
Kapitel 1 - Der Schein von Gold & Kerzen
England, Anno 1193
Nottinghamshire
Stunden war es her, da wandelte sich der Himmel langsam von feurigen orange- und rosafarbenen Tönen zu immer dunklerem Violett und Blau, bevor die Sterne am Firmament zu funkeln begannen. Wie Schafe zogen dicke, weiße Wolken träge über den Nachthimmel hinweg. Getrieben von einer lauen Spätsommerbrise trug der Windhauch den Duft von Heu und Wildblumen mit sich, während er durch Baumkronen und Blattwerk wehte.
Während auf den Wiesen und Auen das Zirpen der Grillen mit der Dämmung anschwoll und die Abendklänge ihre eigene Symphonie erschuf, waren zum Sonnenuntergang die erschöpften Bauern und Knechte von ihrer Arbeit auf ihren Feldern in ihr Heim zurückgekehrt. Inzwischen waren die Fensterläden der Häuser verschlossen, Feuer entzündet und Decken bis an das Kinn heraufgezogen worden, um die Kühle der Nacht auszusperren. Ein bleicher Sichelmond stand hoch am Himmel und warf seinen schwachen Schein auf das Land, das langsam aber sicher in tiefen Schlummer versank.
Eine breite Handelsstraße, welche sich wie eine Schlange durch Wald und Landschaft wandte, führte an Gehöften und Feldern, durch das dahinterliegende Dorf bis hinauf zur Festung der stolzen Grafschaft. Das silberweiße Mondlicht malte ein Spiel aus bleichen Schatten und Lichtern auf den Waldboden des Sherwood Forst und glitt über das dunkle Gestein der Burg des noblen Earl De Burgh, Fürst der im Schlaf liegenden Ländereien. Ihr auffallendes Dach, gedeckt mit roten Schindeln, verbarg die in ihrem Inneren Kammern, in welchen die Auszählung der Steuergelder vonstattenging.
Ein leises Klackern war es, das die sonst so stille Nacht durchzog. So schnell das Geräusch sich erhoben hatte, so zeitig war es bereits wieder verstummt. Die Gestalt jedoch, die sich an die kalten Mauern presste und im Schutze der langen Schatten vor den Augen der Wachen verbarg, verweilte einen Moment länger in der schützenden Dunkelheit. Mit pochendem Herzen drückte sich Marian näher an das Gestein der alten Festung. Moos und Flechten kitzelten unter ihren Fingern, als sie mit der Hand unruhig ein Stück des Mauerwerks umklammerte und einige Sekunden den Geräuschen im Burghof lauschte.
Irgendwo schnaubten oder scharrten die Pferde in der kleinen Stallung und Würfel klackerten auf einem Holzfass, an dem ein paar Wachen dem Glücksspiel frönten, um der lähmenden Langeweile einer Nachtschicht zu entrinnen. Die junge Diebin seufzte erleichtert, prüfte noch einmal den Halt ihres Hakens, den sie im Mörtel zweier Mauersteine verkeilt hatte und setzte ihre Schritte dann vorsichtig auf die zerbrechlichen, rötlichen Schindeln.
Nur ein Schritt trennte sie vom tödlichen Abhang, unter dem sich die glatte Burgmauer in die Tiefe erstreckte und schließlich auf dem harten Pflaster des Hofes endete. Ihre Finger hielten das Seil fest umgriffen, als sie sich daran herunterließ. Ein Surren begleitete den schlanken Körper, bis die Stiefel leise auf dem schmalen Fensterbrett aufsetzten.
Ein Windhauch zog auf, zerrte an dem Umhang, der ihre Gestalt verhüllte und an der Kapuze auf ihrem Haupt. Warmer Atem schlug gegen den Schal vor ihrem Gesicht, kondensierte und ließ den Stoff feucht werden. Das Luftholen wurde schwerer und das Gefühl des nassen Stoffes so nahe an ihrem Gesicht war unangenehm und abstoßend - aber das war ein kleiner Preis, den die junge Frau bereit war zu bezahlen. Es war so viel besser, auf den Luxus freier Atemzüge zu verzichten als zu riskieren, vielleicht erkannt zu werden.
Geschickt balancierte Marian auf dem steinernen Sims und drückte dann vorsichtig mit gespreizten Fingern gegen das Fenster. Altes Holz ächzte leise, verstummte dann jedoch wieder und innerlich grinsend stellte sie fest, dass bisher alles nach Plan verlief.
Vorsichtig schob sie die Beine hinein und glitt in die schummrigen Schatten des Raumes. Das Feuer des Kamins war bereits zu glimmenden Kohlen heruntergebrannt und allein das kleine, flackernde Licht einer Kerze auf dem ausladenden Tisch des Steuereintreibers kämpfte einsam gegen die Dunkelheit der Nacht an.
Über die polierte Fläche des Tisches gebeugt, zusammengesunken zwischen übereinander gestapelten Haufen abgezählter Münzen, einer Waage und einem Weinkrug, zu welchem sich ein schlichter Tonkelch gesellte, hing Roger - Steuereintreiber und Zählmeister. Das fettige braune Haar stand in alle Richtungen ab und eine kleine, feuchte Lache hatte sich unter seinem geöffneten Mund gebildet. Passend zu dem Heben und Senken seines Rückens, ertönte immer wieder ein kehliges Schnarchen.
Auf leisen Sohlen schlich Marian sich näher, um einen Blick in Kelch und Karaffe zu wagen. Letztere war beinahe vollkommen leer und trotz des wenigen Lichtes konnte sie im Schein der Kerze den rötlichen Ton auf Wangen und Nase des Mannes erkennen.
„Dabei habe ich Euch sogar noch gewarnt, den Wein langsam zu trinken. Aber Ihr seid unverbesserlich...", flüsterte sie leise und verborgen unter dem dunklen Tuch glitten ihre Mundwinkel dabei amüsiert ein wenig höher. Das offene Fenster und der Wein, den er sich zu Gemüte geführt hatte, um nun besonders tief zu schlafen... dies alles hätte man für pures Glück halten können. Doch Marian überließ, was ihre kleinen Raubzüge anging, nichts dem Zufall.
Sie selbst hatte ihm am Nachmittag einen großen Krug vollmundigen Weines gebracht. Ihren Vater verwunderte dies zwar, doch er vermutete hinter ihrem Geschenk für den Steuereintreiber sicherlich nur eine gutmütige Gabe.
„Ihr arbeitet so hart, Tag um Tag, umgeben einzig von Münzen und Kerzenschein. Hier, dies ist ein Geschenk für Euch. Einer der besten Weine aus den Kellern der Burg De Burgh", meinte sie, als sie Karaffe und Kelch auf dem Schreibtisch abstellte. Und während ihr Vater und Roger sich über die aktuelle Situation der Steuern für den König unterhielten, hatte sie das Fenster geöffnet und augenscheinlich ein paar Sonnenstrahlen genossen. Als es Zeit war zu gehen, zog sie das Fenster zu - doch verschloss den Riegel nicht. Als sie sich verabschiedeten, war ihr Vater noch nicht einmal aus der Tür, als der gierige Zähler bereits nach der Karaffe griff und sich einschenkte. Das war beinahe schon zu leicht. Marian wusste, dass der Geier immer träge und müde wurde, sobald er zu viel trank.
'Des einen Glück ist des anderen Leid.'
Lautlos schritt sie um den großen Tisch herum, darauf bedacht, nicht auf eine der knarzenden Dielen zu treten. Goldgelber Kerzenschein spiegelte sich in den grünblauen Iriden, als sie sich näher neigte. Einige große Beutel mit dem Siegel des Königshauses lagen zugebunden und prall gefüllt auf dem Tisch und verlockten nahezu, nach ihnen zu greifen. Aber weder die Stapel der Münzen, noch die Säcke der Steuergelder waren ihr Ziel in dieser Nacht.
Nervosität ließ ihre Brust enger werden, als sie in die Hocke ging, um unter dem grünen Lodenärmel des schlafenden Mannes vorbeizugreifen. Das kühle Messing des Kaufs schmiegte sich an ihre Fingerspitzen und behutsam hob sie einer der Schubladen des Tisches mit bemessenem Druck etwas an, als sie daran zog.
'Langsam... ganz langsam...'
Mit jedem Zentimeter, den die Lade nach außen glitt, schlug ihr Herz dröhnend schneller und zählte im trommelnden Puls die verstreichenden Sekunden. Sie wusste, dass das, was sie suchte, dort sein musste.
'Nur noch ein kleines Stück.'
Am liebsten hätte sie triumphierend gejauchzt, als die Schublade endlich weit genug offenstand. Stattdessen atmete sie sanft und lautlos aus. Der Stoff ihres Umhanges raschelte leise, als sie sich wieder aufrichtete und das Kerzenlicht nun in die geöffnete Schublade fiel. Ein zusammengerolltes Dokument, das Siegel des Steuereintreibers, aber noch wichtiger...
'Hah, ich wusste es! Letzten Monat habt Ihr sie noch unter dem Schrank verborgen. Erbärmlicher Versuch.'
Sie griff nach der hölzernen Kassette, die sich darin verbarg und zog sie aus ihrem Versteck. Simple Schnitzereien zierten die kleine Box aus abgegriffenem Holz. Lediglich eine einfach Schließe trennte sie von dem Ziel und als sie den Deckel aufklappte, schimmerten darin unzählige goldene Sovereigns und silberne Pfund Sterling um die Wette.
Ein leises Schnauben entkam ihren Lippen bei diesem Anblick, denn sie wusste: Keine dieser Münzen war in der Zählung verzeichnet worden.
'Gieriger Aasgeier! Frisst von den Knochen derer, die eh schon nichts mehr haben.'
Sie hatte schon länger den Verdacht gehegt, dass diesem Mann nicht zu trauen gewesen war. In den harten Zeiten, welche England durchlebte, wurde jeder Charakter auf den Prüfstand gestellt- und viele würden nicht bestehen.
Bei Roger aber hatte sie von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt. Es war die Art, wie er lächelte. Und als das Gerücht umging, dass der Zähler heimlich Münzen der Steuern in seine eigene Tasche schob, hatte sie nicht zweimal darüber nachsinnen müssen, ob sie diesen Anschuldigungen glauben wollte.
'Mistkerl', dachte Marian giftig und schloss die Box. Sie schlug den Umhang ein Stück zurück, um die Kassette so leise wie möglich in ihren Beutel gleiten zu lassen und griff dann nach der Schublade, um sie vorsichtig wieder zu schließen.
Glas klirrte, ein boshaftes Zischen durchschnitt die Stille und ein Geschoss bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in einen Holzbalken.
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