Kapitel 12 - Der Wert einer Erinnerung
Nur aus dem Augenwinkel sah Marian den Lichtschimmer einer scharfen Klinge, die auf sie zu schnellte. Eine Sekunde zog ihr ganzes Leben an ihrem inneren Auge vorüber - doch wenn sie jetzt zögerte, wäre sie tot. Ihr Körper handelte mehr aus Reflex und rasch zog sie ihr eigenes Schwert aus der Scheide. Im gleichen Atemzug riss sie den ganzen Arm ruckartig nach oben, um in einer Verzweiflungstat den Hieb irgendwie abzufangen.
Ihr ganzer Körper stöhnte unter der Last, als die Wucht des Angriffs auf ihre Klinge traf. Metall klirrte und ächzte, als die Schwerter unter großem Druck übereinander scharrten und sich verbissen. Marians Arme zitterten und sie wusste, dass sie keine Chance hatte, gegen den Wächter zu bestehen. Zu groß war dessen Stärke und seine Erfahrung im Kampf.
Deshalb wich sie plötzlich zur Seite und ließ jeglichen Widerstand gegen den Angreifer ersterben. Dieser hatte damit nicht gerechnet und stolperte aufgrund dessen ungelenk einen Schritt vorwärts. Mit einer flinken Bewegung war Marian um ihn herum, ließ das Schwert fallen und griff stattdessen nach dem Stuhl des Zählers.
Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, schmetterte sie den Stuhl dem Wachmann in den Rücken. Holz splitterte, zwei Beine brachen ab und der Wächter landete stöhnend auf dem Boden. Um sicherzugehen, schlug Marian noch einmal zu, damit er auch ganz gewiss dort liegen blieb.
Marians Brust hob und senkte sich in großen, hektischen Atemzügen. Ihre Knie erschienen ihr weich und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Ihr Blick glitt von einem außer Gefecht gesetzten Wachmann zum Nächsten. Die Wachstube war erfüllt von Stille, abgesehen vom leisen Keuchen der Männer und ihrem eigenen, schweren Atem.
„Ich habe dir doch gesagt, dass der Plan niemals funktionieren wird!", zischte Robin giftig und stieg mit einem großen Schritt über einen der Wachen hinweg. Obwohl der Kampf fürs Erste gewonnen war, hatten sie keine Zeit zu verlieren oder um durchzuatmen.
„Schnell. Packen wir ein, was wir tragen können und dann nichts wie weg!"
In schnellen Handgriffen leerte er eine der hölzernen Kisten, in welchen der Tand eingesammelt worden war und legte stattdessen die Münzbeutel hinein. Ein solcher Beutel war bei Weitem mehr wert und schwerer wiederzufinden. „Wenn der Sheriff erfährt, dass zwei Mann den Zählmeister und vier seiner Wachen ausgeschaltet haben, wird er durchdrehen."
Marian half dem flinken Dieb. Da fiel ihr Blick auf eingesammelte Ringe und Ketten, die auf dem Schreibtisch gestapelt worden waren. Eilig griff sie danach und schaufelte sie auf die Steuerbeutel.
„Was machst du denn da?"
„Sie hatten kein Recht, den Leuten das wegzunehmen!"
„Der kleine Tand ist doch nichts wert! Lass ihn liegen!", raunte Robin. Er konnte einfach nicht verstehen, was Marian mit dem Firlefanz wollte. Sicher, der Eine oder Andere vermisste vielleicht sein Eheband. Aber sie konnte ohnehin nicht herausfinden, wem was gehörte. Die Sturheit dieser Frau trieb ihn noch in den Wahnsinn.
Marian hielt Robin zur Antwort eines der Amulette vor die Nase. Es war aus dünnem Blech gefertigt und hatte nichts von den Kleinoden, welche die Adligen um ihre bleichen Hälse trugen. In beinahe dilettantischen Lettern waren ein S und ein M in das Silber graviert worden. Es war vermutlich aus einer alten Münze getrieben worden, doch Marian konnte sich vorstellen, wie ein Mann, ein Sohn oder vielleicht ein verliebter Verehrer, seine letzte Silbermünze hergab, um dieses kleine Ding daraus zu erschaffen.
„Manchmal sind solche kleinen Dinge mehr wert, als ein Sack voll Silber oder Gold, Robin. Es spielt keine Rolle, ob du damit etwas kaufen kannst. Irgendjemandem bedeutete es vielleicht sehr viel. Münzen gibt es Tausende, sie sind alle nahezu gleich und man tauscht sie ohne Reue. Aber so etwas? Das hier ist einzigartig."
Robin blickte auf das baumelnde Stück Silber an dem abgetragenen Lederband.
Marians Augen hafteten sich an den schwingenden Anhänger. „Ich erbte eine Brosche meiner Mutter. Der Stein ist teilweise blind. Das kleine Ding ist kaum noch etwas wert - und dennoch ist er mir teurer, als eine Kiste gefüllt mit Geschmeide", raunte sie leise und ihre Stimme wurde rau unter der Last der Erinnerungen. „Erinnerungen und Gefühle machen solchen Tand unbezahlbar."
Robin schwieg.
„Wenn du meinst. Aber das ziehen wir von deinem Anteil ab", meinte er schließlich und warf einen weiteren Beutel in die Kiste, ehe er sich erhob. Obwohl er sich bemühte, gleichgültig zu klingen, glaubte Marian, eine winzige Veränderung in der Art zu erkennen, wie er sie in diesem Moment ansah. Vielleicht, ja, nur vielleicht hatte Robin tatsächlich verstanden, was sie ihm damit hatte sagen wollen.
„Da dieser Tand nach deinen eigenen Worten kaum etwas wert ist, sollte es meinen Anteil ja kaum mindern", erwiderte sie frech und griff nach dem zweiten Henkel der Kiste.
Robin gab etwas von sich, das nach einer Mischung von Lachen und Schnauben klang. Vielleicht war er sich selbst nicht sicher, was von beidem angemessener wäre.
Stattdessen eilten sie der Tür entgegen.
„Wir müssen uns beeilen. Dieses Chaos werden sie sehr bald entdecken." Marian war sich nicht sicher, ob der dumpfe, ploternde Klang ihre Stiefel auf dem Untergrund oder doch eher ihr Herz war.
Zuvor hatte die Stille Anspannung in ihnen ausgelöst. Nun wirkte sie bedrohlich und verräterisch.
Die Kiste war unglaublich schwer und ihr Inhalt klimperte leise bei jedem ihrer Schritte.
Schnell stand Marian der Schweiß nicht nur auf der Stirn und ihre Finger brannten von der Anstrengung. Doch sie konnte an nichts anderes denken, als Robin und die Beute schnellstens hier rauszubekommen - und sich diese stinkende Kleidung auszuziehen. Sie durften nicht erwischt werden. Auf keinen Fall!
„Hier entlang!" Marian führte Robin zu einer schmalen Treppe, die sich hinter einer Tür verbarg, die kaum Platz für eine Person bot, um hindurch zu schlüpfen. Die Wendeltreppe führte mit hohen, steilen Stufen nach unten und war nur spärlich beleuchtet. „Das ist ein Dienstbotengang. Die Wachen werden ihn sicher nicht nehmen!", flüsterte sie und Robin runzelte beim Anblick des schmalen Weges die Stirn.
„Wenn wir hier stürzen, werden wir mit dem Lärm das ganze Schloss alarmieren."
„Dann ist das deine Chance, um zu zeigen, wie geschickt du wirklich bist, Hood", gab Marian zurück. „Das ist der kürzeste Weg. Alle anderen führen durch die Gänge - und in denen sind überall Soldaten."
Das schien Robins Ego genug zu kitzeln, sodass er das Kinn reckte und das selbstsichere Grinsen in seine Züge zurückkehrte.
"Na schön, mir nach, Prinzesschen."
Zweimal wäre Marian beinahe gestolpert. Mit jedem Schritt hatte sie mehr Mitleid mit den Bediensteten, welche diese Treppe öfter benutzen mussten.
Endlich erreichten sie die Tür im Erdgeschoss und schwer atmend stellten beide die Truhe ab, um eine Sekunde durchzuatmen. „Von hier müssen wir nur durch einen Flur und von dort können wir über die Südtreppe in die Stallungen", flüsterte Marian. Da schoss Robins Hand plötzlich vor und er presste sie fest auf ihren Mund, um sie zum Schweigen zu bringen.
Marian roch Schweiß, Waffenöl und das Leder seiner Handschuhe. Sofort hielt sie inne und wagte es nicht, einen Muskel zu rühren.
Robin entließ Marian nur kurz aus seinem Griff und zog die Tür eilig so weit zu, bis nur noch ein kleiner Spalt blieb.
Irgendwo in den Gängen hörten sie das Rasseln von Kettenhemden und Schritte. Und dieser Klang näherte sich! Er kam näher und näher. Mit jedem Schritt spannten sich Robin und Marians Nerven zunehmend. Kam der Wachmann hierher? Würde er sie entdecken?
Dann wurde es plötzlich still.
Marian blinzelte und glaubte, ihr Herz wolle aus ihrer Brust springen vor Nervosität. Was war los? Warum war es plötzlich still?
Robin schien genauso angespannt. Er hob den Finger vor die Lippen und neigte sich dann ganz langsam nach vorn. Gerade so weit, dass er durch den Spalt in der Tür in den Gang spähen konnte. Schlagartig fuhr er zurück und presste Marian deutlicher in den Schatten.
„Verdammt!"
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