Achtzehn
Unschlüssig stand ich am Rand der Schlucht und starrte in die Tiefe. Die Dunkelheit dort unten schien lebendig, als würde die Erde selbst ihren Schlund aufreißen, um uns zu verschlingen. Das Rauschen eines Flusses, tief unten verborgen, drang dumpf zu uns hinauf und vermischte sich mit dem unaufhörlichen Rascheln der Blätter über unseren Köpfen. Der Wind wehte kalt und trug den Geruch von feuchter Erde und Moos mit sich, wie ein leiser, mahnender Atemzug der Natur. Gestern hatten wir an genau dieser Stelle gestanden. Es war, als sei diese Schlucht über Nacht einfach aus dem Nichts entstanden.
Wir hatten uns durch den dichten Wald geschlagen, dem Stern folgend, der wieder einmal ohne mein Zutun am Himmel erschienen war. Er hatte uns direkt zu dieser riesigen Erdspalte geführt, die sich durch die gesamte Landschaft zog wie eine klaffende Wunde. Wir hatten uns aufgeteilt, waren der Schlucht in beide Richtungen gefolgt, immer in der Hoffnung, eine Stelle zu finden, an der wir sie überqueren konnten. Doch es war zwecklos gewesen. Kein Weg führte hinüber.
„Und jetzt?", fragte Lani, die plötzlich neben mich getreten war. Ihre Stimme klang leise, fast verloren im Wind. Ihre Augen suchten meinen Blick, als könnte ich eine Antwort aus dem Nichts hervorzaubern, eine Lösung für das Unüberwindbare finden.
Ich fuhr mir durch die Haare, der Wind zerzauste sie nur noch mehr. „Ich weiß es nicht", seufzte ich und wandte mich ab, um zu den anderen zurückzukehren. Lani folgte mir schweigend, und ihre Schritte knirschten über die losen Steine unter unseren Füßen.
„Vielleicht könnte Tierra eine Brücke mit ihren Kräften erschaffen", schlug Ara vor, als wir wieder bei der Gruppe waren. Ihre blauen Augen funkelten hoffnungsvoll, und alle Blicke richteten sich auf das braunhaarige Mädchen, das unsicher in der Mitte der Gruppe stand.
Tierra wirkte verloren, als sie sich umsah. Ihre Schultern hingen, und ihre Hände spielten nervös mit dem Anhänger um ihren Hals. Es war, als würde sie sich immer mehr von uns zurückziehen, je länger wir unterwegs waren. Oder bildete ich mir das nur ein, weil ich auf ein Anzeichen wartete, dass sie uns verraten würde? Ich wusste es nicht, aber mein Misstrauen wuchs mit jedem Tag.
„Ich... ich weiß nicht, wie", stammelte Tierra unsicher, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern im Wind.
Ara trat näher, ihre Stirn in Falten gelegt. „Mach es wie in der Höhle. Zieh Wurzeln aus dem Boden, über die wir gehen können", schlug sie vor. Ihre Stimme klang ruhig, als ob es die einfachste Sache der Welt wäre. Doch in ihren Augen blitzte ein Funken Sorge auf.
Lavea schnaubte und stemmte die Hände in die Hüften. „Ist das dein Ernst, Tierra? Du stellst dich ja schon genauso an wie Tara. Lässt du dir ernsthaft von jemand anderem deine Kräfte erklären? Find einen Weg, dass wir da rüberkommen", sagte sie ungeduldig, ihr Tonfall spitz wie ein Messer.
Tierras Augen flackerten zu Lavea, dann wieder zu Ara. „Du könntest auch eine Brücke machen", versuchte sie sich zu verteidigen. Ihre Stimme klang dabei klein und schwach, fast als hätte sie selbst schon aufgegeben.
Ara schüttelte den Kopf, ihre blauen Augen blitzten. „Aus Eis? Was ist, wenn jemand ausrutscht und in die Tiefe stürzt? Das wäre zu gefährlich."
Tierras Blick wanderte zu Lani, und sie klammerte sich an einen letzten Strohhalm. „Vielleicht könntest du einen starken Wind erzeugen, der uns hinüberträgt", flehte sie, ihre Augen voller Verzweiflung.
Lani schüttelte ebenfalls den Kopf. „So etwas wie einen Wirbelsturm? Als ich Tara damals in der Höhle gegen die Wand drückte, habe ich sie fast erwürgt. Ich habe keine Kontrolle über die Stärke. Das würdet ihr vielleicht nicht überleben."
Tierra sah schließlich zu Lavea, die die ganze Zeit das Schauspiel aus der Ferne beobachtet hatte, an einen Baum gelehnt. Als Tierras Blick auf sie fiel, richtete Lavea sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was soll ich denn machen? Euch mit einem Feuerball über die Schlucht schießen? Ihr seid vielleicht nervig, aber das würde ich nicht mal euch antun", knurrte Lavea, ihre Augen funkelten vor Ärger.
Lani trat näher an Tierra heran und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Was genau ist das Problem, Tierra? Versuch es doch wenigstens. Wenn es nicht klappt, können wir immer noch einen anderen Weg finden", sagte sie sanft, ihre Stimme ein warmer Gegenpol zu Laveas Härte.
Tierras Schultern sackten ein wenig nach unten. Mit einem tiefen Seufzen ging sie auf die Schlucht zu und hob ihre Hände in die Luft. Ihr Anhänger begann in einem matten, braunen Licht zu leuchten. Ein Knacken erfüllte die Luft, als die Erde zu Leben erwachte. Wurzeln brachen aus dem Boden, drehten und wanden sich wie Schlangen. Sie begannen, sich von beiden Seiten der Schlucht aufeinander zuzubewegen, langsam, wie ein wachsendes Netz, das sich in der Mitte traf und sich fest miteinander verflocht.
„Wer geht zuerst?", fragte Lani und blickte skeptisch auf die brüchig aussehende Konstruktion. Ihr Blick wanderte über die Wurzeln, als würde sie erwarten, dass sie jeden Moment in sich zusammenbricht.
„Ich gehe", sagte Ara ohne zu zögern. Sie trat an den Rand der Schlucht und setzte einen Fuß auf die Wurzeln. In meinem Inneren kämpfte ich mit der Angst, Ara zurückzuhalten. Konnte Tierra wirklich so grausam sein, dass sie Ara oder einen von uns anderen in den Tod stürzen lassen würde? Das Misstrauen in mir wuchs, je länger ich sie ansah.
Ara ging vorsichtig über die Brücke. Ihr Gesicht war angespannt, aber ihre Schritte waren sicher. Unter ihrer Berührung knackte das Holz, doch es hielt. In der Zwischenzeit folgte Lani ihr mit großen, geschmeidigen Schritten und schloss sich Ara auf der anderen Seite an.
Nun trat auch ich an den Abgrund und sah einen kurzen Moment zu Tierra, die sich voll auf ihre Kräfte zu konzentrieren schien. Ihr Gesicht war blass, ihre Augen wie gehetzte Tiere. Ohne weiter zu zögern, lief ich über die Brücke aus Wurzeln. Das Adrenalin in meinen Adern trieb mich an, schneller zu gehen. Lavea war direkt hinter mir, und ich spürte ihren Atem in meinem Nacken.
Erst als ich festen Boden unter meinen Füßen hatte, wagte ich wieder zu atmen. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Tierras Stimme drang unsicher zu uns herüber. „Ich weiß nicht, ob ich die Brücke halten kann, wenn ich selbst rübergehe", rief sie, und die Angst in ihrer Stimme schnitt durch die Luft.
„Natürlich schaffst du das", rief Ara zurück. „Deine Kräfte sind stark genug."
Ich schüttelte leicht den Kopf. Tierras Kräfte schienen zu schwinden. Oder bildete ich mir das ein? Ihr unsicherer Blick traf meinen, und ein kaltes Schaudern überlief mich. Mein Anhänger begann in einem matten Licht zu leuchten. Ein Warnsignal. Etwas war nicht in Ordnung.
„Was ist los?", fragte Ara, als sie meinen angespannten Gesichtsausdruck sah.
„Ich weiß es nicht... aber gleich passiert etwas", stammelte ich. Noch während ich sprach, geschah es.
Ein scharfes Knacken durchschnitt die Luft, gefolgt von einem dumpfen Krachen. Die Wurzeln gaben nach. Es war, als würde die Erde selbst das Netz zurückziehen wollen, das Tierra so mühsam gewoben hatte. Tierra schrie auf, ein Klang voller Panik und Überraschung, als die Brücke unter ihr zusammenbrach. Für einen endlosen Augenblick hing sie in der Luft, ihre Augen weit aufgerissen vor Schreck. Dann fiel sie.
Alles schien in Zeitlupe abzulaufen. Ihr Körper drehte sich in der Luft, während ihr Schrei die Schlucht hinunter hallte. Ihre Hände griffen vergeblich nach Halt, als sie in die Tiefe stürzte. Meine Gedanken rasten. Bilder von Tierra, die auf den Felsen aufschlug, von ihrem leblosen Körper im reißenden Fluss. Meine Muskeln waren wie gelähmt. Ich konnte mich nicht rühren, konnte nur zusehen, wie sie fiel.
„Tierra!" schrie Ara, ihre Stimme war schrill vor Entsetzen. Lani sprang zur Klippe und streckte ihre Arme aus. Ein gewaltiger Windstoß entfuhr ihren Händen und schoss in die Tiefe. „Geht zur Seite! Ich kann das nicht gut lenken!", schrie sie, ihre Stimme überschlug sich vor Anstrengung. Der Wind wirbelte wild umher, als würde ein unsichtbarer Riese in die Tiefe greifen, um Tierra zu retten.
Ara packte mich an der Hand und zog mich zurück. „Komm schon!", rief sie. Wir stolperten ein paar Schritte zur Seite, während Lani ihre Kräfte konzentrierte. Inmitten des Wirbelsturms sah ich Tierra, die hilflos darin herumgewirbelt wurde. Ihre Schreie waren längst verstummt, als der Wind sie packte und sie nach oben riss.
Mit einer hastigen Bewegung ließ Lani den Wind verebben, und Tierra fiel zu Boden, nur wenige Meter von uns entfernt. Lani selbst taumelte rückwärts, völlig außer Atem, ihre Hände zitterten.
„Tierra, geht es dir gut?", rief Ara und lief sofort zu ihr. Tierra lag keuchend auf dem Boden, unfähig, zu antworten. Ihre Augen waren glasig, als würde sie uns gar nicht sehen.
„Komm schon, hab dich nicht so", murrte Lavea, die näher trat. „Steh auf. Lani hat dir gerade deinen Hintern gerettet."
„Wir sollten für heute aufhören", sagte Lani, die sich neben Tierra kniete und ihre Hand auf ihre Stirn legte. „So macht es keinen Sinn weiter zu gehen."
„So kommen wir nie voran! Wir müssen weiter",erwiederte Lavea scharf.
„Aber nicht so", widersprach Ara. „Das war zu knapp".
„Ich habe ihr bestimmt eine Gehirnerschütterung verpasst." Fügte Lani hinzu und blickte mitleidig und beinah entschuldigend auf Tierra hinab.
„Besser als in der Schlucht zu enden", knurrte Lavea und funkelte Tierra an. „Wenn du mich fallen gelassen hättest, hätte ich dich gegrillt."
Lani schüttelte nur den Kopf, während sie Tierra half, sich hinzusetzen. Tierra lehnte sich schwer atmend gegen einen Baum. Ihr Gesicht war bleich, und ihre Augen blickten trübe.
„Danke", flüsterte sie schwach und schloss die Augen. „Mir ist so schwindelig."
„Leg dich lieber wieder hin", sagte Ara besorgt.
„Sitzen ist okay", murmelte Tierra und blieb reglos an den Stamm gelehnt. Ihre Hände zitterten immer noch, und ihre Atmung ging stoßweise.
Ich beobachtete das Geschehen aus der Ferne. Mein Anhänger hatte aufgehört zu leuchten, doch das ungute Gefühl blieb. Vielleicht hatte ich mich geirrt. Vielleicht bedeutete das rote Licht nur, dass Tierra selbst in Gefahr war und nicht wir. Aber sicher war ich mir nicht. Eine seltsame Unruhe nagte an mir, ein ungreifbares Gefühl, das mich nicht losließ.
Wir hatten die Schlucht überquert, doch der Abgrund in uns war größer geworden.
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