
Kapitel 12
Langsam wurde Tyara durch die langen, verwinkelten Gassen der Burg geführt. Doch so erleichtert, wie sie über ihr Entkommen aus den finsteren Gängen des Labyrinths unterhalb der Burg war, machte sie sich keine Gedanken darüber, wo Meisterin Dorya mit ihr hin wollte.
Dies änderte sich erst, als sie vor einer großen, stämmigen Tür zum Stehen kamen. Voller Ehrfurcht strich Tyara mit der Hand ganz sachte über die aufwendigen Verzierungen in dem dunklen Holz. Spürte die Rillen unter ihrer Haut. Wie versteinert stand sie mit offenem Mund vor dem Tor, um welches sich so viele Legenden rankten. Wo nie zuvor ein Schüler hinein durfte. Geschweige denn, eine Schülerin, die erst im dritten Jahr war.
"Es ist einschüchternd, nicht wahr?", fragte Meisterin Dorya sie sanft. Ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie Tyara musterte. Erstaunt schaute diese zu ihr auf. Nichts war mehr von der strengen, autoritären Lehrerin übrig geblieben.
Neugierig blieb Tyaras Blick auf ihr haften. So nett und freundlich hatte sie die Meisterin nie erlebt. Zwar war sie immer eine tolle Lehrerin gewesen, allerdings immer sehr distanziert und kühl ihren Schülern gegenüber, was sie allerdings dennoch nie unfreundlich hatte wirken lassen. Vielleicht eine Maske, die sie instinktiv aufsetzte?
Bevor Tyara noch weiter darüber grübeln konnte, klopfte die Meisterin schon in regelmäßigen Abständen gegen das Holz. Sie schien einem bestimmten Muster zu folgen. Beim dreißigsten Schlag hielt sie allerdings plötzlich inne. Gedankenverloren, berührte sie das Tor genau in der Mitte, wo die verschiedenen Linien zu einem verwirbelten Kreis zusammen flossen.
Dann ließ sie ihre Hand darauf ruhen und drückte ganz sachte dagegen. Langsam schwang das Tor ohne auch das kleinste Geräusch von sich zu geben nach innen auf und das, was sich nun vor Tyara auftat, ließ sie nicht mehr aus dem Staunen herauskommen.
Vor ihr breitete sich ein ewig großer Raum auf. Er war so riesig, dass sie nicht mal die Wände sehen konnte, die eigentlich den Raum hätten begrenzen müssen. Stattdessen schaute sie über Dutzende, gar tausende, Bücherregale hinweg die irgendwann in endlose Schwärze übergingen.
Langsam führte Meisterin Dorya sie an verschiedenen Regalen und Gängen vorbei, bis sie schließlich an einer kleinen Reihe von schiefen, fast schwarzen, Tischen ankamen. Dort erblickte Tyara auch schon einen Jungen in ihrem Alter. "Jano?", fragte sie verdutzt.
Der Junge blickte lächelnd auf, wobei seine grüne Augen schnell ihre blauen fanden. "Also hast du es auch geschafft", stellte er lässig fest und klappte das Buch zu, worin er anscheinend gerade noch gelesen hatte. Stumm nickte Tyara. So ganz hatte sie Jano nie leiden können. Das sie mit ihm auf irgendeine bescheuerte Mission gehen musste, ging ihr also gehörig gegen den Strich!
Sie wollte gerade Meisterin Dorya fragen, ob sie wirklich mit musste, als sie merkte, dass diese gar nicht mehr da war. Verwirrt drehte sie sich einmal um die eigene Achse, bis sie es schließlich seufzend aufgab und zu Jano an den Tisch trottete. Auch wenn sie sich extra betont weit weg von ihm weg setzte. Er zuckte daraufhin nur mit den Schultern und schlug sein Buch wieder auf.
Gelangweilt inspizierte Tyara die Bibliothek. Unter den Drofbewohnern ging das Gerücht um, dass hier alle Geheimnisse der Drachen aufgelistet waren - und anscheinend bis heute auch noch sind! Niemand der noch lebenden Bewohner hatte je eine dieser Kreaturen zu Gesicht bekommen. Mit Ausnahme Auris in ihren Visionen natürlich.
Dementsprechend kursierten die seltsamsten Gerüchte über sie, obwohl die Drachen so eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Dorfes gespielt hatten. Doch keine einzige dieser Theorien wurde je bewiesen. Einzig Bildmalereien und Schriften gaben Aufschluss über die Wahrheit. Allerdings wurden die Schriften seit des großen Krieges nie wieder gesehen und die Bildmalereien gingen auch sehr weit auseinander.
Manche Dorfbewohner meinten allerdings, damals gesehen zu haben, wie der damalige Burgherr seinen Dienern befohlen haben soll, die Schriftrolen in den hintersten Winkeln der Bibliothek zu verstecken. Dort, wo sie nie ein Mensch finden könnte!
Was an sich auch ein guter Plan war, da es nur einer Handvoll Leuten normalerweise gestattet war, die Bibliothek zu betreten. Dementsprechend groß war die Ehre, hier zu sitzen! Mir vor Neugier leuchtenden Augen schaute Tyara durch die Gegend, versuchte sich alle Einzelheiten des Raumes genau einzuprägen - bis sie es schließlich nicht mehr aushielt und aufsprang.
Sie lief zum erstbesten Bücherregal und fing an zu suchen. Nach was sie suchte, wusste sie selbst nicht. Sie glitt einfach nur über die unterschiedlichen Bücherrücken. Manche alt und so zerbrechlich, dass sie sich fast gar nicht traute sie auch nur anzupusten. Andere in dicke Ledereinbände gehüllt und mit goldener Schrift verziert. Alle waren sie unterschiedlich und perfekt in ihrer eigenen Form. In ihrer eigenen Art. In ihrem eigenen Dasein.
Fasziniert strich Tyara umher, musterte immer weitere Bände, bis ihr schließlich ein ganz besonderes Buch ins Auge sprang. Auf den ersten Blick wirkte es nicht sehr spektakulär. Ein braunes, kleines Buch mit abgegriffenem Ledereinband. Doch irgendetwas zog sie an. Sie wollte unbedingt wissen, was dadrin stand. Schnell nahm sie es aus dem Regal und ging damit geistesabwesend zu Jano zurück.
Dieser las immernoch im fahlen Schein einer kleinen Kerze, die auf den Tisch gestellt wurde. Schnell setzte sich Tyara ebenfalls an den Tisch. Jano war ihr jetzt im Moment mal egal. Sie musste unbedingt wissen, was in diesem Buch stand!
Aufgeregt ließ sie den flackernden Schein der Kerze die Seiten ihres Buches in der sonstigen Dunkelheit aufleuchten. In gespenstiger, aber doch angenehmer Stille, blätterte sie langsam die alten Seiten dirch. Ganz vorsichtig, damit sie sie bloß nicht beschädigte. Alle Bücher in der Bibliothek waren von unermesslichem Wert!
Auf diesen Seiten allerdings erschienen nur seltsam, verschnörkelte Schriftzeichen. Teilweise wurden sie von Bildern unterstützt, doch meist erwartete Tyara eine ganze Seite nur handgeschriebener Text, den sie einfach nicht entschlüsseln konnte. So viel Mühe sie sich auch gab. Es schien ihr als hätte der Autor völlig sinnlos irgendwelche Buchstaben zusammengewürfelt die absolut keine Sinn ergaben!
Rbeaw neudecrbfad iheehdccsbtan, mcsbsau ndtchbcai rdecmbmai neudecrbfad ecsbnai!
Was sollte das bedeuten?! Tyara blätterte noch das ganze Buch durch, doch immer empfing sie nur das Buchstaben Wirrwarr ohne große weitere Erklärungen. Enttäuscht klappte sie das Buch zu. War ja klar, dass ihre sogenannte "Intuition" mal wieder vollkommen nutzlos war. Sie hatte sich einfach ein blödes Buch ausgesucht. Anscheinend waren doch nicht alle Bücher in der Bibliothek wertvoll. Oder zumindest verständlich.
Auf einmal ertönten leise Schritte. Gespannt hob Tyara den Kopf. Genau in diesem Moment kam Meisterin Dorya um die Ecke gebogen. Und mit ihr zwei weitere Personen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Tyara die beiden. Doch nur eine von ihnen kannte sie. Die Erstklässlerin deren Zeremonie erst vor kurzem stattgefunden hatte. Doch der andere war ihr völlig fremd.
Neugierig musterte sie ihn, während die beiden an den Tisch kamen, um sich zu ihnen zu setzen. "Jetzt fehlt nurnoch die Hälfte", stellte Jano sarkastisch fest und rollte mit den Augen. "Ignoriert ihn einfach", meinte Tyara nur seufzend.
"Alles klar", sagte der Fremde nur. "Ich bin übrigens Tyara und wer bist du?", fragte sie. Ihre Neugier überwog mal wieder jeden Anstand. Sie musste einfach wissen, wieso sie ihn nicht kannte! So groß war das Dorf ja nicht!
"Ich bin Rian", meinte er nur schlicht und schenkte ihr keine weitere Aufmerksamkeit mehr. Schukterzuckend wandte sich Tyara von ihm ab. Wenn er nicht reden wollte, dann eben nicht. Stöhnend schlug sie ihr Buch wieder auf. Dann konnte sie vielleicht doch noch ein bisschen weiter rätseln. Jetzt war ihr Ehrgeiz gepackt! Irgendeinen Sinn mussten die Buchstaben doch haben!
Während sie noch grübelte, ging die Tür abermals auf. Herein kam wiedereinmal Meisterin Dorya. Tyara hatte gar nicht gemerkt, dass sie gegangen war. Manchmal erinnerte die Meisterin sie an eine Schlange oder ähnliches. Mit einer leichten Gänsehaut über dem Rücken schüttelte Tyara sich, um diesen Gedanken abzuschütteln.
In Begleitung kam Meisterin Dorya diesmal mit gleich vier Schülern zurück. Anscheinend hatten sie gleichzeitig den Weg durch das schaurige Labyrinth gefunden.
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