie war auf sich allein gestellt. Das Klappern kam immer näher. Dilara konnte nun vereinzelte Schreie hören. Sie stolperte von Baumstamm zu Baumstamm. Hoffentlich kamen sie nicht zu nahe an sie heran! Mit Erleichterung entdeckte sie das Schimmern zwischen den Zweigen des Gebüschs. Da unten war der Fluss. Sein lautes Brausen mischte sich mit dem noch lauteren Getrampel der Pferde. Die ersten würden sie gleich erreicht haben. Dilara gab sich einen Ruck und rannte los. Mehr schlitternd und stolpernd als laufend kam sie unten an. Kälte drang zu ihren Zehen vor. Sie konnte ihre Schritte nicht bremsen, sondern rannte geradewegs in den Fluss hinein. Spritzer übersäten ihren Körper. Ein tosender Wasserfall, nicht weit weg von ihr, verbreitete Bläschen, die sich um ihre Beine verteilten. Sie blieb stehen und sah sich um. Wo war Le?

Doch statt ihres Begleiters entdeckte sie einen Reiter. Und der Reiter entdeckte sie. "He!", rief er und zog an den Zügeln. Sein Pferd kam mit einem Wiehern zum Stehen. 

Ins Wasser!, dachte Dilara. Ohne ein Zögern ließ sie sich in den Fluss fallen. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen das Wasser an. Sie ruderte in Richtung Wasserfall. Hoffte, dass der Schaum sie verbergen würde. Bitte lass ihn denken, er hätte sich getäuscht!, dachte sie.

Plötzlich stieß ihr Kopf gegen etwas Hartes. Ihre Hände tasteten danach. Eine Wand aus Felsen, glatt und glitschig geschliffen vom Wasser. Nein. Keine Wand. Stufen. Dilara tauchte an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Es war seltsam dunkel hier. Und laut. SIe brauchte einen Moment, um zu erkennen, wo sie sich befand: In einer kleinen Höhle hinter dem Wasserfall. Und oben, auf den Felsenstufen - saß Le. 

Mit ein wenig Genugtuung stellte Dilara fest, dass zumindest auch er vor Wasser triefte. Mit ein wenig Mühe kletterte sie den Felsen hinauf. Le legte angespannt einen Finger auf die Lippen und zeigte Richtung Wasserfall. Hinter der rauschenden, durchsichtigen Wand war eine dunkle Gestalt zu sehen. Ein Reiter auf einem Pferd. Dilara hielt inne und blieb erstarrt stehen. Ihr Herz klopfte. Der Reiter rührte sich nicht. Eine ganze Weile lang stand er dort. Dann bewegte sich auf einmal sein Arm. Der Wasserfall spaltete sich um seine Finger herum, die sich langsam in ihre Richtung schoben. Sie waren verloren. 

In diesem Moment traf Dilara aus dem Nichts heraus ein Geistesblitz. Als würde jemand Fremdes einen Gedanken in ihren Kopf setzen. Ihre Finger umklammerten eine lockere Steinplatte. Sie riss sie aus dem Felsen heraus und streckte sie sie der Hand entgegen. Die Fingerspitzen des Reiters trafen auf die Platte. Einen Augenblick lang tastete die Hand an der Platte entlang. Dilara befürchtete, dass ihre Hände zu stark zitterten. Dass er etwas bemerken würde. Aber da zog der Reiter seine Hand zurück. Wenig später drehte das Pferd um und trabte durch das Wasser davon. Die verschwommene Gestalt hinter dem Vorhang wurde kleiner und kleiner. 

Dilara und Le atmeten im selben Moment aus.

"Das war eine geniale Idee von dir", stellte Le mit widerwilliger Anerkennung fest. "Ja", sagte Dilara nachdenklich. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass es überhaupt nicht ihre Idee gewesen war.

"Was ist das hier?" Dilara begutachtete die kleine Höhle genauer. Dort, im Felsen, wo Le saß, lag ein Sack. Er war gut verschnürt und hinter ein paar feuchten Ästen versteckt worden. 

"Das ist ein Versteck der Rebellen", erklärte Le, nicht ohne Stolz in der Stimme. "Hier verstecken wir Vorräte und Geld, Seile und andere andere nützliche Dinge - für den Fall, dass jemand von uns von einer Mission aus der Stadt zurückkehrt und nichts bei sich hat."

Keine schlechte Idee. Dilara merkte, wie ihr Magen knurrte. Wandern im Gebirge machte noch schneller hungrig, als Wandern im Wald. Deshalb war sie mehr als einverstanden, als Le beschloss, ein wenig von dem Dörrfleisch, Kraut, Gemüse und Fisch aus dem Versteck zu opfern. Doch als sie in die kleinen, gelblichen Knollen biss, hätte sie sie am liebsten wieder ausgespuckt. "Was ist das denn?", fragte sie angewidert.

"Knollen. Meistens das einzige, was wir zu Essen haben", stellte Le düster fest. "Sie haben früher einmal gut geschmeckt. Aber der schwarze Regen hat sie verdorben. Iss auf. Sie sind ziemlich nahrhaft."

Le steckte auch ein wenig Geld aus dem Beutel ein, der ganz unten im Sack verstaut war. Dilara hoffte, dass es für besseres Essen gedacht war. "Wir werden Felle kaufen müssen", stellte Le fest. "Und Wasserbeutel, damit wir etwas zu trinken mitnehmen können. Messer und Zündhölzer können auch nicht schaden. Wenn der Herbstregen einsetzt, wird es nicht leicht sein, ein Feuer zu machen. Und das Gebirge ist kalt."

Das klang nicht nach rosigen Aussichten. Dilara schlang ihre Arme um die Knie. Den verwundeten Arm auf der linken Seite musste sie dabei anheben. Nach ihrem Kampf gegen das Wasser wog er nun doppelt so schwer. Le warf ihm einen besorgten Blick zu, sagte aber nichts.

"Meinst du, haben die Wachen nach uns gesucht?", fragte die Prinzessin. Le zuckte nach den Schultern. "Ich weiß es nicht. Wir müssen vorsichtig sein die nächsten Tage. Aber... ich denke, dass ihr Auftrag ein anderer ist. Sie sind zu schnell geritten. Sie haben sich nicht im Wald verteilt, als würden sie jemanden suchen, sondern sind Seite an Seite vorangesprescht, als müssen sie schnellstmöglich ihr Ziel erreichen. Ich frage mich, was dieses Ziel ist."

Das war tatsächlich eine gute Frage.

"Vielleicht ziehen sie nach Trinland", überlegte Dilara.

"Vielleicht... wobei es einfachere Wege nach Tinland gäbe. Es sei denn, sie hätten es aus irgendeinem Grund besonders eilig. Dann wäre das hier tatsächlich ein guter Weg."

Le stand auf. "Wir müssen uns beeilen, das Lager zu erreichen", murmelte er. "Ich muss die Anderen warnen... Aber heute sollten wir vorsichtshalber hier bleiben. Wer weiß, ob noch mehr Truppen vorbeiziehen werden. Und du hast eine Rast dringend nötig. Wir schlafen heute hier drinnen. Da sind wir sicher."

Dilara versuchte sich über die Pause vom Wandern zu freuen. Doch die Vorstellung von einer Nacht in dieser feuchten, kalten Höhle in ihrem nassen Kleid verdrängte jede Freude. 
Doch dann tauchte Le auf den Grund des Flusses hinab. Es wirkte, als suche er nach etwas. Als er wieder auftauchte, hievte er einen großen, runden Stein mit einer seltsamen Oberfläche an Land. Und nach einer kurzen Weile noch einen. "Lavasteine", erklärte er, als er wieder an Land kletterte. "Der Fluss hat sie vor vielen tausenden Jahren tief aus dem Inneren der Berge angespült. Sie sind Klumpen aus dem Blut der Erde, hart geworden im kalten Wasser des Flusses. Man muss sie immer nass und kalt halten, sonst werden sie nach einigen Tagen so heiß, dass der ganze Wasserfall verdunsten würde und der Wald um uns herum würde abbrennen allein durch ihre Hitze."

Und tatsächlich, nach einigen Minuten begannen die Steine, schwach zu glühen. Nach einer Stunde war auf dem Felsen unter ihnen kein Tropfen Wasser mehr übrig und Dilaras Kleid so trocken und sauber, wie es noch nie zuvor gewesen war. Irgendwann musste Le sie mit den Ästen zurück ins Wasser schieben, denn ihre Klamotten hatten begonnen, ein wenig verbrannt zu riechen. Doch der Boden war die ganze Nacht über so warm, als schliefen sie auf einem Ofen.


"Ich wünschte, wir könnten das ganze Essen mitnehmen!", seufzte Dilara, als sie am nächsten Morgen ihre Stiefel überstreifte. Und das Gold auch - für diese Menge könnten sie sich bestimmt einige Nächte in Gasthäusern leisten. Obwohl dort die Betten wahrscheinlich voller Läuse und Würmer waren...
"Das geht nicht. Wir müssen genügend dalassen, dass es für die nächsten Rebellen reicht. Jemand anderes könnte sie dringender brauchen als wir, wenn er hier vorbeikommt. Das ist eine Lektion, die du besser früh lernst, wenn du bei den Rebellen leben willst: Man darf niemals nur an sich selbst denken."

Dilara hatte noch nie in ihrem Leben an Andere denken müssen. Noch etwas, was ihr schwerfallen würde - sollten sie das Lager überhaupt je erreichen...


An diesem Tag fiel ihr so gut wie alles schwer. Der Boden wurde immer steiler und felsiger. Immer, wenn sie es über einen Hügel geschafft hatten, kam sofort der nächste. Es war ein Auf und Ab ohne Pause. Natürlich führte Le sie nicht über jeden einzelnen Gipfel hinüber - sie blieben so gut wie möglich an den Hängen, abseits der Pfade, wo ihnen die Bäume Schutz boten. Doch an manchen Stellen war das Dickicht so dicht und der Hang so steil, dass an ein Durchkommen nicht zu denken war, außer man wandte sich nach oben, wo weniger Bäume wuchsen. Deshalb stolperten, kletterten und kämpften sie sich nach allen Seiten durch das Gebüsch und Geäst - aufwärts, abwärts, seitwärts.

Außerdem setzte am Vormittag ein Regen ein, der nicht enden wollte. Am Nachmittag wurden aus den pechschwarzen Regenwolken von Blitzen erleuchtete Gewitterwolken. Nie zuvor war Dilara bei einem Gewitter draußen umhergewandert. Die goldenen Türme des Schlosses hatten einige Blitze angezogen, aber an dem Gold waren sie abgeprallt wie Kieselsteine. "Die Götter haben den Weißen das Gold zum Schutz gegeben vor ihrer Wut", hatte Halim behauptet. Woraufhin Dilara gefragt hatte, weshalb die Götter ihre Blitze überhaupt gegen das Schloss schleuderten - und nicht beispielsweise gegen das Gesindel in der Stadt. "Sie wollen ihre Macht demonstrieren! Wenn die Blitze sich im Gold reflektieren, dann strahlen sie durch die ganze Stadt!"

Nun wurde Dilara zum ersten Mal unter freiem Himmel Zeuge von dem Ausmaß, das die Wut der Götter annehmen konnte. Aus irgendeinem Grund schienen sie das Gebirge besonders zu hassen - mehr als alle anderen Teile des Landes. Desto höher sie kamen, desto mehr sah sie von den mächtigen, riesigen Wolken, die sich am Horizont hinter und über den Bergen zusammenballten.

Die Hügel wurden immer höher und höher. Und am späten Nachmittag standen sie dann vor den ersten richtigen Bergen.

Mit Staunen blickte Dilara hinauf. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um den Gipfel zu erkennen. Die Berge waren hier nicht so hoch, dass ihre Köpfe in die Wolken reichten. Aber viel fehlte ihnen dazu nicht mehr. Le betrachtete ihre regenverhangenen Umrisse eine Weile lang. Er sah sich nach allen Seiten um. Schließlich fasste er einen Plan. "Wir nehmen den Weg über Berg Hiomm. Das wird nicht ganz einfach und wir werden schnell gehen müssen, aber hinter ihm verläuft ein gut verborgener Pfad zwischen den Bergen bis zu den ersten Dörfern der Kliamm-Berge. Dort können wir einkaufen und dann unseren Weg an den unbewanderten Stellen nach Westen wenden. An den unbewanderten Graten hoch oben über den Bergen, in der Mitte des Gebirges, können wir unseren Weg am Besten ungestört fortsetzen, bis wir das Ende der Shoin-Kette erreicht haben. Das wird nicht ganz ungefährlich. Aber der schwierigste Teil kommt danach. Dann müssen wir die Fuhrt überqueren und den Weg durch die Dörfer nehmen. Aber ich würde es nicht wagen, den anderen Weg einzuschlagen...", murmelte Le. "Nein, das wäre zu gefährlich." Er seufzte. "Es ist wie eine Wahl zwischen der schwarzen Seuche und dem vergifteten Regen. Im Grunde läuft doch beide auf dasselbe hinaus: Gefahr. Trotzdem, wenn wir einen strammen Schritt einschlagen und meinem Plan genau folgen, dann sollten wir morgen Nachmittag die ersten Dörfer erreichen. Und dann sollte es noch 12 Tage dauern, bis wir das Lager erreichen."

Über diese Rechnung wirkte Le nicht unbedingt glücklich. Dilara betrachtete ihn von der Seite, während er weiter die Berge musterte. Es war ihm nicht schnell genug. Die Reiter beschäftigten ihn. Er würde alles tun, um die anderen Rebellen zu warnen. Ihre Sicherheit kümmerte ihn wie... wie die seiner Familie, wäre wohl der angemessene Vergleich. Aber Dilara konnte nicht sagen, ob man sich so um seine Familie sorgte. Ihre Mutter schickte ihr vermutlich nicht einmal mehr Reiter hinterher, um sie jagen zu lassen. Die einzige Person, um die sie sich momentan sorgte, war Le. Und von dem wusste sie nicht einmal, ob sie ihm noch vertrauen konnte - wenn sie einmal die Rebellen erreichten, wäre er mehr auf ihrer Seite als auf Dilaras, sollte es zu einem Konflikt kommen. So viel stand fest. Eine tiefe Leere füllte Dilaras Herz.

Zwölf Tage. Dilara hatte keine wirkliche Vorstellung davon, wie schwierig es tatsächlich war, eine Gebirgskette zu durchqueren. Aber zwölf Tage kamen ihr trotzdem wie ein viel zu kurzer Zeitraum vor. Was immer Le vorhatte - es würde kein Spaziergang werden. Im wahrsten Sinne dieses Sprichwortes.

Der Weg auf den Berg begann wie die Wege auf die Hügel, die sie bis dahin erklommen hatten: Viele Bäume und Gebüsch, ein fernes Rauschen eines Flusses (in den Bergen schien es davon fast so viele zu geben wie im Flussland selbst), überall Blätter, die der Herbst über den ganzen Boden verstreut hatte, ein steiler Anstieg mit vielen Auf und Abs. Aber anders als die Hügel, führte ihr Weg sie nicht irgendwann wieder nach unten. Nach einigen Stunden - die Nacht war schon über ihnen hereingebrochen und sie mussten sich ohne Licht zwischen den Ästen vorantasten - erreichten sie den Ort, wo keine Bäume mehr wuchsen. Weit um den Gipfel herum gab es nur noch seltsame, fruchtlose Sträucher und Geröll. Le führte sie zu einen grasbewachsenen Hang hinab. "Es ist besser, wenn wir weiter nach unten gehen, in den Schutz des Nordhanges. Gewitter in den Bergen ist kein Spaß... und der Wind erreicht uns dort auch nicht." Dort bauten sie aus einigen Steinen eine kleine Höhle, in der sie schlafen konnten. Sie deckten sie mit Ästen und vielen Kieselsteinchen ab, um sie gegen die prasselnden Tropfen abzudichten. Sie versuchten auch, ein Feuer zu machen, um ihre durchnässten Kleider zu trocknen. Aber bei dem Regen schaffte das nicht einmal Le. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich auszuziehen und sich in ihrer Höhle gegenseitig zu wärmen, indem sie so nahe beieinander lagen wie möglich. Der Prinzessin war das mehr als unangenehm. Aber die Luft war eisig kalt in dieser Höhe, auch ohne den wilden Wind, der hier oben ungehindert wütete. Ohne Felle wären sie ansonsten erfroren. 

Dilara stellte fest, dass der Wind nachts in den Bergen noch mehr Probleme mit sich brachte als Kälte - Probleme, die auch ein windgeschützter Nordhang nicht abschirmen konnten. Selbst, wenn er nicht an einem vorbeiwehte, war er nämlich immer noch unheimlich laut. So laut wie ein Donner direkt neben dem eigenen Ohr!, dachte Dilara. Sie hätte sich zu gerne auf die andere Seite gedreht, aber es war zu eng zu zweit in ihrer Höhle. Wann immer sie halb im Land der Träume versank, weckte Les unruhiger Schlaf sie wieder auf. Inzwischen lag seine Hand in ihrem Gesicht. Sie konnte nicht einmal ihren Arm heben und die Hand beiseite schieben. Ihr rechter Arm war unter ihm eingeklemmt - und ihr rechter taub und schwer und steif vor Kälte. Obwohl das Gras unter ihr sich viel weicher anfühlte, als die Wurzeln in all den Nächten davor - es war die schlimmste Nacht seit vielen Tagen. 

Am nächsten Morgen hatte sie kaum Kraft übrig. Nicht nur ihr Arm, auch ihre linke Schulter fühlte sich nun taub und steif an. Sie konnte sie nicht bewegen, als sie es versuchte. Wie lange würde das noch gut gehen? 'Zwölf Tage muss es noch halten', dachte sie. 'Wenn wir Glück haben...'

Le hatte wenig Mitgefühl übrig für ihre Müdigkeit. Ungnädig trieb er sie weiter über den Gipfel, zwischen seltsamen Felsspalten bis zur anderen Seite des Berges, wo sie scharf nach Norden abbogen (Dilara konnte inzwischen ungefähr sagen, wo Norden war). "In diesen Spalten sehen einen die Vögel nicht", erklärte Le. "Sie sind auf den Bergen oben gefährliche Feinde: Man weiß nie, welcher ein Spion ist und welcher nicht. Und hier haben sie vollkommen freie Sicht... Wir sollten uns gut in acht nehmen."

Dilara war sich immer noch nicht sicher, ob sie das mit den Vögeln ernst nehmen sollte. Aber sie entschloss sich, zumindest vorsichtig zu sein. Man konnte ja nie wissen.

Als sie sich, stolpernd, erschöpft und halb im Schlaf, endlich dem Tal auf der anderen Seite näherte, fühlte Dilara sich krank und schwach. Ihre Beine zitterten, als wäre sie ein zweites Mal die Mauer nach unten geklettert. Ihr war schwindelig. 
"Ich kann nicht mehr", stellte sie müde fest und ließ sich auf einen Stein nieder. Es war ihr egal, ob Le einverstanden war oder nicht - sie hatte nicht das geringste Bisschen Kraft übrig. 

Le verdrehte die Augen. "Zehn Minuten. Dann müssen wir weiter."

Dilara verdrehte ebenfalls die Augen. "Warum bestimmst du, wann wir weitergehen? Wenn du weiterkommen willst, solltest du dafür sorgen, dass du dich im Schlaf nicht so viel bewegst! Dann hätte ich heute Nacht vielleicht auch ein Auge zugemacht."

"Ich bestimme, dass wir zügig weitergehen werden, weil wir den Markt vor Sonnenuntergang erreichen müssen. Sonst dürfen wir heute die nächste Nacht ohne Felle verbringen. Und das könnte gefährlich sein. Du könntest Fieber bekommen."
Dilara fühlte sich, als hätte sie bereits Fieber. Aber sie stand schweigend auf und zwang sich zum Weitergehen. Überleben, dachte sie. Etwas anderes zählt nicht. Nicht, dass du dich fühlst, als würdest du beim nächsten Schritt sterben. Nicht, wie wenig rosig deine Zukunft aussieht. Nicht, dass du das hier noch zwölf Tage durchstehen musst. Nur überleben. Außerdem ging es dir schon deutlich schlechter. Zumindest gibt es hier genug zu trinken. 

Aber dann kamen sie unten an - und stellten fest, dass es den Weg neben dem Fluss überhaupt nicht gab. Ob wegen des Regens oder weil einfach einige Jahre vergangen waren, seit Le ihn das letzte Mal gesehen hatte - jedenfalls war da anstatt des Weges nur noch der Fluss übrig, der zwischen den beiden Bergen dahinfloss. Unzählige Blätter und Äste trieben darin und er war auch nicht so klar, wie die anderen Bergflüsse. 

"Wenn wir uns den Hang entlanghangeln, dauert das viel zu lange", stellte Le fest und streifte seine Stiefel ab. "Es bleibt uns nichts anderes übrig. Komm!" Dann krempelte er die Hose hoch und sprang mitten in den Fluss hinein.

Wenn man den Weg über die Dächer und Mauern der Stadt geschafft hat, dann kann einen ein Fluss auch nicht mehr entsetzen, dachte Dilara. Aber gerne sprang sie nicht in die dreckige Brühe da unten nicht hinein. "Was ist mit deinen Stiefeln?", rief sie Le hinterher. Er drehte sich um. "Hab nichts, um sie zu tragen. Ich kauf uns neue, sobald wir bei den Dörfern sind!"

Dilara seufzte. Mit einem unguten Gefühl ließ sie ihre Schuhe stehen (nicht, ohne sie hinter Zweigen versteckt zu haben) und hob den Saum ihres Kleides an. Le mochte ohne seine Schuhe vielleicht die Hände frei haben - aber ihr war dieses Glück nicht beschert. Mit der rechten Hand musste sie den Rock heben und gleichzeitig Äste beiseite schieben, die ihr in den Weg schwammen. Die Steine unter ihren Füßen waren so spitz und das Wasser so kalt, dass sie sich wünschte, sie hätte ihre Stiefel einfach anbehalten. 

Dann kamen sie zu einigen Stellen, wo sie über glitschige Felsen klettern mussten. Und unweigerlich rutschte Dilara aus und fiel samt ihrem Kleid ins Wasser. Von dem Moment an konnte sie zumindest den Rock loslassen und mit freien Händen gehen. Aber nass und durchgefroren hatte sie bald einen schweren Husten. Wenn das so weiter ging, würde sie die zwölf Tage auf keinen Fall durchhalten. Aber vielleicht wäre das auch besser so, dachte Dilara. Vielleicht war es besser, wenn sie die Rebellen nie erreichte...


Als sie die Dörfer erreichten, war Dilara so schwindelig, dass sie kaum noch etwas von ihrer Umgebung sehen konnte. Im Strom ihrer Müdigkeit trieb sie zwischen Tagträumen dahin, während ihr müder Körper sich durch den Fluss kämpfte. Es war weniger anstrengend als Bergsteigen, aber sie kamen langsam voran und es war schon wieder Abend geworden.

"Ich gehe voraus", beschloss Le. "Zu zweit schaffen wir es niemals rechtzeitig zum Markt. Außerdem würden die Leute zu viel starren, wenn du in nassem Kleid ins Dorf kommst. Geh weiter, bis du den Weg erreichst, dann such dir ein Versteck und warte auf mich."

Dilara nickte schwach. Sie hatte keine Kraft übrig, um ihm zu widersprechen. Aber wohl war ihr nicht dabei, in ihrem Zustand alleine durch die Dunkelheit zu waten. Sie befürchtete, dass jeden Moment die Schatten der Nacht auf sie hereinstürzten, sobald ihr Beschützer weg wäre... Bei jedem Knacken zuckte sie zusammen. Dann hörte sie ein Geräusch, dass sie erschrocken stehen bleiben ließ. Hufgetrappel. Sie duckte sich. Kein Zweifel, da waren Reiter unterwegs! 

Doch das Geräusch entfernte sich wieder und Dilara ging weiter.

Noch einmal hörte sie Pferde vorbeireiten. Doch wieder kamen sie nicht nahe an sie heran. Nach etwa einer Stunde blieb Dilara stehen. Sie war schon so weit gelaufen... Keine Spur von dem Weg, von dem Le gesprochen hatte. War sie zu weit gelaufen? Ängstlich sah sie sich in der Dunkelheit um. Ihr altes Ich hätte sich auf einen Stein gesetzt und angefangen, verzweifelt zu weinen. Aber ehe sie darüber nachdenken konnte, ob sie sich ein wenig Verzweiflung gönnen sollte, weil logisches Nachdenken sowieso wenig brachte, knackte es auf einmal direkt hinter ihr. Sie fuhr herum. Vor ihr stand eine Gestalt. Es war weder Le (zu groß) noch ein wildes Tier (zu menschlich) noch ein Reiter (keine Rüstung). Es war ein Mann, der ein wenig gebückt ging und einen langen Bart hatte. 

"Seid gegrüßt, junge Lady!", sagte eine tiefe, krächzende Stimme, die Dilara einen Schauder über den Rücken jagte. "Möge der Flügel des Adlers euch schützen!" Die Stimme bekam einen höhnischen Unterton. "Was sucht Ihr hier alleine im Fluss, mitten in der Nacht? Soll ich Euch Geleit geben?"

"Ähm..." Dilara bemühte sich um die feste, eisige Stimme ihrer Mutter. "Nein, danke. Lass mich in Ruhe."

"Ganz schön arrogant, dafür, dass Ihr allein so mitten in der Nacht umherzieht, was?"

Der Mann trat einen Schritt näher. Dilara wich zur Seite aus. Ihre Puls begann zu rasen. Was hatte er vor? Denk nach, Dilara! Wenn er noch näher kam, stand er selbst im Fluss... Mit zitternden Fingern griff sie nach einem Ast, der sich zwischen Felsen verfangen hatte. Der Mann hob sein Bein, um noch einen Schritt zu machen. Dilara packte den Ast, holte aus - und traf seine Kniekehle. Mit einem Schrei platschte der Fremde ins Wasser. Ohne sich nach ihm umzusehen, rannte Dilara auf das andere Ufer zu. Dort kletterte sie aus dem Wasser und rannte durch den Wald. Zu ihrer Überraschung war der Boden nicht allzu steil. Es ging kaum nach oben. Ihr Herz schlug höher. Wenn hier ein Mann durch den Wald zog - konnten die Dörfer nicht weit sein, überlegte sie.

Auf einmal hörte sie ein Rascheln dicht hinter sich. Er rannte ihr hinterher...



* In Wahrheit war diese Tatsache auch eine Folge davon, dass die dunkle Königin viele andere Schriften hatte verschwinden lassen, sodass aus dem Zeitalter der Zwerge und Nymphen oder der Jäger beispielsweise ebenso wenig bekannt war wie die Sagen von der Besiedelung Endiars durch den großen Adler und die vier Geschwister. Dafür blieben den Gelehrten alle Überlieferungen aus der Zeit der Erbauung der Stadt, der Händler, der Zeit der ersten Könige oder der Kidrions erhalten - denn alle diese Zeiten hatten gemeinsam, dass sie von der Machtgier der Menschen geprägt waren und kaum Spuren der Magie, der vertriebenen Völker sowie des Adlers in ihren Manifesten auftauchten...

Genauere Informationen zu den 11 Zeitaltern Endiars sowie ihrer Verschleierung in der Regierungszeit von Königin Miranda finden Sie gut lesbar zusammengefasst in "Die Geschichte Endiars und die Wurzeln der Magie: Eine Neuentdeckung verschollenen Wissens. Auf den Spuren des Adlers bis zum Eisprung unseres Volkes."


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